„Es gibt Menschen, die sich ihres Einflusses nicht bewusst sind, die aber, ohne es zu merken, jeden, den sie treffen, inspirieren, besser zu werden, mehr zu tun und Veränderungen anzustreben.“
Gesagt hat das kürzlich die frühere britische Labour-Abgeordnete Ruth Anderson – über Alfred Dubs. Wenn der alte Herr von seinem Leben berichtet, klingt es, als sei er selbst überrascht von den Wundern, die ihm im Laufe der Jahrzehnte widerfahren sind. Dubs wurde schon häufig darum gebeten, von seinem Leben zu erzählen, besonders in den vergangenen Tagen. Und so erzählt er mit einer gewissen Routine. Dem, was er zu sagen hat, nimmt das nichts an Eindrücklichkeit. Ohnehin kann seine Geschichte, die untrennbar mit der eines gewissen Nicholas Winton verbunden ist, nicht oft genug erzählt werden. Demnächst ist sie auch im Kino zu sehen, verfilmt mit den Weltstars Anthony Hopkins und Helena Bonham Carter.
„Ich sehe es noch vor mir, wie mich meine Mutter in Prag in den Zug setzt“, erzählt Dubs
Alfred Dubs wurde 1939 als sechsjähriges Kind jüdischer Eltern durch einen sogenannten Kindertransport, der ihn von Prag nach London brachte, vor den Nazis gerettet. „Ich habe Glück gehabt“, sagt der 90-Jährige im Gespräch immer wieder. „Ich habe Glück gehabt“, das ist wie ein Resümee seiner Geschichte – und wie eine Beschreibung seines Lebens. „Ich sehe es noch vor mir, wie mich meine Mutter in Prag in den Zug setzt“, erzählt Dubs also. In der folgenden Nacht erreichten sie die Grenze zu den Niederlanden. „Die Älteren jubelten, weil wir außer Reichweite der Nazis waren. Mir war klar, dass das wichtig war, aber nicht, warum.“ Stattdessen habe er nach Holzschuhen und Windmühlen Ausschau gehalten. „Das war alles, was ich über Holland wusste, aber es war zu dunkel, um etwas zu sehen.“ Dann fuhr er weiter nach Rotterdam und von dort mit dem Schiff nach Großbritannien.
Insgesamt 669 Kinder wurden 1939 mit dem „Kindertransport“, in dem sich auch Alfred Dubs befand, aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien gebracht. Die von dem britischen Börsenmakler Nicholas Winton organisierte Aktion war Teil einer Bewegung, die vorwiegend von Hilfsorganisationen vorangetrieben wurde, wie der Historiker Tony Kushner erläutert. Nach den Novemberpogromen von 1938 willigte die britische Regierung ein, eine größere Zahl meist jüdischer Kinder unter anderem aus Hitler-Deutschland, aus Österreich, Polen und schließlich auch aus der Tschechoslowakei vorübergehend aufzunehmen. Bis September 1939 wurden rund 10.000 Jungen und Mädchen auf die Insel gebracht. Vor 85 Jahren, am 2. Dezember 1938, kamen die ersten Züge am Bahnhof Liverpool Street im Nordosten Londons an.
Die Geschichte der „Kindertransporte“ wurde verfilmt: Deutscher Kinostart von „One Life“ ist wohl im März
An diesem noch heute stark frequentierten Ort der Metropole erinnert eine Statue an die Ereignisse. Sie zeigt fünf Kinder. Ihre in Bronze verewigten Gesichter wirken teils erleichtert, nachdenklich – jedoch auch verwirrt. Ein Mädchen hält einen Teddybären im Arm. Die Arbeit des Künstlers Frank Meisler aus dem Jahr 2006 heißt „The Arrival“. Die Ankunft.
Doch wie war die Ankunft für die Kinder, die alles hinter sich gelassen hatten? „Manche wurden von ihren Eltern erwartet, andere von Verwandten, wieder andere von Pflegeeltern“, erinnert sich Dubs. „Ich hatte Glück, weil ich von meinem Vater empfangen wurde.“ Der war schon früher aus der Tschechoslowakei geflohen. Mit ihm lebte der junge Alfred zunächst in einer kleinen Wohnung in Belsize Park, einem Stadtteil im Norden Londons, in dem sich die meisten jüdischen Geflüchteten niederließen. Seiner Mutter wurde die Ausreise aus Prag verweigert; „im letzten Moment“ gelang ihr doch noch die Flucht. London erreichte sie am 31. August 1939 – einen Tag vor dem deutschen Angriff auf Polen und kurz bevor das Vereinigte Königreich am 3. September Nazi-Deutschland den Krieg erklärte. Dubs Vater starb nicht lange danach an einem Herzinfarkt. „Ich hatte das Glück, immer einen Elternteil hier zu haben. Manche haben ihre Familie viel später wiedergesehen, andere nie mehr“, sagt Dubs.
Dass es Nicholas Winton war, der seine Rettung veranlasst hatte, war Dubs damals nicht bewusst. Im Dezember 1938 hatte der 29-jährige Winton einen geplanten Skiurlaub abgesagt, nachdem ihn ein Freund gedrängt hatte, nach Prag zu fahren, um sich ein Bild von der schlimmen Lage zu machen. Dort begegnete er überall Geflüchteten und wollte helfen. Zusammen mit einigen Freiwilligen kümmerte sich Winton um alles, das die meist jüdischen Kinder brauchten, um nach Großbritannien zu gelangen: von der Suche nach Gastfamilien bis zur Beschaffung von Geld für die Reisekosten. Winton sprach jahrzehntelang kaum über seine guten Taten. „Warum so eine große Sache daraus machen? Ich habe nur ein wenig geholfen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, soll er einmal gesagt haben. So blieb seine Heldengeschichte einer breiten Öffentlichkeit unbekannt.
Nicholas Winton erzählte seine Heldengeschichte kaum. Bekannt wurde sie einer breiten Öffentlichkeit erst 1988
Das änderte sich im Februar 1988, als Winton zu Gast in der beliebten BBC-Abendshow „That’s Life!“ war. Vor laufenden Kameras fragte Moderatorin Esther Rantzen das Studiopublikum: „Verdankt irgendjemand hier heute Abend sein Leben Nicholas Winton?“ Daraufhin standen Dutzende Erwachsene um den damals 77-Jährigen herum auf. Er hatte sie als Kind gerettet. Winton war überrascht und reagierte gerührt. Die Szene, auf YouTube zig Millionen Mal geteilt, wurde natürlich auch im Film „One Life“ über Winton, der im Januar in die britischen Kinos kommt, nachgestellt. Kinostart in Deutschland soll im März sein. Alfred Dubs war zu einer Vorpremiere eingeladen und zeigte sich begeistert. Anthony Hopkins habe „Nicky“ hervorragend gespielt. „Ich hatte immer das Gefühl, dass er es ist.“
Dubs weiß, wovon er spricht, er kannte Nicholas Winton ziemlich gut. „Wir haben uns gelegentlich getroffen, zum Beispiel an seinen Geburtstagen.“ Winton, der 2015 im Alter von 106 Jahren starb, sei bis ins hohe Alter geistig fit gewesen. „Er war noch so wach“, und er habe ein großes Interesse an Politik gehabt. „Er war wirklich ein bemerkenswerter Mensch.“ Dubs, selber hochbetagt, ist einer der Letzten, der aus eigenem Erleben von den Kindertransporten berichten kann. Als er 1939 nach Großbritannien kam, habe er vieles nicht verstanden, erzählt er, der seit 1994 Mitglied des britischen Oberhauses ist und 2002 geadelt wurde. Da das Oberhaus an diesem Tag nicht tagt, führt der 90-Jährige das Gespräch via Videocall vom ausgebauten Dachboden seines Hauses in London aus. Hinter ihm stehen Regale, gefüllt mit Kisten und Büchern.
Seine ersten Monate in London beschreibt er als „verwirrend“, sich selbst als „heimatlos“. Erst besuchte er eine Privatschule, um Englisch zu lernen, später wechselte er auf Internate, die die tschechoslowakische Exilregierung in Großbritannien eröffnet hatte. Viele der älteren Schüler seien ihm „wie Götter“ vorgekommen: Sie waren Überlebende und sich dessen bewusst. Mit 13 Jahren erfuhr dann auch Dubs, „was geschehen war und was die Nazis getan hatten“. Während sich einige Geflüchtete 1945 nach einer Rückkehr sehnten, wollte er bleiben – und in die Politik. „Ich dachte mir: Wenn die Menschen durch Politik so viel Schaden in der Welt anrichten, dann könnten wir sie vielleicht auch anders nutzen.“ Er studierte Politikwissenschaft an der London School of Economics, 1979 wurde er erstmals für Labour ins britische Unterhaus gewählt. Von 1988 bis 1995 war Dubs Direktor des Refugee Council, eine Organisation, die mit Flüchtlingen und Asylbewerbern zusammenarbeitet. „Ich glaube, dass wir in allen Bereichen und unter allen Bedingungen zusammenarbeiten müssen, wenn es um Geflüchtete geht“, sagt er.
Alfred Dubs macht sich Sorgen – über Antisemitismus und Islamophobie, wie er sagt
Damals wie heute liegt Dubs insbesondere das Schicksal von geflüchteten Kindern am Herzen. „Ich habe immer gehofft, dass sie in diesem Land genauso gute Chancen erhalten wie ich.“ Erst kürzlich forderte er ein Umsiedlungsprogramm für Palästinenser, die familiäre Verbindungen nach Großbritannien haben oder medizinische Hilfe benötigen. Den Aufstieg rechtsextremer Parteien, wie in den Niederlanden, bezeichnet er als sehr bedrückend. „Es ist eine Tragödie, dass die Flüchtlingsfrage für den eigenen Wahlvorteil ausgenutzt wird. Wir müssen einen besseren Umgang mit Antisemitismus finden – und mit Islamophobie.“ Dass Juden in Großbritannien nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, Angst haben, macht ihn betroffen. Auch auf der Insel habe es seit dem Gaza-Krieg immer mehr Hass und Hetze gegeben. „Ich finde es schockierend, dass so viele Jahre nach dem Ende des Holocausts so viel Angst herrscht.“
Laut dem Historiker Tony Kushner gebe es in Bezug auf das Wissen um den Holocaust in Großbritannien Verbesserungsbedarf. „Der Geschichtsunterricht verliert hier immer mehr an Bedeutung.“ Vor den 1980er Jahren sei die Situation jedoch noch schlimmer gewesen. „Damals haben die Menschen so gut wie nichts darüber gewusst.“ Dass sich dies änderte, sei auch jenen Überlebenden zu verdanken, die immer und immer wieder von ihren Erfahrungen berichtet haben. Menschen wie Alfred Dubs.