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Mallorca
Von wegen nur Touristenhochburg: Zu Besuch in einem Problemviertel in Palma de Mallorca
Mallorca ist ein Sehnsuchtsort für Deutsche. Doch in Palma trennt nur eine kurze Fahrt Arm von Reich. Wie geht es den Menschen die im Problembezirk Son Gotleu leben?
0002085129.jpg       -  Häuserblock im Stadtteil Son Gotleu, einem sozialen Brennpunkt Palmas.
Foto: dpa / Clara Margais / Clara Margais | Häuserblock im Stadtteil Son Gotleu, einem sozialen Brennpunkt Palmas.
Philipp Schulte
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:33 Uhr

Wenn Llorenç Coll, 51, über die Straßen von Palmas Viertel Son Gotleu läuft, grüßen ihn zahlreiche Menschen. Hier die Mutter mit Kopftuch und Kind an der Hand, dort die Frau mit Maske und Rollator, die Wortwechsel dauern in etwa so lange wie Geldabheben. Viele Bewohnerinnen und Bewohner von Son Gotleu kennen Llorenç Coll, im Hauptberuf versucht der Mitarbeiter der mallorquinischen Hauptstadt seit 20 Jahren den sozialen Brennpunkt aufzuwerten. Als er auf die Hauptstraße, den Carrer d’Indalecio Prieto, abbiegt, erkennt er zwei Rauschgiftsüchtige wieder. „Sie nehmen Heroin“, sagt Coll. Ein paar Schritte weiter riecht es nach Hundekot. Und in einer Seitenstraße stehen Autos – oder das, was von ihnen übrig ist: Karosserien. Bis unters Dach stapelt sich der Müll in ihnen.

Das Viertel liegt an der Stadtautobahn, Zweithausbesitzer und Urlauber würden hier auffallen

Mallorca ist ein Sehnsuchtsort, die Lieblingsinsel der Deutschen. Besonders jetzt, im Winter, zieht sie viele deutsche Rentnerinnen und Rentner an. Sie entfliehen dem heimischen Grau und verbringen mehrere Monate in ihren Zweitwohnungen, spazieren die leeren Strände entlang, bummeln durch die Altstadt von Palma, fotografieren die Weihnachtsbeleuchtung. Tausende Lichter schmücken die Bäume an der Prachtstraße Paseo del Borne, die maurischen Gebäude wie der Almudaina-Palast und die Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert strahlen sowieso hell in der Nacht. Mit Blick auf diese Sehenswürdigkeiten essen die Touristen in Restaurants Tintenfisch mit Limettenmayonnaise, gegrillte Jakobsmuscheln und iberische Schweinerippchen.

Son Gotleu ist vom Zentrum aus eine zehnminütige Taxifahrt entfernt.

Das Viertel liegt an der Stadtautobahn, Zweithausbesitzer und Urlauber würden hier auffallen. Son Gotleu – es ist eines von fünf „vulnerablen Stadtteilen“ der Inselmetropole, so lautet der Behördenbegriff. 72 Viertel gibt es in Palma. Direkt an Son Gotleu grenzen die Stadtteile La Soledat Nord und Süd. Sie gelten ebenfalls als prekär. Den Übergang von einem zum anderen „barrio“, Viertel, bemerkt man nicht. Alle sind per Bus ans Zentrum angebunden, Linie 7 endet in Son Gotleu.

Seit Anfang Juli steht das Viertel unter Behördenaufsicht, nach einer Schießerei unter Clanmitgliedern. Jede Straße soll 24 Stunden von uniformierten und zivilen Beamten überwacht werden, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Doch das ist kaum möglich, 10.000 Menschen wohnen in Son Gotleu, in Hochhäusern und den unübersichtlichen Straßen mit ihren dunklen Ecken.

Insgesamt hat Palma 450.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Son Gotleu ist ein Einwandererviertel und führt Statistiken zum Sozialhilfebedarf an. Schlechter gestellt ist nur Son Banya, eine Barackensiedlung in der Nähe des Flughafens, die auch „Drogendorf“ genannt wird. Dort leben vorwiegend Sinti und Roma, die Stadt will das Viertel abreißen. Im Fall von Son Gotleu ist das nicht möglich, also versucht die Stadtverwaltung die Lage zu verbessern. Llorenç Coll vom kommunalen Bildungsdezernat arbeitet mit Lehrern und Schülern in Son Gotleu zusammen. Gemeinsam werten sie durch ihre Projekte die Bildungsstätten und Plätze auf. Sieben Schulen mit 3700 Schülern gibt es in Son Gotleu, Colls Terminkalender ist voll. Er ist Vater einer Tochter, Mallorquiner.

Man kann sich mit ihm Son Gotleu anschauen, sollte aber auf den Hauptstraßen bleiben und besser keine Fotos machen.

Llorenç Coll läuft jetzt an einer Schulmauer vorbei, plötzlich öffnet sich ein Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Eine Frau hat mitbekommen, dass über ihr Viertel und seine Probleme geredet wird. Sie beschwert sich, dass sich in Son Gotleu seit Jahren nichts verändert habe. Warum sie nicht wegziehe? „Ich habe eine große Wohnung und lebe hier seit 50 Jahren“, antwortet sie. Dann biegt Coll um eine Ecke und steht vor dem Eingang einer Grundschule. Deren Fassade haben Schüler mit einem Künstler gestaltet. Schön bunt. Coll hat sich bei der Stadt dafür eingesetzt, dass der Bürgersteig vor dem Gebäude verbreitert wurde. Müllcontainer wichen Bäumen.

Unten auf der Straße stinke es permanent nach Marihuana, erzählt die junge Frau. „Ich schließe die Fenster, um es nicht riechen zu müssen.“

Hanan Charchaoui hat zwei ihrer Söhne an der Schule, der Grundschule Joan Capó. Sie ist Marokkanerin und 37 Jahre alt. Drei Kinder hat sie, zwischen sieben und 15 Jahre alt. Charchaoui ist vor 20 Jahren mit ihren Eltern aus Nador nach Spanien gekommen. Erst ging es nach Almería in Andalusien, seit 16 Jahren lebt sie auf Mallorca. Fast die gesamte Zeit wohnt sie in Son Gotleu. Ihre Brüder leben ebenfalls auf der Insel, ihr Mann arbeitet auf Baustellen. Sie mag es, die Familie nah bei sich zu haben. Hanan Charchaoui spricht fließend Spanisch. Für sie und ihre Familie ist es „in Ordnung“, in Son Gotleu zu wohnen. Es gebe aber viel Dreck und über die Jahre habe sich nichts verändert, sagt auch sie. Ihre Drei-Zimmer-Mietwohnung ist fünf Minuten von der Schule entfernt.

Unten auf der Straße stinke es permanent nach Marihuana, erzählt sie weiter. „Ich schließe die Fenster, um es nicht riechen zu müssen.“ Was man aus Charchaouis Sicht in Son Gotleu verbessern kann? Keinen Müll aus dem Fenster schmeißen, den Lärm begrenzen. Das Zusammenleben zwischen Nord- und Westafrikanern, zwischen Spaniern und Sinti funktioniere aber trotz einiger Konflikte gut. „Jeder geht seiner Arbeit nach.“ Und: „Niemand belästigt mich, es ist sicher.“

Ihre Kinder halten Hanan Charchaoui den ganzen Tag auf Trab, es ist immer etwas los, sie sei „Vollzeit-Mutter“. Sie fühle Stolz, weil ihre Kinder Bildung erhalten. Damit heben sie sich von vielen anderen Menschen in Son Gotleu ab. Die Familie würde gerne in ein anderes Viertel ziehen, weg vom Gestank, von den Schlägereien, den Schießereien. Doch eine Wohnung näher am Stadtzentrum kann sie sich nicht leisten, die Mieten in Palma sind hoch.

In Son Gotleu haben 42 Prozent der Menschen zwischen 16 und 64 Jahren keinen Bildungsabschluss oder können nicht lesen und schreiben

Palma erhob im Jahr 2018 zuletzt Daten zu den sozialen Verhältnissen in den Stadtteilen. In Son Gotleu haben demnach 42 Prozent der Menschen zwischen 16 und 64 Jahren keinen Bildungsabschluss oder können nicht lesen und schreiben. Noch etwas mehr, 48 Prozent, werden als „unzureichend gebildet“ bezeichnet. Der Durchschnitt in Palma liegt bei 19,6 Prozent. Einen Universitätsabschluss haben lediglich 3,4 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Son Gotleu. 20,4 Prozent benötigen Hilfe von der Stadt, die sich um Mahlzeiten, Kleidung, Kinderbetreuung sowie soziale Teilhabe für sie kümmert. Etwa zehn Prozent der Menschen in Son Gotleu erhalten direkte finanzielle Hilfe vom Staat.

Llorenç Coll kennt diese Zahlen, natürlich. Und natürlich kann er allein sie nicht ändern, auch wenn eine Lehrerin der Grundschule Joan Capó über ihn sagt, dass er mehr als andere für das Viertel tue. Coll überquert eine Straße und betritt eine Wohnanlage. Deren Häuser sind in den 70er Jahren entstanden und baugleich. Sie sind weiß, haben grüne Fensterläden, fünf Stockwerke, Flachdächer, Kabel an den Außenwänden und Satellitenschüsseln auf den Balkonen. Sie waren damals „nicht schlecht“, sagt er. Bäume spenden Schatten und es gibt Platz in den Innenhöfen. Dort allerdings türmt sich der Müll: Plastikflaschen, Pizzaschachteln, Bierdosen. „Wenn die Menschen umziehen, werfen sie ihren Müll auf die Straße oder auf das Dach“, sagt Coll. Für 700 Euro kann man hier einem Immobilienportal zufolge drei Zimmer anmieten oder für 50.000 Euro eine Wohnung kaufen.

Wer kann, verlässt Son Gotleu. Doch für diejenigen, die mit wenigen Mitteln auf die Insel kommen, ist das Viertel ein Anlaufpunkt. Ein Beginn. Das war früher auch so: Als Diktator Franco in den 70er Jahren Spanien für den Tourismus öffnete, kamen Arbeitskräfte vom Festland nach Mallorca. Das Regime baute ihnen Wohnungen, darunter welche in Son Gotleu. Um das Jahr 2000 gab es eine zweite Einwanderungswelle. Damals kamen Männer aus den Maghreb-Staaten, um auf Feldern zu arbeiten. Ihre Familien zogen nach. Wenige Jahre später, kurz vor einer heftigen Finanzkrise, erreichten Menschen aus Nigeria, Mali, Senegal, Guinea und Ghana Son Gotleu. Sie wurden auf dem Bau gebraucht, die Immobilienbranche boomte. Kaum jemand von ihnen sprach Spanisch oder Katalanisch, die zweite Amtssprache auf den Balearen. Sie lernten, sich durchzuschlagen.

Für Llorenç Coll ist gleichwohl eines der größten Probleme Son Gotleus, dass sich niemand mit dem Viertel identifizieren könne – und wolle

Viele Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels sind heute Fachkräfte in Hotels, Gaststätten, Gartenanlagen und auf Baustellen. Sie arbeiten im Maschinenraum der Tourismusindustrie und treffen an ihren Arbeitsplätzen auf reiche Urlauberinnen und Urlauber. Dann begegnen sich das arme und das reiche, glitzernde Mallorca: etwa wenn ein Kellner im Ausgehviertel Santa Catalina zwei Männern aus England Aperol-Spritz auf den Tisch stellt. Wenn eine Putzkraft um 10 Uhr die Tür zu einem Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel an der Playa de Palma aufschließt und ein schlafendes Pärchen aus Schweden weckt. Das Durchschnittsgehalt auf den Balearen lag 2020 nach Angaben des spanischen Statistikamtes bei 2000 Euro brutto für eine Vollzeitkraft. Doch nun herrscht Inflation. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich vergrößern sich damit noch mehr.

Für Llorenç Coll ist gleichwohl eines der größten Probleme Son Gotleus, dass sich niemand mit dem Viertel identifizieren könne – und wolle. „Wer gibt schon gerne zu, dass er in einem hässlichen Stadtteil mit Rauschgift, Prostitution und Dreck lebt?“, fragt er. Dabei kennt Coll Dinge, die man schnell verbessern könnte: Fassaden und Treppenhäuser streichen, neue Haustüren anschaffen, kaputte Markisen entfernen, Stromkabel und Wäscheleinen verschwinden lassen. Es wäre ein Anfang. Zahlreiche Häuser befinden sich jedoch in privater Hand, sodass die Stadt nicht direkt eingreifen kann. „Wir erleichtern den Hausverwaltungen aber die Anträge für Umbauarbeiten und helfen ihnen dabei“, erklärt er. Kritiker hingegen werfen Stadt und Inselregierung vor, viele Jahre so gut wie nichts für Son Gotleu getan zu haben. Sie hätten sogar ein Projekt der Europäischen Union nicht umgesetzt.

Die Wirklichkeit ist komplexer. Viele Gebäude in Son Gotleu seien in den Händen von Banken, sagt Llorenç Coll. Hunderte Wohnungen stünden leer. Die Geldinstitute seien nicht darauf angewiesen, Wohnungen zu verkaufen, weil sie auf einen höheren Preis warteten. Das führe dazu, dass Wohnungen von Unbekannten besetzt werden, den sogenannten Okupas. Zudem pflegten und renovierten die Banken aus Sicht der Stadtverwaltung die Gebäude nicht. Das lasse sie verwahrlosen und führe zu Konflikten mit den Bewohnern. Solange die Banken nicht sozialer agierten, ändere sich nichts an der Situation, sagt Coll.

„Ich bin der Ermöglicher, die Kinder machen die Arbeit“, sagt der städtische Angestellte Coll

Der Gang durch das Viertel endet, zurück am belebten Carrer d’Indalecio Prieto. Friseure schneiden dort Haare für acht Euro, ein Gemüsehändler wiegt Bananen ab. Nicht viele Bewohner von Son Gotleu sind Mallorquiner, das Viertel spiegelt das internationale Mallorca. Jeder zweite Bewohner der Balearen, 46 Prozent, wurde nach Angaben des spanischen Statistikamts nicht auf den Inseln geboren, sondern in einer anderen spanischen Region oder im Ausland. 46 Prozent, das ist die höchste Zahl in Spanien. Zu den größten Ausländergruppen Mallorcas, das 900.000 Bewohnerinnen und Bewohner hat, zählen Südamerikaner, Afrikaner, Italiener, Briten – und Deutsche.

Llorenç Coll muss wieder in sein Büro, das sich im Stadtteilhaus befindet. Er quert einen Platz. Mit Schülern hat er hier Florettseidenbäume gepflanzt, WLAN installiert und Stühle aufgestellt. Der Platz ist breit und luftig. „Ich bin der Ermöglicher, die Kinder machen die Arbeit“, sagt Coll. Er sagt, dass hier zuvor Erde statt Asphalt gewesen sei und die Kinder jetzt Rollschuh fahren könnten. Auf einem Schild steht der Name des Platzes: Parc de l’Esperança, Park der Hoffnung.

 
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