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Gesellschaft
"Das Internet ist für uns alle Neuland" – Merkel hat noch immer recht
Zehn Jahre ist es her, dass die Ex-Kanzlerin diesen Satz sagte – und Häme kassierte. Dabei beweist der Zustand der Medien, der Debatten, der Gesellschaft das Gegenteil.
37888862.jpg       -  Es ist das Jahr 2013, und Angela Merkel testete auch ein vermeintlich abhörsicheres Blackberry vor. Sie musste lernen: Auch vermeintliche Freunde hacken sich mit ihren Geheimdiensten gern in ihr Smartphone.
Foto: Julian Stratenschulte, dpa | Es ist das Jahr 2013, und Angela Merkel testete auch ein vermeintlich abhörsicheres Blackberry vor. Sie musste lernen: Auch vermeintliche Freunde hacken sich mit ihren Geheimdiensten gern in ihr Smartphone.
Wolfgang Schütz
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:04 Uhr

Ja, lustig war das schon. Da hat zum Beispiel die dem Zeitgeist verbundenste Radiosendung des Bayerischen Rundfunks, der „Zündfunk“, gleich eine neue Rubrik eingeführt, in der sie fortan den „Fail of the Week“ im und über das Internet präsentierte. Ein herzhaftes „Das war idiotisch!“ zur Fehlleistung der Woche also, natürlich neudeutsch hier: „Bullshit“. Und den Anlass bildend wie die Erkennungseinspielung anführend war Angela Merkels Satz damals: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Klar, hinter welchem Mond lebte, wer das 2013 noch sagte!?! All die Häme, die sich da über die offenbar doch lebensalltagsentrückte Kanzlerin ergoss … 

Nun hat der „Zündfunk“ diese Rubrik nach genau zehn Jahren kürzlich eingestellt. Nicht weil es keinen Bullshit mehr gäbe, sondern weil in Zeiten, in denen sich sowieso ununterbrochen über alles Mögliche aufgeregt wird, und sei es nur das, worüber sich andere so aufregen, da brauche es das nun eigentlich nicht mehr. Schluss mit lustig irgendwie. Aber eigentlich sollte die Abbitte noch viel weitergehen. Denn all die, die damals ihren Spott mit Merkel trieben, könnte man inzwischen längst selbst mit Lust und Bitterkeit verhöhnen. Denn so zeitgeistig-getreu sie sich damals souverän vernetzt im World Wide Web sahen, so idiotisch mutet das aus heutiger Sicht an, da sich in immer noch weiter reichenden Schritten erweist, dass das Internet immer noch Neuland ist.

Was werden künstliche Intelligenz und Metaverse aus dem Menschen machen?

Wie sich all die Bescheidwisser da 2013 gebärdeten, wäre kulturhistorisch wohl vergleichbar mit: Hätten die Siedler vor 200 Jahren in den USA bei ihrem Aufbruch gen Westen nach 100 Meilen haltgemacht und gesagt, der Rest sei ja klar, sie wüssten Bescheid, hätten die ersten Mondlander 1969 verkündet, nun habe der Mensch den ganzen Weltraum erobert. Lächerlich. 

Auch 2023 noch beginnen wir erst zu erahnen, wie was das Neuland Internet noch alles für Entdeckungen und Entwicklungen bringen wird, wie einschneidend es unsere Welt und Wirklichkeit verändern wird. Mit dem Fortschritt der künstlichen Intelligenz (KI) etwa oder der Entstehung einer virtuellen Zusatzrealität im sogenannten Metaverse. Was ist wahr? Wer bin ich?

Die Antworten auf die grundlegendsten Fragen werden sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit so schnell weiter weg von lange gewohnten Gewissheiten bewegen, dass uns das Leben vor dem Durchbruch des Internets ähnlicher dem vor der Industrialisierung erscheinen wird als dem der Gegenwart. Wenn Omas und Opas aus ihrer Kindheit erzählen, wirkt das auf die in die digitale Welt Hineingeborenen bereits heute, als hätten sie noch mit Pferden gepflügt. Und währenddessen kommen Welt, Gesellschaften und Individuen kaum mit den ersten Folgen des Aufbruchs ins Neuland klar. 

Wer könnte die Schattenseitenseiten des Internets regulieren?

Die Menschheit hatte einst einen Traum. Dass aus der (ursprünglich militärischen) Errungenschaft der vernetzten Kommunikation für mehr Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit erwachsen könnten – Meinungsbildung ohne Hierarchien, Informationen für alle verfügbar, ein Gründen der eigenen Identität in Gemeinschaft abseits von unmittelbaren Normierungen, das Finden einer Weltöffentlichkeit … eine erste Zwischenbilanz aber fällt nicht bloß ernüchternd aus, sondern lässt befürchten, dass gerade gegenteilige Entwicklungen von neuen Möglichkeiten viel stärker profitieren. 

Denn das Internet ist ein Geschäft, das in neue Dimensionen der Monopolisierung führt. Es bietet Chancen der totalen Überwachung. In ihm und seinen „sozialen Netzwerken“ geht viel mehr gegenseitige Abgrenzung viral als gemeinsame Verständigung, während die alten demokratischen Grundpfeiler von Freiheit und Gleichheit zusehends erodieren … es zeigt sich darin zwar nichts Neues am Menschen selbst, sondern nur das Bekannte in neuer Potenz – aber wer eine Rechnung aufmacht, wie viel Licht- und wie viel die Schattenseiten dabei befördert werden, wird womöglich zu keinem besonders guten Zwischenergebnis kommen. Und die Wette, dass die Möglichkeiten von KI und Metaverse die Tendenz umkehren, scheint eine mindestens gewagte. 

Auch im Netz zeigt sich: So ist der Mensch. Bis zu seinem Untergang?

Was die olle unzeitgemäße Frau Merkel vor zehn Jahren meinte, war ja: Wir verhalten uns in diesem Neuland eben noch wie Unkundige, wie in einer Art Pubertät – und wir müssen Regeln finden, dass es dort gut für uns, dass es ein besseres Leben dort wird. Denn die Möglichkeiten bestünden ja. Und das gilt ja eigentlich auch heute noch. Zumal wir inzwischen etwas mehr Erfahrung über die Gefahren gesammelt haben (könnten). Aus der heraus übrigens sogar der alte Kommunikationsidealist Jürgen Habermas folgerte: Diese neuen Möglichkeiten dienen nur wirklich Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit, wenn wir bereit sind, sie auch zu regulieren, den Hass und die Lüge zu sanktionieren. Das hieße: auch all die (höchst profitablen) Algorithmen, in denen genau diese viral gehen. 

Die Frage ist bloß: Wer sollte dazu imstande sein? Eine aus Vernunft erwachsene neue Uno des Neulands Internet, getragen von einer aus drohendem Schaden klug gewordenen Mehrheit gegen eine profitierende Minderheit? Begonnen bei: jedem und jeder Einzelne von uns selbst entgegen unserer gelockten und belohnten niederen Instinkte, inmitten all der sich dynamisierenden Herausforderungen des eigenen Alltags? 

Solange das Neuland noch nicht von der KI regiert und durch das Metaverse ersetzt ist, steht der Mensch in der Erweiterung der Möglichkeiten bloß wieder, aber eben ultimativ verschärft: vor sich selbst. Und stürzt haltlos, kopflos voran. Bislang. Wie lange noch? Bevor gar nicht mehr. Lustig ist das nicht.

 
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