
Der Asphalt glüht, die Luft flimmert, das Atmen fällt schwer. „Qué barbaridad“, sagt Carlos Martínez auf Spanisch. „Wie barbarisch!“ So unerträglich sei es hier in Madrid schon lange nicht mehr gewesen. Temperaturen von über 40 Grad sind es gerade – im Schatten. Spanien stöhnt unter seiner vierten extremen Hitzewelle in diesem Sommer. Wie kann man es bei solchen Höllentemperaturen in dieser kochenden Asphaltwüste, in der drei Millionen Menschen leben, aushalten? Vor allem mit gutem Timing, sagt Martínez: Die kühleren Stunden am Vormittag werden für Aktivitäten genutzt. Die anschließenden heißen Stunden der glühenden Sonne sind für ein spätes Mittagessen und eine Ruhepause reserviert. So wird man notgedrungen zum Frühaufsteher. „Ich gehe morgens um 6.40 Uhr aus dem Haus. Um sieben fange ich an zu arbeiten“, erzählt Martínez, ein 60-jähriger Verwaltungsangestellter. „Um zwei mache ich Feierabend und fahre heim. Und um halb drei esse ich mit meiner Frau zu Mittag – dann schlafe ich Siesta.“
Siesta. Der traditionelle Mittagsschlaf der Südeuropäer. Ein Wort, ein Synonym zum süßen Nichtstun, zumindest für deutsche Ohren. Siesta, die verlockende Pause im Halbdunkel verschlossener Fensterläden.
In Spanien ist die Siesta noch etwas anderes: unerlässlich nämlich. „Sie ist für mich eine Notwendigkeit“, sagt Martínez. „Sogar noch mehr, das Mittagsschläfchen ist fantastisch.“ Man sei „natürlich schon wegen der Hitze etwas müde und schlapp“, erklärt der Madrilene. „Dann hast du vielleicht auch in der Nacht, in der die Temperaturen derzeit selten unter 25 Grad sinken, schlecht geschlafen. Und zudem das üppige Mittagessen – danach fühlst du dich voll und schläfrig.“ Da sei ein Nickerchen auf dem Sofa genau das Richtige.
Genau das Richtige auch für Deutschland? Knapp drei Wochen ist es her, da forderte der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, das Modell aus dem Süden auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hierzulande zu ermöglichen. Verbandschef Johannes Nießen aus Köln sagte damals: „Wir sollten uns bei Hitze an den Arbeitsweisen südlicher Länder orientieren: Früh aufstehen, morgens produktiv arbeiten und mittags Siesta machen ist ein Konzept, das wir in den Sommermonaten übernehmen sollten.“ Nießen, selbst Allgemeinarzt, lieferte die medizinische Erklärung gleich mit: „Bei starker Hitze sind Menschen nicht so leistungsfähig wie sonst. Schlechter Schlaf bei fehlender Abkühlung in der Nacht führt zusätzlich zu Konzentrationsproblemen.“ Komplexe Arbeitsanforderungen sollte man daher lieber in die frühen Morgenstunden verschieben. Die Zustimmung anderer Arbeitnehmerschützer ist groß wie der Andrang in den Eisdielen an Tagen voller Sonnenschein. Und das, obwohl der Vorschlag mitten in die tristen Regenwochen des bundesdeutschen Juli fiel.
Lauterbach sieht bei der Siesta Firmen in der Pflicht
Wohlwollen kam etwa von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach: „Siesta in der Hitze ist sicherlich kein schlechter Vorschlag“, schrieb der SPD-Politiker auf Twitter. Eine politische Anweisung zum kollektiven Mittagsschlaf braucht es seiner Meinung nach nicht. „Das sollten aber Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbst aushandeln. Medizinisch sicher für viele Berufe sinnvoll.“
Carlos Martínez, der Verwaltungsangestellte aus Madrid, hätte ein paar Tipps für Siesta-Neulinge. Die Sofa-Pause sollte nach seiner Erfahrung höchstens eine halbe Stunde dauern, um wieder Energie zu tanken. „Wenn du zwei Stunden schläfst, fühlst du dich danach schlecht und noch träger.“ In Spanien waren es früher vor allem die Landarbeiter, die sich zum Ausruhen von den Feldern zurückzogen, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. In den Bauernorten wurden nachmittags die Bürgersteige hochgeklappt, die Geschäfte schlossen. Ganze Dörfer machten Siesta. Doch mit der seit Jahrzehnten anhaltenden Landflucht und der Verstädterung des Lebens, das Hektik und Stress brachte, befand sich das Mittagsschläfchen vielerorts auf dem Rückzug. Die Siesta war sogar schon vorübergehend totgesagt worden.
Doch seit immer größere Hitzewellen die Spanierinnen und Spanier ins Schwitzen bringen, kommt die Ruhezeit nach dem Mittagessen nun auch in den Städten wieder in Mode. In Spanien ist die Siesta sehr wohl eine Sache für die Politik: Die Regierung beschloss vor Kurzem ein „Siesta-Gesetz“. Dieser Erlass schreibt vor, dass alle Arbeitgeber, deren Beschäftigte unter freiem Himmel arbeiten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei großer Hitze schützen müssen – etwa indem für Straßen- und Bauarbeiter oder Erntehelfer während der heißesten Sonnenstunden Ausruhen angeordnet wird.
Extreme Hitzetage gibt es in diesem Jahr in Spanien so viele wie noch nie. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dieser Sommer der heißeste aller Zeiten werden könnte. Auf der iberischen Halbinsel erreichten die Temperaturen örtlich Rekordwerte. Bis Mitte September werden Extreme erwartet. Spaniens Zivilschutz warnt deshalb auf allen Kanälen: „Vermeiden Sie zur Mittagszeit die Sonne.“
Angesichts der Bullenhitze ist es derzeit manchmal selbst an den Stränden kaum noch auszuhalten. Der Sand glüht derart, dass die Fußsohlen schmerzen. Das Wasser des Mittelmeers, das auf nahezu 30 Grad hochkocht, bringt nur wenig Abkühlung. Mittags packen deswegen viele Urlaubsgäste ihre Sachen und machen Siesta-Pause. Die Zeiten, in denen Familien wie früher den ganzen Tag mit den Kindern am Strand verbrachten, sind angesichts des Klimawandels vorbei. „Dieser Sommer ist eine gute Gelegenheit, um sich unserer alten Tradition zu erinnern“, erklärte ein Mediziner im spanischen Radio. Neue Arbeitszeitmodelle erleichtern dies. Zwei Drittel aller iberischen Unternehmen erlauben inzwischen ihren Angestellten, ganz oder teilweise im Homeoffice zu arbeiten. Das vereinfacht es, sich zwischendurch kurz aufs Ohr zu legen.
Viele Firmen haben zudem, wie der Arbeitgeber von Carlos Martínez, hitze- und Siesta-freundliche Dienstzeiten eingeführt, bei denen die Mitarbeiter eben früh starten und zur spanischen Mittagszeit, zwischen 14 und 15 Uhr, Feierabend machen. Die meisten Büro- und Verwaltungsangestellten arbeiten inzwischen in diesem Sommerrhythmus – Umfragen zeigen, dass dies die Zufriedenheit erhöht. Auch ganzjährige Gleitzeitmodelle breiten sich aus und ermöglichen es, am Nachmittag auszuspannen. Martínez zum Beispiel kann selbst bestimmen, ob er morgens um sieben oder ob er lieber erst um neun beginnt. In der spanischen Arbeitswelt gehe die Tendenz – soweit in der jeweiligen Branche möglich – immer mehr in Richtung morgendliche Intensivarbeitszeit, hat Martínez beobachtet. „So kann man den Nachmittag zum Ausruhen, für Familie und Freizeit nutzen.“
In Deutschland kommt Begeisterung für die mittägliche Auszeit vor allem von den Arbeitnehmerverbänden – etwa der Industriegewerkschaft IG Bau. „Natürlich müssen wir vor allem die Beschäftigten schützen, die bei dieser Gluthitze draußen unter freiem Himmel arbeiten müssen“, mahnte zuletzt deren Bundesvorsitzender Robert Feiger. Die Gewerkschaft war in Deutschland bei der Forderung nach einer Siesta ihrer Zeit voraus. Vergangenes Jahr schon hatte die Interessenvertretung vieler körperlich Schuftender eine verlängerte Mittagspause gefordert – und vorgeschlagen, die ausgefallenen Stunden an kühleren Tagen nachzuholen oder nur mit einem verminderten Lohn zu vergüten. Die Arbeitgeber-Vertreter verwiesen die Idee ins Land der Träume. Firmen könnten die Pausenzeiten bereits verlängern und Arbeiten in kühlere Tagesrandstunden verlegen, hieß es da. Auch auf Unterstellmöglichkeiten oder beschattete Baustellen wurde verwiesen.
Siesta: Abschaltpause und Wirtschaftsbooster?
Spanische Unternehmer denken schon einige Schritte weiter. Manche Firmen, Spaniens großer Fleisch- und Wurstfabrikant El Pozo etwa, haben mittlerweile „Siesta-Säle“ eingerichtet, um eine Ruhepause für jene zu erleichtern, die nicht schon mittags Feierabend machen können. Der Siesta-Experte Miguel Ángel Hernández, Professor für Geschichte an der Universität von Murcia, spricht von einer „überraschenden Wende, die sich in den letzten Jahren ereignete“. Denn mittlerweile wird der Mittagsschlaf sogar als Wirtschaftsbooster angesehen. Die Siesta sei zum Werkzeug geworden, um Arbeiter effizienter zu machen. Hernández hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Die Gabe des Mittagsschlafs.“ Darin verteidigt er, dass die Siesta auch als angenehme Abschaltpause verstanden werden sollte, um dem täglichen Zeitdruck zu entfliehen.
Spanien, das früher eher als rückständig gegolten habe, „ist ein modernes Land geworden“, freut sich auch der Verwaltungsangestellte Carlos Martínez. Jetzt aber genug geredet. Die Couch ruft.