Bis vor Kurzem war Gino Cecchettin ein zufriedener Familienvater und Informatiker in Norditalien. Studiert hat er in Padua, nach dem Studium baute er eine Elektronik-Firma auf. Cecchettin heiratete, bekam mit seiner Frau Monica drei Kinder. Seit zwei Jahren nun steht in der Familie Cecchettin kein Stein mehr auf dem anderen. Erst starb 2022 die Mutter nach langer Krankheit. Seit ein paar Wochen ist der Witwer wegen eines noch schlimmeren Dramas landesweit bekannt geworden. Seine zweitgeborene Tochter Giulia, 22 Jahre alt, wurde vor einem Monat Opfer eines brutalen Gewaltverbrechens.
Der Fall Giulia Cecchettin beschäftigt die italienische Öffentlichkeit seit Wochen. Ihr Tod, den ihr ehemaliger Freund Filippo T. gewaltsam verursachte, ist zu einem Fanal in Italien geworden, einem Wendepunkt in der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber Gewaltverbrechen gegen Frauen. Und diese langsame Wandlung hat nicht zuletzt mit Giulias Vater zu tun. Wer solche Schicksalsschläge erleidet, ist leicht versucht, sich Rachegefühlen und Hass hinzugeben. Nicht so Cecchettin. „Ich will lieben und nicht hassen“, sagte Giulias Vater am Sonntag in einem viel beachteten TV-Interview mit dem Moderator Fabio Fazio. „Ich habe meine Frau und meine Tochter verloren, aber ich habe auch eine Chance: laut zu schreien, dass wir alle etwas unternehmen müssen.“
Frauenhass fängt schon beim Wortschatz an
Cecchettins Schrei ist landesweit vernehmbar. Und zwar so laut, dass manche sich bereits gestört fühlen. In den sozialen Netzwerken erleidet die Familie um den Vater, Tochter Elena und Sohn Davide, Drohungen und Beschimpfungen. Wohl, weil sie nicht nur still um die Tochter und Schwester trauert, sondern die Öffentlichkeit sucht und eine Mission hat. Die Checchetins wollen Italiens Bevölkerung für die alltägliche Gewalt gegen Frauen sensibilisieren. Das gefällt vor allem Männern mit traditionellem Rollenverständnis nicht. Die Familie hat angekündigt, sich rechtlich gegen die Beleidigungen in den sozialen Netzwerken zur Wehr zu setzen.
Dem 55 Jahre alten Familienvater zufolge fängt der sublime Frauenhass schon beim Wortschatz an. Kürzlich habe er mit einem Freund gesprochen, erinnerte er sich im TV-Interview. „Lass uns von Mann zu Mann sprechen“, habe er seinem Freund gesagt und sei aufgeschreckt angesichts der eigenen Ausdrucksweise. Cecchettin sagt: „Das Patriarchat impliziert ein Konzept des Besitzes. Die Frau wird als Eigentum eines anderen betrachtet. Wir sagen zum Beispiel „meine Frau“. Das wirkt harmlos, ist es aber nicht. Sie gehört dir nicht.“
Giulia Cecchetins Ex-Freund konnte die Trennung nicht ertragen – und stach zu
Giulias Ermordung vor vier Wochen war wohl auch diesen Vorstellungen geschuldet. Ihr ehemaliger Freund Filippo, der später nach tagelanger Flucht bei Halle an der Saale festgenommen wurde, hatte die Trennung nicht ertragen. Er konnte seine Ex-Freundin nicht gehen lassen, er stellte ihr nach und tötete sie letztendlich mit Messerstichen. Giulia war der 103. Femizid des Jahres in Italien. In Deutschland ist die Quote ähnlich hoch, etwa jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch Gewalt ihres Partners oder Ex-Partners. Fast 90 Prozent aller Gewaltopfer in Partnerschaften sind Frauen.
Cecchettins Mission ist, diesen Wahnsinn zu stoppen. Alleine kann er das selbstverständlich nicht. Doch seine Worte auf der Trauerfeier in der Basilika von Padua für seine Tochter am vergangenen Dienstag drangen durch. „Frauenmorde sind oft das Ergebnis einer Kultur, die das Leben von Frauen abwertet“, sagte der Vater da. „Frauen werden Opfer derjenigen, die sie eigentlich lieben sollten. Stattdessen wurden sie schikaniert und über lange Zeit hinweg missbraucht, bis sie erst ihre Freiheit und dann auch ihr Leben verloren.“ Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man dabei bis zu den Hexenverfolgungen ins Mittelalter zurückdenkt.
Vater der getöteten Giulia appelliert an andere Eltern
Cecchettin wendet sich insbesondere an Männer. „Wir sollten als Erstes zeigen, dass wir den Wandel gegen geschlechterspezifische Gewalt vorantreiben“, sagte er. Männer sollten den Frauen zuhören und nicht den Kopf einziehen. „Unser persönliches Handeln ist entscheidend, um den Kreislauf zu durchbrechen“, mahnte Cecchettin. Als Vater appellierte er auch an andere Eltern. Sie sollten ihren Kindern beibringen, „Niederlagen zu akzeptieren“. Nötig sei ein familiäres Klima, in dem Kinder erzogen werden können „zur Achtung der Heiligkeit jedes Menschen, zu einer Sexualität frei von jedem Besitz und zu einer wahren Liebe, die nur das Wohl des anderen sucht“. Das klingt nach purem Idealismus. Aus dem Mund eines Vaters, der seine Tochter auf grausame Art und Weise verloren hat, klingt es aber auch wie ein notwendiger Auftrag.