
Wenn Esther Filgut auf Mallorca Auto fährt, freut sie sich über den entspannten Verkehr. An diesem Tag – wie so oft scheint die Sonne – ist sie auf der Autobahn MA-19 in Richtung Palma unterwegs. Es geht vorbei am riesigen Flughafen, an Kiefern und Palmen, einer Windmühle und einem Einkaufszentrum. Am Horizont ragt der karge Puig de Galatzó in den blauen Himmel, tausend Meter hoch. Mallorca, das ist viel Landschaft, viel Kreisverkehr, wenig Ampeln. Dort, wo Esther Filgut herkommt, Frankfurt am Main, ist der Verkehr hektisch und anstrengend. Auf Mallorca hingegen, sagt sie, lebt es sich generell, nun ja, entspannter.
Filgut, 47, wechselt auf die Stadtautobahn Vía Cintura, die Palmas Zentrum umschließt wie Arme einen Körper. Hinten im Wagen sitzen zwei ihrer vier Kinder. Greta, 11, und Felix, 8, tragen blaue Shirts mit dem Emblem ihres Leichtathletik-Vereins Joan Capó Felanitx. Die Kinder werden gleich weitspringen, laufen, Ball werfen. Jetzt schauen sie noch ganz gelassen aus dem Fenster – Energiesparmodus.
2022 wanderten rund 270.000 Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft aus
Seit 2016 verlassen jedes Jahr zwischen 250.000 und 300.000 Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft die Bundesrepublik. 2022 lag die Zahl nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei rund 270.000. Das ist einer der höchsten Werte der vergangenen Jahre. Es war auch mal wieder ein Jahr mit negativem Wanderungssaldo: rund 83.000. Das heißt, dass mehr Deutsche auswanderten als zurückkehrten. Seit 2005 ist das schon so.
Wer mit Kindern auswandert, sei es aus beruflichen oder "Sehnsuchtsgründen", steht vor einer besonderen Herausforderung. Man muss ihnen erklären, warum man in ein anderes Land zieht und wieso das ausgerechnet jetzt sein muss. Eltern reißen Kinder aus ihrem Umfeld: weg von Freunden, Großeltern, Austritt aus dem Sportverein. Die Kinder müssen dann meist eine neue Sprache lernen, sich an eine neue Umgebung gewöhnen und neue Freunde finden, die vielleicht gar nicht ihre Freunde sein wollen.
Deutschland mit den Kindern verlassen: Neues Zuhause auf Mallorca
Esther Filgut und ihr Mann verließen Deutschland im Juli 2022 – mit vier Kindern, zweimal Zwillinge. In Hessen begannen gerade die Sommerferien, Familien fuhren in den Urlaub. Die Filguts hatten kein Rückflugticket. Esther Filgut, so erzählt sie es, sagte den Kindern am Flughafen in Frankfurt: „Wir fliegen jetzt in unser neues Zuhause.“ Die Kids seien gar nicht mal aufgeregt gewesen. „Kinder nehmen Dinge so, wie sie sind.“ In das Flugzeug nach Palma zu steigen, sei der letzte von vielen Schritten gewesen. Filgut und ihr Mann hatten das Auswandern lange vorbereitet, ihr Haus verkauft, die Möbel. Ihre neue gemietete Finca mit Pool auf Mallorca kannten sie schon von Urlauben. Sie befindet sich bei Felanitx im Südosten der Insel.
Spanien steht an Position vier der bei deutschen Auswanderern beliebtesten Länder. Nummer eins ist die Schweiz, gefolgt von Österreich und den Vereinigten Staaten. Frankreich nimmt Rang fünf ein. In Spanien leben Daten des dortigen Statistikamts zufolge 115.000 Deutsche, auf den Balearen sind es rund 19.000. Hinzu kommen diejenigen Deutschen, die nur mehrere Monate auf Mallorca verbringen. Sowie diejenigen, die sich aus steuerlichen Gründen nicht anmelden. Ein Spanien-Experte spricht von 40.000 Deutschen, die auf Mallorca leben.
In manchen Orten Mallorcas bilden Deutsche Parallelgesellschaften
Die Deutschen bilden in Orten wie Santanyí, Santa Ponça und Cala Ratjada quasi teutonische Parallelgesellschaften. Es gibt deutsche Supermärkte, deutsche Ärzte, deutsche Zeitungen. Und schönes Wetter, ganz wichtig. Das gefällt Esther Filgut besonders gut. Sie sagt, dass die Kinder Lust gehabt hätten, nach Mallorca zu ziehen. Überzeugen musste sie eher ihren Mann. Mallorca sollte ein Neustart in der Ehe werden, das Paar hatte sich in Deutschland getrennt. Doch im neuen Land gingen die alten Probleme nicht weg. Die Filguts haben ihre Beziehung auf der Insel beendet, beide sind auf Mallorca geblieben. Je ein Sohn und eine Tochter leben nun bei einem Elternteil auf zwei verschiedenen Fincas.
Warum wollte Esther Filgut ausgerechnet nach Mallorca auswandern? Sie sagt, sie sehnte sich nach mediterranem Lebensgefühl. Auszuwandern sei außerdem ein Gewinn für die Kinder: Sie sollten lernen, nicht ängstlich zu sein, wenn Veränderungen anstünden. In Deutschland machten die Mädchen noch die Grundschule zu Ende, die Jungs waren fertig mit dem Kindergarten. Nun gehen alle vier auf eine öffentliche Schule auf Mallorca, lernen die Amtssprachen Katalanisch und Spanisch.
Die Eltern machten den Kindern klar, dass es keinen Plan B gibt. Esther Filgut sagte ihnen: „Es gibt Herausforderungen. Manches ist in Deutschland besser.“ Ein Vorteil auf Mallorca sei dagegen, dass die Kinder häufiger draußen spielen könnten. „Sie hängen am Pool ab oder buddeln ein Loch – anstatt am Handy zu daddeln und Videospiele zu spielen.“ Wichtig war Esther Filgut von Anfang an, Kontakte zu knüpfen. Sie verabredete sich mit anderen Deutschen, die ebenfalls Kinder haben.
Esther Filgut ist promovierte Juristin, bis 2018 arbeitete sie als Anwältin in der Finanzbranche in führender Position. Dann kündigte sie und machte sich selbstständig. Sie berät nun Unternehmen, die ihr Business auf- oder ausbauen wollen. Das kann sie von Mallorca aus machen. Die Kinder hingegen mussten neu anfangen. Dieser Anfang war schwer, schon der Sprache wegen. Und dass die Finca abgelegen ist, hat neben viel Ruhe auch einen Nachteil: Die Kinder können nicht mal eben mit dem Fahrrad irgendwo hinfahren. Das stört Axel, der mal sagte, dass es in Deutschland besser gewesen sei. Heimweh habe aber niemand, sagt die Mutter. Und zurück nach Deutschland gehen wolle auch niemand. Die Filguts glauben, dass sie nun, nach eineinhalb Jahren, angekommen sind. Mallorca ist jetzt ihr neues Zuhause – ohne Großstadtverkehr.
Eine Psychotherapeutin sagt: "Jedes Kind profitiert davon, mal im Ausland gelebt zu haben"
Was macht das mit Kindern und Jugendlichen, die ihre Heimat verlassen? Videoanruf bei Agnes Justen-Horsten. Sie ist Psychotherapeutin in Berlin und hat eine Tochter, 17, die in New York wohnt. Auch Justen-Horsten lebte schon in New York sowie in Prag und in Wien. Das Buch „On the Move – Ein psychologischer Wegbegleiter für das Leben und Arbeiten im Ausland“ stammt von ihr, sie arbeitet fast ausschließlich mit Menschen, die im Ausland leben.
Agnes Justen-Horsten ist überzeugt, dass jedes Kind davon profitiert, mal im Ausland gelebt zu haben. Das könne nur Vorteile haben und prägen. Man passe sich an eine andere Kultur an und bewahre seine eigene. Und: „Man muss sich in Situationen zurechtfinden, die einem erst mal schwierig vorkommen.“ Etwa, wenn Verständigung nicht klappt, das Kind sich aus Sicherheitsgründen nicht frei bewegen kann, es gewisse Freizeitbeschäftigungen im neuen Land nicht mehr ausüben kann oder es nicht die gleichen Produkte wie in Deutschland zu kaufen gibt.
„Eltern sollten erklären, warum sie auswandern möchten, über die eigenen Sorgen und Ängste reden, den Kindern von dem neuen Land erzählen und mit Leuten sprechen, die dort schon einmal gelebt haben“, empfiehlt die Expertin. Eltern sollten auch zusammen mit den Kindern Erlebnisse für das Zielland planen. Dennoch sei die Gefahr da, dass das Auswandern zu einer Familienkrise führen könne. „Man muss sich klarmachen, dass das Kind viel Vertrautes verliert.“ Kinder würden in erster Linie mitgenommen und trauerten ihrem alten Leben mehr nach als die Eltern. Und auch die sollten den eigenen Abschiedsschmerz nicht leugnen.
Bei einem Umzug innerhalb Deutschlands sind Familien mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie wenn es ganz weit weg geht. Der Unterschied zum Ausland ist Agnes Justen-Horsten zufolge die andere Kultur und ein anderes sozioökonomisches Gefüge. „Je jünger die Kinder sind, desto besser können sie sich in diese Veränderungen einleben.“ Gibt es das richtige Alter für Kinder, um auszuwandern? „Nein“, sagt die Psychotherapeutin. Allerdings sei es in Bezug auf das Erlernen einer neuen Sprache eher unproblematisch, Kinder zwischen ein und vier Jahren mit ins Ausland zu nehmen. Und auch nach der Grundschule sei der Umzug in ein anderes Land weniger schmerzhaft. Aber: „Je älter die Kinder sind, desto länger wird die Eingewöhnungszeit.“
Die Familie Jahnke lebt heute in Australien – und hat dort auch schwierige Momente erlebt
Dass Kinder schnell eine neue Sprache lernen, hat auch Bernd Jahnke erlebt – beziehungsweise seine Tochter Natascha. Beide sitzen zu Hause auf dem Sofa in Adelaide im Südosten Australiens. Der Papa hält während des Gesprächs das Handy, die Tochter schaut immer wieder mit in die Kamera. 2014 wanderten die Jahnkes von Berlin nach Australien aus. Natascha war damals knapp drei Jahre alt. Nun ist sie zwölf und spricht besser Englisch als Deutsch – mit australischem Akzent.
Rund 116.000 Menschen mit Geburtsort Deutschland leben nach Angaben des Statistikbüros ABS in Australien. Das ist das Ergebnis einer Volkszählung aus dem Jahr 2016. Deutschland liegt auf Platz zwölf der Rangliste ausländischer Einwanderer. Das deutsche Statistikamt wiederum registrierte für 2022, dass rund 2900 Deutsche nach Australien gezogen sind. Warum wollten die Jahnkes auswandern? Bernd Jahnke und seine Frau Nadja waren genervt von Berlin, von Hundekot auf Straßen und biertrinkenden Jugendlichen auf Spielplätzen. Wenn sie den Kinderwagen abends in ein Restaurant schoben, hätten die Leute böse geschaut. Besonders für Natascha sei es gut gewesen, wegzuziehen, sagt Bernd Jahnke. Aber nicht nach Hannover, wie ein Freund vorgeschlagen hatte. Nein, die Jahnkes wollten weit weg und in ein englischsprachiges Land auswandern. Auch wenn der Vater in Australien nur „Börnd“ genannt wurde und sich schließlich in Ben umbenannte.
In Deutschland hatte Bernd Jahnke ein Reisebüro, in Australien ist er Projektmanager bei einer Stiftung, die Medizin-Forschung unterstützt. Während der ersten Jahre im neuen Land sorgte sich Bernd Jahnke, nach Deutschland zurückkehren zu müssen, das Visum musste immer wieder verlängert werden. Einmal flatterte es an dem Abend ins Haus, bevor die Familie am nächsten Tag Australien hätte verlassen müssen. „Erklär mal einem achtjährigen Kind, dass man wieder gehen muss“, sagt Jahnke in die Handykamera. Er war erleichtert, als die Familie nach fünf Jahren die permanent residency erhielt. Und seit Kurzem haben die Jahnkes die australische Staatsbürgerschaft.
Das Auswandern machte die Familie Jahnke zu einer „engen Truppe“
Das Auswandern machte die Familie zu einer „engen Truppe“, wie der Vater es umschreibt. Sie zog in neun Jahren siebenmal um, wechselte zweimal die Stadt, von Brisbane nach Melbourne und von Melbourne nach Adelaide. Nach all den Jahren fallen Natascha manche Wörter auf Deutsch nicht mehr ein. Sie geht in Adelaide auf eine australische Schule und am Samstag zusätzlich auf eine deutsche, weil sie „nicht so gut“ in Deutsch sei, wie sie sagt. Sie liest gerne Fantasybücher, schwimmt, macht Selbstverteidigung – und vermisst Oma und Opa in Berlin. 2022 waren die Jahnkes zuletzt zu Besuch. Über eine Whatsapp-Gruppe halten sie mit Großeltern, Onkel, Tanten und Geschwistern Kontakt.
Irgendwann möchte Natascha einen Austausch machen, in Deutschland leben, in Berlin zur Schule gehen, ihr Heimatland kennenlernen. Aber nur für ein halbes Jahr, sagt sie, länger nicht.