„Können wir noch ein paar zusätzliche Fotos machen?“, fragt Kamran Ashraf und schaut skeptisch auf das Bild von sich und seiner Frau. Darauf sieht man, wie sie nebeneinander in ihrem Wohnzimmer im Norden Londons auf einem grauen Sofa sitzen. Der 46-Jährige ist beunruhigt, wie so oft. Er will immer sicher sein, dass alles perfekt, alles richtig und korrekt ist. „Für Dinge, die andere in einer Stunde erledigen, brauche ich drei“, sagt er.
Das ist nur eine von vielen Folgen der dramatischen Ereignisse, die sich vor mehr als 20 Jahren abspielten und bis heute einen dunklen Schatten auf Ashrafs Leben werfen. Der dreifache Familienvater leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Seine Frau Siema wollte sich das Leben nehmen und kämpft nach wie vor mit Depressionen. „Wir hatten nichts mehr im Griff. All unsere Träume sind zerplatzt.“
Das Buchhaltungssystem „Horizon” zeigte Defizite an, wo gar keine waren
Ashraf wurde Opfer des sogenannten "Horizon"-Skandals. Dabei handelt es sich um einen der größten Justizirrtümer in der Geschichte Großbritanniens. Das staatliche Post Office hat zwischen 1999 und 2015 Hunderte Filialleiter zu Unrecht strafrechtlich wegen Betrugs oder Diebstahls verfolgt. Grundlage waren Informationen aus dem computergestützten Buchhaltungssystem „Horizon”, das Defizite anzeigte, wo gar keine waren. Die Filialleiter wurden ruiniert, manche landeten im Gefängnis, einige nahmen sich sogar das Leben. Der Fall beschäftigt inzwischen Parlament und Premierminister.
Die Geschichte des Skandals begann vor 25 Jahren mit der Einführung des Computersystems der japanischen Firma Fujitsu. Damit sollten Betrug eingeschränkt und Kosten gesenkt werden. Softwareprobleme führten jedoch dazu, dass mehr Einnahmen registriert wurden als tatsächlich vorhanden waren – was zu unausgeglichenen Büchern führte. Als sich herausstellte, dass nicht etwa die Angestellten, sondern das Programm für die Fehlbeträge verantwortlich war, schlossen sich Betroffene zusammen, um für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu kämpfen.
Eine im Februar 2022 eingeleitete Untersuchung geht überdies der Frage nach, wer im Post-Management wann von den ungerechtfertigten Vorwürfen wusste. Paul Patterson, Chef von Fujitsu in Europa, berichtete am Dienstag, sein „Bauchgefühl“ sage ihm, dass die Mitarbeiter von den Problemen wussten. Er entschuldigte sich und räumte zum ersten Mal ein, dass sich das Unternehmen an den Entschädigungszahlungen beteiligen müsse. Zuvor hatte Paula Vennells, die ehemalige Geschäftsführerin der Post, angekündigt, sie werde ihren Titel Commander des Britischen Empire (CBE) zurückgeben.
Die Fernsehserie „Mr. Bates vs. the Post Office“ rüttelte viele Menschen in Großbritannien auf
„Obwohl der Skandal nicht vollständig aufgearbeitet ist, hat es das Thema fast nie auf die Titelseiten geschafft“, erzählt Ashraf. Erst die Fernsehserie „Mr. Bates vs. the Post Office“, die Anfang des Monats in Großbritannien ausgestrahlt wurde und die Vorkommnisse fesselnd erzählt, lenkte die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf die Vorfälle.
Im Mittelpunkt der TV-Reihe steht der walisische Postbeamte Alan Bates, gespielt vom britischen Schauspieler Toby Jones, der vor einer atemberaubend schönen Küstenlandschaft sein Postamt aufgeben muss. Innerhalb von 20 Jahren wird er zu einem hartnäckigen Kämpfer für diejenigen, die zu Unrecht ihre Existenz verloren haben.
Dabei gleicht das Drama einer düsteren Erzählung. Da ist zum Beispiel Jo Hamilton, gespielt von Monica Dolans. Sie ist in ihrer Dorfgemeinschaft beliebt und betreibt das Postamt mit angeschlossenem Café. Buchhaltung ist nicht ihre Stärke, und als die Defizite in ihrer Filiale immer größer und unerklärlicher werden, sucht sie Hilfe bei der "Horizon"-Hotline. Dort sagt man ihr, dass sich das Problem von selbst lösen werde. Schließlich verdoppelt sich das Defizit vor ihren Augen auf dem Bildschirm. Ein Horrorszenario.
Auch Ashraf und seine Frau haben die Miniserie zu Hause vom Sofa aus gesehen. „Wir waren skeptisch", sagen sie. Aber sie sei gut gemacht gewesen, auch weil die Produzenten den ohnehin dramatischen Ereignissen nicht noch mehr Drama hinzugefügt hätten. „Die Reihe hat die menschliche Seite des Skandals gezeigt“, sagt Ashraf. Seit der Ausstrahlung hätten sie viel Zuspruch erhalten. Sie vergleichen dies mit einer warmen Umarmung. Die Aufmerksamkeit komme spät, sagt er. „Aber besser spät als nie.”
Völlig überraschend wurde Ashraf zu einer Gefängnisstrafe verurteilt
Die Erlebnisse von Ashraf und seiner Frau werden im Film nicht direkt thematisiert, aber auch ihre Geschichte ist unfassbar. Die jungen Eltern hatten gerade ihr erstes eigenes Haus bezogen. Eigentlich sollte der Kauf des Postamtes im Norden Londons im Jahr 2001 der Start in ein besseres und vor allem finanziell abgesichertes Leben sein. Sie seien zuversichtlich gewesen, dass sie auf ihrem Weg viel Hilfe und Unterstützung erhalten würden. „Eines Nachts habe ich gesagt, ich hoffe, dass diese Blase nie platzt, so glücklich waren wir“, erzählt Siema. Als hätte sie bereits geahnt, dass das Glück nicht lange währen sollte.
„Wir hatten von Anfang an Probleme mit Defiziten”, erinnert sich Kamran Ashraf. Und: „Ich habe Gott weiß wie viel Zeit damit verbracht, herauszufinden, was los ist.“ Wenn er Hilfe suchte, sagte man ihm, er sei der Einzige mit diesem Problem. Immer wieder musste er auf Rücklagen zurückgreifen, um die Verluste auszugleichen. Er verlor das Vertrauen in seine Mitarbeiter und in sich selbst. Schließlich beschloss das Paar, das Postamt zu verkaufen.
Doch dazu kam es nicht. Eine erneute Prüfung ergab, dass sich ein Defizit von 25.000 Pfund, rund 29.000 Euro, angehäuft hatte. „Das war ein Schock, wir konnten uns das nicht erklären“, sagt Ashraf. Ermittler durchsuchten sein Haus, fanden aber keine Beweise. Eine Anwältin des Verbandes National Federation of SubPostmaster empfahl ihnen, sich des Diebstahls schuldig zu bekennen. Die Summe sei nicht hoch, Ashraf komme mit einem blauen Auge davon, hieß es.
Am Morgen der Urteilsverkündung im Februar 2004 verabschiedete sich das Paar voneinander, als wäre alles wie immer. „Wir sagten so etwas wie ,Wir sehen uns später'. Ich habe mir keine Sorgen gemacht“, sagt Siema. Doch dann kam alles anders. Ihr Mann wurde völlig überraschend zu neun Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt. „Als sie mich in eine Zelle des Gefangenentransporters steckten, war es, als würde ich sterben“, sagt er. „Ich war isoliert, von der Außenwelt abgeschnitten.”
Der Post-Betreiber saß zunächst im gleichen Gefängnis wie Boris Becker
Einige Wochen verbrachte er in Wandsworth, jenem heruntergekommenen viktorianischen Gefängnis in London, in dem auch Ex-Tennisstar Boris Becker einsaß. Dann wurde er in eine Haftanstalt in der Nähe von Brighton im Süden Englands verlegt. Auch nach seiner Freilassung wusste das Paar lange nicht, wie es zu dem Irrtum gekommen war. Ashraf hatte Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Schließlich war er vorbestraft.
Die Familie musste jenes Haus aufgeben, das sie vom Grundstein an mitgestaltet hatten, in eine kleine Mietwohnung ziehen und ihre Eltern immer wieder um finanzielle Unterstützung bitten. Schließlich bewarb sich der heute 46-Jährige erfolgreich um eine Stelle im Ministerium für Arbeit und Renten und arbeitete sich hoch. Zehn Jahre nach seiner Freilassung wollte das Ehepaar mit dem Geschehenen abschließen, „es ruhen lassen“.
Das änderte sich 2015 mit einer Dokumentation der BBC. Siema hatte den Fernseher eingeschaltet, dem Programm aber zunächst nur am Rande Beachtung geschenkt. Eine Frau berichtete darin, dass es in ihrem Postamt immer wieder zu unerklärlichen Engpässen gekommen sei. Ihre Neugierde war geweckt. „Ich konnte es kaum glauben.“ Das Paar stieß auf die Initiative von Bates und nahm an einem Treffen teil. „Plötzlich waren da so viele Menschen, die dasselbe erlebt hatten wie wir. Zum ersten Mal habe ich so etwas wie Erleichterung verspürt“, erinnert sich Ashraf.
Doch Teil dieser Bewegung zu sein, kostete erneut Kraft. Da Bates die Gruppe von 555 ehemaligen Postangestellten in einen Prozess gegen die Post führte, mussten Dokumente gesammelt und ausgewertet werden. Obwohl die Gruppe 2019 einen Vergleich in Höhe von 42,5 Millionen Pfund erzielte, führten die enormen Kosten des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof dazu, dass jeder Kläger am Ende eine relativ geringe Entschädigung erhielt.
Nun kündigte Premierminister Rishi Sunak ein Notstandsgesetz an
„Nachdem wir mit allen Mitteln gekämpft hatten“, wie Ashraf sagt, wurden 2021 die Verurteilungen von mehreren Filialleitern aufgehoben, darunter auch seine. „Das war wichtig für mich, weil ich endlich das Gefühl hatte, nicht mehr als Schuldiger wahrgenommen zu werden.“ Es habe ihm ermöglicht, über das Erlebte zu sprechen. Ein Experte diagnostizierte bei ihm eine mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung, die nun behandelt werden kann.
Vergangene Woche nun hat Premierminister Rishi Sunak unter dem Druck des TV-Dramas im Parlament ein Notstandsgesetz angekündigt, um auch die verbliebenen Urteile schnellstmöglich aufzuheben. Er versprach „Gerechtigkeit und Entschädigung“. Ankündigungen, die von den Abgeordneten im voll besetzten Unterhaus mit einem wohlwollenden „Yeah” kommentiert wurden.
Ein paar Tage später übte Alan Bates vor dem Untersuchungsausschuss jedoch erneut Kritik. Er bezeichnete die Fortschritte bei den Entschädigungszahlungen als frustrierend. „Die finanzielle Wiedergutmachung hätte schon längst erfolgen sollen. Es hat alles viel zu lange gedauert. Menschen leiden, Menschen sterben.“
Auch Kamran Ashraf und seine Frau Siema bleiben skeptisch. Wie für so viele Postbetreiber waren die vergangenen 20 Jahre eine Achterbahnfahrt für sie. Auf ihrem Esstisch stapeln sich die Akten, die sie dann oft bis nach Mitternacht wälzen, um weitere Ansprüche geltend zu machen. „Ich kann nicht mit dem Finger schnippen und wieder der Mensch sein, der ich einmal war“, sagt Ashraf. „Das ist erst der Anfang vom Ende.“