Irgendwann im vergangenen Herbst zog der damalige französische Transportminister Clément Beaune die Samthandschuhe aus und wurde ungewöhnlich direkt. Die Pläne für die Organisation des Verkehrs in diesem Sommer in Paris „werden hardcore sein“, warnte Beaune schon mal – jener Mann, der im Januar aus anderen Gründen seinen Ministerposten räumen musste. Mit „hardcore“, also heftig, meinte er die Einschränkungen durch Sicherheitsabsperrungen und Umleitungen für alle, die sich in der Zeit der Olympischen Spiele von 26. Juli bis 11. August in Frankreichs Hauptstadt fortbewegen möchten oder müssen. Eine Karte zeigt, wie das Stadtgebiet während der Olympia-Wochen in vier Zonen eingeteilt wird, zu denen der Zugang unterschiedlich stark begrenzt ist. Besonders gilt das für Bereiche um den Eiffelturm und den Concorde-Platz. In manchen Schutzbereichen bleiben sogar die Metro-Stationen geschlossen. Fest steht: Die Fortbewegung wird schwierig. Hardcore eben.
Beaunes klare Worte brachen mit der bis dahin geltenden Strategie, stets zu versichern, dass die Vorbereitungen für das größte Sporteignis der Welt ideal laufen und jegliche Sorge, etwa vor einem Kollaps des öffentlichen Nahverkehrs, unbegründet sei. Seit Kurzem appelliert die Regierung auf Werbeplakaten in den Pariser Metro-Gängen an Unternehmen und Beschäftigte, im Sommer im Homeoffice zu arbeiten. Mithilfe einer neuen Internetseite sollen sich alle rechtzeitig organisieren. Sie beinhaltet interaktive Karten und Informationen zu Stoßzeiten bei Metro- und Buslinien oder Parkplätzen während der Spiele. Ergänzt werden sie mit Ratschlägen von verblüffender Banalität. Der Weg ist kürzer als zwei Kilometer? „Überlegen Sie sich, zu Fuß zu gehen!“ Die zurückzulegende Strecke ist bis zu zehn Kilometer lang? „Denken Sie an das Fahrrad!“ Schließlich gebe es im Großraum Paris insgesamt 3360 Kilometer Radwege.
Fast jeder zweite Einwohner sieht die Olympischen Sommerspiele in Paris negativ
Wie sie in dieser Zeit von A nach B kommen sollen, fragen sich viele Pariser schon jetzt. Die zweifache Mutter Julie Collas verdreht beim Gedanken an diesen Sommer die Augen. Sie ist Schauspielerin, derzeit hat sie in einem Pariser Theater ein Engagement bei der englischsprachigen Comedy-Show „Oh my God she’s Parisian“, die auch bei Urlaubern beliebt ist. Olympia, das Groß-Ereignis für den Tourismus, wird sie tunlichst meiden. „Von allen meinen Freundinnen bleiben vielleicht eine oder zwei, aber alle anderen sehen es wie ich: Wir müssen in dieser Zeit weg.“
Einer Studie des Umfrageinstituts Odoxa zufolge plant mehr als die Hälfte der Einwohner des Großraums Paris, diesen während der Spiele zu verlassen. Das ist im Hochsommer zwar nicht ungewöhnlich, viele türmen in den Ferien aus der Stadt und machen den Touristen Platz. Doch dieselbe Umfrage ergab auch eine drastische Abnahme der Zustimmung zu den Spielen, je näher sie rücken. Demnach sagten 44 Prozent der Befragten, diese seien „eine schlechte Sache“, gegenüber 22 Prozent zwei Jahre zuvor. „Wir haben keine Ahnung, welche Verkehrsachsen man noch nutzen kann – das wird das absolute Chaos“, befürchtet Julie. Ein Satz, der bei dem Thema oft zu hören ist; zumindest von jenen, die bei den bisherigen Verkaufsrunden kein Ticket ergattert oder es gar nicht erst versucht haben. Von den insgesamt zehn Millionen Karten – 2,8 Millionen sind es für die Paralympischen Spiele von 28. August bis 11. September – wurden bislang fast acht Millionen veräußert.
Mehr als 15 Millionen Gäste werden erwartet – das ist auch für die meistbesuchte Stadt der Welt eine Herausforderung. 25 der Austragungsstätten befinden sich in der Metropolregion, davon 13 in Paris selbst und zwölf im Großraum. Einige Wettbewerbe werden in anderen Städten wie Bordeaux, Lille oder Marseille und sogar auf Tahiti organisiert. Auf der Insel im Südpazifik werden die Surf-Wettbewerbe ausgetragen, die zum zweiten Mal zum olympischen Programm gehören.
Der öffentliche Nahverkehr in Paris sollte während der Spiele gratis sein – nun werden die Fahrkarten sogar teurer
Die Verkehrsbetriebe RATP gehen von einer Million zusätzlicher Fahrten aus – pro Tag. Deren Chef Jean Castex, der frühere Premierminister, hat 5300 zusätzliche Stellen für dieses Jahr angekündigt, nach 6600 Neueinstellungen in 2023. Allerdings erscheint es unsicher, ob die vollautomatisierte, fahrerlose Metrolinie 14, die im Norden bis zum Olympischen Dorf und im Süden bis zum Flughafen Orly verlängert wird, bis zum Sommer komplett einsatzbereit ist. Versprachen die Organisatoren zunächst, während der Spiele seien die öffentlichen Transportmittel für alle Besucher der Wettbewerbe gratis, so werden diese nun sogar für alle teurer, abgesehen von den Besitzern von Monats- und Jahreskarten. Der Preis für einen Einzelfahrschein verdoppelt sich auf vier Euro. Auch die Wochenkarte wird dann um 100 Prozent teurer. Der offizielle Grund: Die Mehrkosten für das erhöhte Angebot müssten ausgeglichen werden.
„Die Grundsteuer für unsere Wohnung hat sich verdoppelt, ich zahle jetzt 4000 Euro pro Jahr“, stöhnt Julie Collas, die Schauspielerin. „Diese Spiele ruinieren uns.“ Demgegenüber bemühte sich Bürgermeisterin Anne Hidalgo vor Kurzem bei der Eröffnung der neuen „Adidas Sportarena“ im Norden der Stadt mit 8000 Zuschauerplätzen, Begeisterung zu wecken. „Wir werden gemeinsam vibrieren, Paris wird herrlich sein!“, rief sie. Im Juli werde sie persönlich in die Seine springen, sagte Hidalgo – und lud Präsident Emmanuel Macron ein, es ihr gleichzutun. War das Baden dort seit 1923 verboten, soll es infolge der Verbesserung der Wasserqualität für die Spiele ab 2025 für alle wieder möglich sein. 1,4 Milliarden Euro wendete der Staat seit 2016 für die Seine und die in sie mündende Marne auf.
Auch die Eröffnungszeremonie findet auf dem Hauptstadt-Fluss und damit erstmals in der olympischen Geschichte nicht in einem Stadion statt. Spektakuläre Bilder sollen her, genauso wie etwa beim Beachvolleyball unter dem Eiffelturm. Zugleich erfordert der Schutz der Besucher, Athleten sowie der Staats- und Regierungschefs aus aller Welt bei der Riesen-Veranstaltung im Zentrum der Stadt umfassende Sicherheitsmaßnahmen. 45.000 Polizisten und Gendarmen werden allein am ersten Tag eingesetzt. Inzwischen hat Innenminister Gérald Darmanin angekündigt, höchstens 300.000 Menschen an den Uferstraßen zuzulassen. Ursprünglich war die Rede von 600.000. Es bleibt die größte Eröffnungsfeier aller Zeiten.
Olympische Spiele 2024: Die Preise für Unterkünfte in Paris gehen schon jetzt durch die Decke
Wenn trotzdem viele Stadtbewohner diese Ausnahmewochen verpassen, dann liegt das auch an einem verlockenden Geschäft. Denn einige unter ihnen wollen ihre Wohnungen vermieten. Längst gehen die Preise durch die Decke. Dem Touristenbüro zufolge liegt der Tarif für eine Nacht im Hotel während der Spiele im Schnitt bei 522 Euro, im September erreicht er sogar 759 Euro. „Wir haben den Hoteliers geraten, nicht zu weit nach oben zu gehen, weil die Leute sonst anderswo suchen, vor allem bei AirBnb“, sagt Frédéric Hocquard, im Rathaus zuständig für den Tourismus. Das Angebot auf der Wohnungs-Plattform ist ihm zufolge so hoch wie nie: Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Inserate um 33 Prozent auf 70.000. Die Preise erreichen im Schnitt satte 542 Euro pro Nacht, im Vergleich zu 361 Euro für Reservierungen in einem „normalen“ Sommer. „Viele Pariser meldeten sich ganz neu an, um die einmalige Gelegenheit zu nutzen“, sagt Hocquard.
Andere müssen ihre Appartements zwangsweise räumen. Das gilt für 2200 Studierende, die im Sommer ausquartiert werden, damit in ihren Zimmern Feuerwehrleute, Polizisten oder Pflegekräfte untergebracht werden können. Als Entschädigung bekommen sie 100 Euro und zwei Eintrittskarten für olympische Wettbewerbe. Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra versicherte, es gebe individuelle Lösungen für alle Betroffenen, und bat um ihre Mithilfe. „Ich denke, dass die Studenten stolz sein werden, ihre Unterkunft während zwei Monaten im Sommer zur Verfügung zu stellen.“ Nicht alle sehen das so. Doch eine entsprechende Klage wies der Staatsrat ab.
Angeblich wurden schon Tausende Obdachlose und Migranten in andere Gebiete gebracht
Die Menschenrechtsbeauftragte Claire Hédon kündigte an, die Frage der Studentenwohnungen sowie den Vorwurf der „sozialen Säuberung“ zu untersuchen. Seit fast einem Jahr werden Obdachlose und Migranten aus dem Großraum Paris in andere Regionen verfrachtet, weil bisherige Notunterkünfte gebraucht werden. Dem Zusammenschluss „Die Kehrseite der Medaille“ zufolge wurden schon mehr als 4000 Menschen weggebracht. „Wir wissen genau, dass sich während der Olympischen Spiele die Kameras der ganzen Welt auf Paris richten und die Behörden ,saubere Straßen' wollen“, sagt Paul Alauzy von der Nichtregierungsorganisation „Ärzte der Welt“. Doch anstatt die Betroffenen einfach nur wegzubringen, sei ein langfristiger Plan vonnöten, um ihnen dauerhaft aus der Misere zu helfen.
Knapp fünf Monate vor dem Start der Spiele überwiegen also die Negativschlagzeilen. Dabei gibt es für manche auch positive Nachrichten – beispielsweise für die Bouquinisten, also die Straßenbuchhändler an den Seine-Ufern. Rund die Hälfte der grünen Kisten, in denen sie ihre Bücher verkaufen, sollte aus Sicherheitsgründen abgebaut werden. Nun entschied Präsident Macron persönlich, dass sie bleiben dürfen. Sie sei sehr erleichtert, sagt die deutsche Bouquinistin Iris Mönch-Hahn. „Ich habe auf Olympia gesetzt – und dann hieß es, wir müssen weg.“ Doch laut Macron geht es auch um das „lebende Kulturerbe“, um die „Stadt der Lichter“ mehr denn je zum Leuchten zu bringen. Und darum, die Unkenrufe verstummen zu lassen.