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London
Ein Land liegt am Boden: Was ist nur aus Großbritannien geworden?
Die Schulen bröckeln, das Gesundheitssystem ist am Ende, den Menschen geht das Geld aus – und was tut die Regierung? Ein Krisenreport aus einem einst stolzen Land.
Streiks in Großbritannien - NHS.jpeg       -  Der schöne und neu renovierte Glockenturm vor dem Parlamentsgebäude in London – vor dem mal wieder Beschäftigte des Gesundheitsdienstes NHS demonstrieren.
Foto: Li Ying, XinHua/dpa | Der schöne und neu renovierte Glockenturm vor dem Parlamentsgebäude in London – vor dem mal wieder Beschäftigte des Gesundheitsdienstes NHS demonstrieren.
Susanne Ebner
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:29 Uhr

Briten neigen dazu, sich selbst und ihre Probleme nicht ganz so ernst zu nehmen. Dies sei sogar ein Tabu, sagt die Ethnologin Kate Fox, die ein Buch über die Inselbewohner und ihre Eigenheiten geschrieben hat. Und so reagieren manche auf die allgemeine Misere im Land, die bröckelnden Schulen, das marode Gesundheitssystem und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich gerne mal mit Humor. Doch bei dem, was sich derzeit abspielt, vergeht selbst den Britinnen und Briten das Lachen.

Joe Cox kann ein Lied davon singen. Cox arbeitet für die Organisation „Debt Justice“ in London. Diese will der Ausbeutung von Menschen aufgrund immer höherer Schulden ein Ende bereiten. Die Organisation hat ihren Sitz im Oxford House, einem Gemeindezentrum im Stadtbezirk Tower Hamlets östlich der City of London. „Wenn ich hier aus der Tür gehe, werde ich sofort mit den Problemen, mit denen wir uns beschäftigen, konfrontiert“, sagt der 37-Jährige. „Es gibt ein hohes Maß an Armut und Ungleichheit sowie schlechte Wohnverhältnisse und all die Probleme, die damit einhergehen.“

Lebenshaltungskosten und Mieten steigen immer weiter

Weil neben den Lebenshaltungskosten auch die Mieten sowie die Hypothekenzinsen in Großbritannien immer weiter steigen, sind viele Menschen extrem unter Druck geraten. Oft, sagt Cox, sehen sie dann keinen anderen Ausweg, als einen Kredit aufzunehmen – zu schlechten Konditionen, was die finanzielle Last noch weiter erhöht. Eine neue Analyse von „Debt Justice“ hat ergeben, dass die Zahl der Haushalte, die unter hohen Schulden leiden, seit 2017 um zwei Drittel gestiegen ist. 12,8 Millionen Menschen sollen betroffen sein.

Gerade junge Britinnen und Briten sehen auf der Insel mittlerweile keine Perspektive mehr. Rekordverdächtig viele Erwachsene leben immer noch bei ihren Eltern. Denn wer auszieht, muss jüngsten Erhebungen zufolge damit rechnen, mehr als die Hälfte seines Einkommens für Wohn- und Nebenkosten auszugeben. Eine Analyse der Denkfabrik „Resolution Foundation“ ergab, dass Haushalte mit mittlerem Einkommen in Großbritannien neun Prozent ärmer sind als jene in Frankreich. Sam Ashworth-Hayes, Journalist bei der Zeitung Telegraph, riet deshalb kürzlich: „Verlassen Sie das Schiff, solange Sie noch können.“

In diesem einst so stolzen Industrieland haben die gestiegenen Lebenshaltungskosten dazu geführt, dass den Bürgerinnen und Bürgern regelrecht das Geld ausgeht. Erschwerend hinzu kommt die schlechte Ausgangslage: Kaum ein großes Industrieland wurde von der Finanzkrise so hart getroffen. Auch heute noch verdienen Arbeitnehmer auf der Insel weniger als in anderen vergleichbaren Ländern. Die Reallöhne liegen nach wie vor nur knapp über dem Niveau von 2008, auch weil der Brexit das Wachstum hemmte. Und: „Die Sozialleistungen reichen mittlerweile selbst für Erwerbstätige nicht mehr aus“, sagt Isabel Taylor von der „Joseph Rountree Foundation“.

Premierminister Rishi Sunak ist so unbeliebt wie Boris Johnson

Allein der Brexit. Die konservative Regierung hat dem Wahlvolk einst versprochen, er werde die Lösung für einen Großteil der Probleme im Land sein. Ohne den Klotz Europäische Union am Bein würde die Wirtschaft wieder stärker wachsen können. Wenn man keine hohen Beiträge an Brüssel überweisen muss, könne man mehr Geld für den unterfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst NHS ausgeben. Oder: Durch weniger Einwanderung würden die Löhne in schlecht bezahlten Berufen steigen. Nichts von dem ist eingetreten. Das Vereinigte Königreich ist ein abschreckendes Beispiel dafür, dass ein Land allein in der globalisierten Welt wenig Gewicht hat.

Der heutige große Frust über die Regierung spiegelt sich in den Umfragen. Demnach ist Premierminister Rishi Sunak heute genauso unbeliebt wie einst Boris Johnson, als dieser im Juli 2022 sein Amt niederlegte. Und das, obwohl Sunak im Oktober vergangenen Jahres in seiner Antrittsrede betont hatte, dass er Dinge anders machen wolle als sein Vorgänger: Professionell wolle er sein und die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellen. Laut einer YouGov-Umfrage haben jedoch 67 Prozent „keine gute Meinung“ von ihm. Die oppositionelle Labour-Partei liegt hingegen rund 20 Punkte vor den Tories. Damit droht der konservativen Partei bei den nächsten Wahlen eine krachende Niederlage.

Als einen letzten Rettungsanker plant die Regierung, die Parlamentswahlen im kommenden Jahr relativ spät anzusetzen, wie Regierungsbeamte hinter vorgehaltener Hand berichten. Sunak setzt darauf, dass sich die wirtschaftliche Lage im Land bis dahin etwas entspannt hat. Die Aussichten dafür sind einerseits nicht so schlecht, wie Adam Corlett von „Resolution Foundation“ sagt. Er prognostiziert für 2024 eine sinkende Inflation, der Industrieverband CBI rechnet zudem für das aktuelle Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von immerhin 0,4 Prozent (zum Vergleich: Einer EU-Prognose zufolge soll Deutschlands Wirtschaft um 0,4 Prozent schrumpfen). In der Folge sollen sich die wirtschaftlichen Aussichten auf der Insel verbessern. Aber: „Die Einkommen der Haushalte mit geringerem Einkommen werden jedoch wohl weiter sinken", so Corlett.

Kelly Beaver vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos bezweifelt deshalb, dass diese Nachrichten die Wähler im Vereinigten Königreich beeindrucken werden. „Haushalte der unteren und mittleren Mittelschicht sehen nicht wirklich, dass sich das auf sie auswirkt.“ Und: „Wenn die Sorgen um die Wirtschaft nachlassen, rücken andere Dinge auf der Prioritätenliste nach oben“ – wie das nationale Gesundheits- oder das Schulsystem, und damit Bereiche, in denen es an allen Ecken und Enden fehlt.

Das Gesundheitssystem NHS steckt in der schlimmsten Krise seit seiner Gründung

Da ist der NHS. Er steckt in der schlimmsten Krise seit seiner Gründung. Legte schon im vergangenen Jahr eine große Streikwelle weite Teile des öffentlichen Lebens lahm, soll sie sich diesen Herbst fortsetzen. Ende September wollen Assistenz- und Chefärzte zum ersten Mal mehrere Tage gemeinsam ihre Arbeit niederlegen, um ein besseres Gehalt zu erstreiten; aber auch, um auf die verheerenden Verhältnisse im Gesundheitssystem aufmerksam zu machen. „Als die Pandemie den NHS traf, war die Resilienz bereits sehr, sehr gering“, betont Stuart Hoddinott von der Denkfabrik „Institute for Government“. Im vergangenen Januar warteten Menschen mit einem Schlaganfall, schweren Verbrennungen oder Brustschmerzen laut dem NHS im Schnitt 93 Minuten auf einen Krankenwagen. Die Zahl jener Engländer, die auf eine routinemäßige Behandlung in einer Klinik warten, hat gerade erst einen neuen Rekordwert erreicht.

Dann die Sache mit den Schulen. Eltern und Schulleiter reagierten geschockt auf den Skandal um „Pfuschbeton“. Anfang des Monats ließ die konservative Regierung nur wenige Tage vor dem offiziellen Unterrichtsstart mehr als 100 Gebäude ganz oder teilweise schließen. Ursprung des Problems ist die Verwendung eines speziellen Betons namens RAAC. Er ist günstiger, aber weniger robust und hat deshalb nur eine Lebensdauer von wenigen Jahrzehnten. Regelmäßige Wartungsarbeiten seien deshalb unerlässlich, betonen Experten. Diese seien jedoch nicht erfolgt oder zumindest nicht in ausreichendem Maße, sagt Gareth Davies, Leiter des National Audit Office (NAO), dem nationalen Rechnungsprüfungsamt. Das Problem sei durch „jahrelange mangelnde Investitionen“ verursacht worden. Die Beton-Krise, so sagen viele Kritiker, sei die perfekte Metapher für das zerbröselnde Königreich, das von der Tory-Regierung mehr als zehn Jahre kaputtgespart wurde.

Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, muss man Joe Cox zufolge jedoch einen weiteren Blick in die Vergangenheit werfen, bis in die 80er Jahre nämlich. Die damalige Premierministerin Margaret Thatcher sowie ihr Nachfolger John Major privatisierten viele öffentliche Unternehmen. So sollten Steuern gespart und die Effizienz erhöht werden. Die Maßnahmen zahlten sich aus, eine Weile zumindest. Langfristig brachten sie jedoch nicht den gewünschten Erfolg, wie sich mittlerweile zeigt.

Der Brand im Grenfell Tower 2017 hat viele Probleme zutage gefördert

„Das englische Wasserversorgungsunternehmen Thames Water etwa verliert knapp ein Viertel des Leitungswassers durch Lecks”, erklärt der britische Umweltjournalist Tim Smedley. Seit 1991 sei kein neuer Stausee mehr gebaut worden. „Im Gegenteil, statt in die Infrastruktur zu investieren, nahmen die Unternehmen hohe Geldbeträge auf und gaben den Großteil dann an ihre Aktionäre weiter.“ Allein Thames Water habe derzeit Schulden in Höhe von 14 Milliarden Pfund, das sind umgerechnet mehr als 16 Milliarden Euro. „Im Fall einer Insolvenz wäre die offensichtliche Lösung die Verstaatlichung. Schließlich geben selbst überzeugte Verfechter der Privatisierung zu, dass diese gescheitert ist.“

Ein Schlaglicht auf die Folgen dieser Politik warf auch das fatale Feuer im Grenfell Tower. Bei dem Brand eines Wohnturmes im Londoner Viertel North Kensington starben im Jahr 2017 mehr als 70 Menschen. „Der Brand von Grenfell war nicht unvermeidlich – es war ein Verbrechen, das durch jahrzehntelange Deregulierung, Privatisierung und die Priorisierung des Profits vor der Sicherheit verursacht wurde”, sagte Matt Wrack, der Chef der Feuerwehrgewerkschaft „Fire Brigades Union“ anlässlich des sechsten Jahrestages des Unglücks im Juni. Mitte der 1980er Jahre waren die Brandschutznormen in Wohnhäusern dereguliert und auf verpflichtende Richtlinien für die Bauindustrie weitestgehend verzichtet worden. Ein Kurs, an dem auch die spätere Labour-Regierung unter Tony Blair festhielt.

Seit Thatcher sind Sozialwohnungen überdies Mangelware. Millionen Quadratmeter erschwinglicher Wohnraum durften verkauft werden. Seitdem regelt überwiegend der Markt die Mietpreise – und diese steigen seit Jahren immer weiter.

Werden die Menschen in Großbritannien so gelassen bleiben?

Die 55-jährige Kay Ballard ist deshalb froh, dass sie in einem Sozialbau wohnen kann, auch wenn es schwierige Bedingungen sind. Seit Jahren kämpft sie darum, dass ihr Zuhause im Londoner East End modernisiert wird – bislang vergeblich. Nun will sie gemeinsam mit einigen anderen Bewohnern das Gebäude wenigstens reinigen und neu streichen – auf eigene Faust. Die einstige Postbotin und Mutter von zwei Kindern ist seit einem Unfall in jungen Jahren arbeitsunfähig und hat lange darum gekämpft, finanzielle Unterstützung zu erhalten. „Nun beschäftige ich mich, indem ich anderen helfe.“

Ob die Menschen die Situation in Großbritannien weiterhin so relativ gelassen hinnehmen werden? Ballard erinnert an die Aufstände im Jahr 2011. Der Tod eines Schwarzen durch die Londoner Polizei löste damals in mehreren britischen Großstädten heftige Krawalle von Jugendlichen aus. Tagelang zogen gewalttätige Gangs durch die Straßen, fünf Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt, Hunderte Läden geplündert. Ballard vergleicht die Situation in Großbritannien mit einem Vulkan. „Briten bleiben lange ruhig, aber manchmal kann eine bestimmte Sache plötzlich einen großen Aufstand erzeugen.“

 
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