Im Alter von 14 Jahren, wenn es andere Jugendliche zu ihresgleichen und in die Diskothek zieht, wollte Alessandra Smerilli nach Afrika auf Mission gehen. Der Bürgerkrieg in Nigeria ließ den Traum platzen. Zwei Jahre später verliebte sich die Italienerin aus Vasto in den Abruzzen in einen Jungen. Aber auch diese Liebe war ihr bald nicht mehr genug. Wirklich verliebt war Alessandra Smerilli nur in Jesus Christus, so erzählt sie es im Interview. "Ich habe alles zurückgelassen und gesagt: Ja, ich folge dir!"
Mit 23 wurde Smerilli Ordensschwester bei den Töchtern der Santa Maria Ausiliatrice in Rom, einem Ableger der Salesianer. Überzeugt legte sie ihre Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam ab. Auch von außen betrachtet könnte man sagen: Es hat sich gelohnt. Heute ist Smerilli die einflussreichste Frau im Vatikan. Die 48-Jährige ist Sekretärin im Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, eine Art vatikanisches Ministerium für Entwicklungshilfe. Ihr Rang entspricht dem einer Staatssekretärin. Keine andere Frau im Vatikan hat ein so hohes Amt inne.
Papst Franziskus versucht, immer mehr Frauen zu fördern
Dabei versucht Papst Franziskus seit geraumer Zeit, immer mehr Frauen in Führungspositionen in der Kurie zu bringen. Die französische Ordensfrau Nathalie Becquart rangiert im Machtgefüge des Vatikans eine Stufe unter Smerilli, sie ist Untersekretärin im Büro der Bischofssynode. In der Bischofskongregation reden inzwischen drei Frauen bei der Besetzung der Bischofsposten in aller Welt mit. In der vor einem Jahr verabschiedeten Kurienreform legte der Papst fest, dass künftig auch Frauen Vatikan-Behörden leiten können. Über Smerilli rangiert nur noch ein Kardinal als Behördenleiter. Keine Frau hat es im Vatikan bisher weiter nach oben gebracht.
Als Papst Franziskus kurz vor Weihnachten im Interview mit der spanischen Zeitung ABC ankündigte, dass er demnächst eine Frau mit der Leitung einer Vatikan-Behörde betrauen werde, waren sich viele Experten einig, dass dafür nur Smerilli infrage kommt. Dabei wirkt diese freundliche Nonne alles andere als karriereorientiert. Ihre Gesprächspartner zeigen sich begeistert von ihrer Teamfähigkeit. Auch der Vatikan-Angestellte an der Rezeption der Behörde sagt: "Sie ist nie schlecht gelaunt, nie!"
Eine Nonne als Shootingstar – das gibt es nur im Vatikan. Smerilli ist auch eine Projektionsfläche für den Wunsch nach Veränderung in der katholischen Kirche. Wenn es eine ganz nach oben schafft, dann kann das auch den anderen gelingen. Die Erwartungen sind enorm. So erklärt sich auch, dass Smerilli zur Frage aller Fragen lieber gar nichts sagt. Will man von ihr wissen, ob sie für die Weihe von Frauen ist, dann nimmt sie sich heraus, keine Antwort geben zu wollen. Schließlich kann sie sich mit einer Stellungnahme nur unbeliebt machen. Sagt sie, sie sei dagegen, enttäuscht sie die Hoffnungen derjenigen, die auf Veränderung hoffen. Wäre sie für die Frauenweihe, bekäme sie ein Problem mit Papst Franziskus. Der hat die Diskussion für endgültig beendet erklärt.
Als Ordensschwester verkörpert Smerilli das Alte und das Neue zugleich
"Wie immer, wenn man die Erste ist, fühlt man eine große Verantwortung", sagt sie beim Interview in einem Besprechungszimmer ihrer Behörde, die in einer Außenstelle im römischen Stadtviertel Trastevere angesiedelt ist. Alle würden nun hinsehen und wissen wollen, ob sie Fehler macht, ob sie es gut macht, ob sie es anders macht. "Und das heißt aber auch", sagt Smerilli, "wenn es eine Erste gibt, können andere folgen". Ihre Mission ist: "Einen Weg bahnen", sagt sie. Als katholische Ordensschwester verkörpert Smerilli das Alte und das Neue zugleich. Ihr Aufstieg als Frau und Nonne ist zwar eine Neuheit, aber doch auch kein glatter Bruch mit der Tradition. "Schwester Smerilli verkörpert die Art von Frau, die der Papst nach vorne bringen möchte", sagt Consuela Corradi, Soziologieprofessorin an der katholischen Lumsa-Universität.
Aus der Perspektive des Papstes eignet sich die Behörde für ganzheitliche Entwicklung des Menschen besonders gut für dieses Experiment. Es geht hier um Soft-Power in den Außenbeziehungen, nicht um die harten Entscheidungen im Inneren der Kirche wie etwa in der Behörde für Glaubensfragen. Franziskus hat das Dikasterium vor fünf Jahren eingerichtet. Es hat 80 Angestellte, die Hälfte sind Frauen. Sie unterstützen weltweit die Arbeit von Ortskirchen, Bischofskonferenzen und den katholischen Organisationen für Migranten, Kranke und Benachteiligte jeder Art. Es ist die Arbeit, von der Smerilli schon als Jugendliche träumte.
Als Frau und Nonne war sie schon oft die Erste. Während ihres Studiums der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Roma Tre fühlte sie sich erst eher skeptisch beäugt, bevor die Studierenden sie als außergewöhnlich gute Kommilitonin respektierten. Nach ihren Abschlüssen ging es ihr nicht anders. Bei einem wissenschaftlichen Kongress inKalabrien versicherte Smerilli einem mehr als kritischen Zuhörer selbstbewusst, dass sie ihre Erkenntnisse nicht im Pfarrbrief, sondern in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Widerstand im Vatikan? Hat sie nicht erlebt. "Manchmal gibt es diese Stereotypen, wie überall, dass man denkt, Frauen seien zu gewissen Dingen nicht imstande", erzählt Smerilli. Man müsse dann einfach nur seine Arbeit gut machen, dann lösten sich die Stereotypen auf. "Man ist nur nicht an Frauen gewöhnt, die Verantwortung tragen", sagt sie.
Alessandra Smerilli hat gleich zwei Doktorarbeiten geschrieben
Natürlich gebe es zu wenige Frauen in verantwortlichen Positionen in der Kirche, sagte sie vergangenes Jahr auf einem Kongress. An anderer Stelle wies die Schwester auf wissenschaftliche Untersuchungen hin, denen zufolge Frauen in wirtschaftlichen Krisensituationen vorsichtiger und damit klüger handelten. Als Wirtschaftswissenschaftlerin machte sie sich abstrakt über "wertebasierte Organisationen" in Krisensituationen Gedanken. Es klang, als sei die katholische Kirche gemeint, die, wäre sie vornehmlich von Frauen geleitet, heute gewiss ein ganz anderes Antlitz hätte. Auch deshalb widmet das Reformprojekt Synodaler Weg dem Thema Frauen besonders viel Aufmerksamkeit. An Smerilli kann man beobachten, wie dieser Feldversuch vonstattengeht.
Auch das Sich-Fügen spielt bei Smerillis Aufstieg nach oben eine Rolle. Als Salesianer-Novizin mit einem Faible für Kinder und Jugendliche wollte Smerilli eigentlich Psychologie oder Pädagogik studieren. Aber ihre damalige Ordensobere hatte andere Pläne mit ihr. Sie bestimmte, dass Smerilli Wirtschaft studieren sollte, weil jene Fragen ihrer Meinung nach immer mehr in den Mittelpunkt rückten und Frauen mit Weitblick gebraucht würden, um auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein. Smerilli gehorchte. Erst war sie verzweifelt. Später kam sie auf den Geschmack. Nach dem Abschluss in Rom schlug sie der Ordensoberin selbst vor, weiter zu forschen.
Sie sagt: Der Kapitalismus ist kein unumstößliches Naturgesetz
Ihre beiden Doktorarbeiten schrieb sie auf dem Gebiet der Zivilökonomie. Smerilli begann, das gängige ökonomische Denken zu hinterfragen. Sie kam zu der Überzeugung: Der Kapitalismus ist kein unumstößliches Naturgesetz, er kann von innen verändert werden. Wenn Konsumenten sich ihrer Macht bewusst werden und international gültige Regeln für die Märkte vereinbart werden."Es besteht auf allen Ebenen Handlungsbedarf", sagt die Ordensschwester, "vom Kleinstverbraucher bis zu den Großen der Finanzwelt". "Ich frage mich immer: Was macht mein Geld nachts in der Bank? Wo habe ich investiert? Während ich schlafe, lässt mein Geld Menschen leben oder sterben?" Franziskus, der kapitalismuskritische Papst, denkt ähnlich. "Diese Wirtschaft tötet", postulierte er einst. Er wollte diese entschlossene Nonne, die an der Salesianer-Universität Auxilium lehrt, für den Vatikan. Franziskus beauftragte Smerilli dann auch, dass sie sein Projekt "Economy of Francesco" federführend begleitet. Seit 2019 begegnen sich unter dieser Chiffre rund 2000 junge Forscher und Forscherinnen mit dem Ziel, der Weltwirtschaft ein menschlicheres Auftreten zu verschaffen.
Als 2018 ein Bischofstreffen zum Thema Jugend vorbereitet wurde, war Smerilli erstmals für den Vatikan aktiv. Franziskus nominierte die Salesianerin als Teilnehmerin für die Jugend-Synode. 2019 wurde die Italienerin offizielle Beraterin der Vatikanstadt, anschließend nominierte sie Franziskus als ständige Beraterin des Synodensekretariats. Jede Nominierung wurde im kleinen Kreis bejubelt. Da stieg eine auf – für alle. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie setzte Franziskus sie im Vatikan an die Spitze einer Pandemie-Task-Force. Im März 2021 nominierte der Papst sie als Untersekretärin des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung, ein halbes Jahr später machte er Smerilli zur Vize-Chefin der Behörde. Nun folgt vielleicht bald der nächste Aufstieg.
Es wäre ein kleiner Schritt für Smerilli, aber ein großer für die Frauen in der katholischen Kirche.