Ben Wilson liegt auf dem kalten Boden der Londoner Millennium Bridge auf seiner mitgebrachten Matte, umgeben von Farbtöpfchen. In der rechten Hand hält er einen feinen Pinsel, mit dem er die Linien eines seiner Kunstwerke nachzieht. Neugierig bleiben Menschen stehen, schauen ihm zu, stellen ihm Fragen. Dabei wird er auch an diesem regnerisch-grauen Wintertag nicht müde, immer wieder aufs Neue zu beschreiben, was er da gerade macht. "Ich verwandle Kaugummis in Kunst."
Seit rund 20 Jahren verbringt der 60-jährige Brite fast jeden Tag des Jahres damit, aus dem, was Menschen achtlos ausspucken, etwas Neues und Einzigartiges zu schaffen. Die ersten auf Asphalt festgetretenen Kaugummis bemalte er im Norden Londons. Mittlerweile zieht sich überdies ein "versteckter Pfad aus Kunstwerken" über die Millennium Bridge im Herzen der Metropole.
Der Kaugummi-Künstler wird selbst zur Provokation
Dabei wird der Maler selbst zur Provokation. Schließlich hockt er in seinem leuchtend orangen, mit Farbschichten überzogenen Industrieoverall mitten auf der Brücke oder auf Gehwegen der geschäftigen City. Manchmal denken Leute, er sei ohnmächtig oder betrunken; Krankenwagen halten schon mal heulend neben ihm an. Mehrmals sei er verhaftet, dann aber schnell wieder freigelassen worden. "Schließlich male ich nicht auf öffentlichem Grund, sondern auf weggeworfenen Kaugummis."
Die Idee zu den kleinen Kunstwerken kam ihm, als die platt gedrückten Gummifladen in den Städten immer mehr zum Problem wurden und weil er sich für Dinge interessiert, die erst auf den zweiten Blick auffallen. Zudem liege in seiner Kunst auch eine Provokation: "Ich mache etwas Schönes aus dem, was andere eklig finden." Die Millennium Bridge sei deshalb so interessant, weil sie täglich von vielen, sehr unterschiedlichen Menschen passiert wird. "Mit meinen Bildern feiere ich die Vielfalt Londons", sagt er.
Wilson hat mehrere Tausend Kaugummi-Kunstwerke geschaffen
Das spiegelt sich auch in dem Werk wider, an dem er aktuell arbeitet. Es befindet sich mitten auf der Brücke, ist nicht größer als ein Busticket und einer Gruppe mexikanischer Touristen gewidmet. Im Mittelpunkt steht ihre Nationalflagge in den Farben Grün, Weiß und Rot. Elemente des Wappens, wie etwa eine Schlange, hat er daneben gezeichnet.
Um auf dem Chewinggum malen zu können, erhitzt er diesen zunächst mit einer Lötlampe und überzieht ihn dann mit mehreren Schichten Acryllack, den er schließlich versiegelt. "Die Herstellung der Bilder dauert zwischen zwei Stunden und mehreren Tagen." Wilson hat auf diese Weise über die Jahre mehrere Tausend Kunstwerke geschaffen.
Bei einem Spaziergang über die Brücke stoßen aufmerksame Betrachter alle paar Meter auf Namen und Flaggen, aber auch auf Enten, Elefanten, Vögel und Roboter, auf abstrakte und konkrete Werke. "Was entsteht, orientiert sich an der Form des Kaugummis", sagt Wilson.
Dem Stadtreiniger wurden zwei Kaugummi-Kunstwerke gewidmet
Der Künstler dokumentiert die Werke fotografisch, sind sie abgenutzt oder beschädigt, werden sie restauriert. Dabei begegnet Wilson immer wieder jenen Personen, die ihn zu Bildern inspirierten. Zu ihnen zählt Nene Matey, ein Stadtreiniger, der auch an diesem Tag mit einer Tüte in der Hand achtlos weggeworfene Kaffeebecher und anderen Abfall von der Brücke aufliest. Wilson hat dem 34-Jährigen gleich zwei Kaugummi-Kunstwerke auf der Brücke über die Themse gewidmet.
Sein Geld verdient der 60-jährige Vater von drei erwachsenen Kindern mit Ausstellungen in Galerien und mit Auftragsarbeiten. So fertige er auf Einladung des Musée Visionnaire in Zürich etwa einen weiteren Kaugummipfad an. Im Jahr 2022 restaurierte er die dort 2019 entstandenen, inzwischen etwas lädierten Werke und verwandelte weitere Gummifladen in Miniaturen.
Die Bilder auf der Brücke in London sollten entfernt werden
Wilsons Leidenschaft für Kunst begann schon früh. Sein Vater war Keramiker, seine Mutter Illustratorin. "Ich habe schon mit dreieinhalb Jahren mit Ton gearbeitet", sagt Wilson. Seine ersten Skulpturen fertigte er als Teenager an. Er studierte an einer Kunsthochschule, entschied sich aber, das Studium abzubrechen und Vollzeitkünstler zu werden.
Seine Arbeiten sorgten erstmals Mitte der 1980er-Jahre für Aufsehen, als er in einem Wald in der Nähe von Barnet im Norden Londons eine liegende Skulptur aus Ästen schuf. Ein schlafender Riese entstand. "Nach drei Jahren habe ich ihn dann abgebaut." Während dieses Werk groß und imposant war, entstehen durch seine Kaugummi-Kunst neue Welten auf kleinstem Raum.
Weil viel Arbeit in den Arbeiten steckt und Wilson seine Fans hat, lösten Pläne im Herbst für Aufsehen. Die Bilder auf der Millennium Bridge sollten im Zuge von Reinigungsarbeiten entfernt werden. Unterstützer des Künstlers starteten eine Petition und hatten Erfolg. "Zwei Drittel der Kunstwerke konnten gerettet werden", sagt Wilson.