Arthur Loibl weiß, wie es sich anfühlen muss. Die Dunkelheit in diesem Tauchboot, die Enge. Die Passagiere, die aneinandergepresst sitzen, ohne Möglichkeit aufzustehen. Arthur Loibl hat es selbst erlebt. Vor zwei Jahren war er an Bord der "Titan" und ist mit dem kleinen Tauchboot 3800 Meter hinab auf den Grund des Atlantiks, wo die "Titanic" liegt. Für Loibl, den Unternehmer und Abenteurer aus Straubing, war das damals ein ergreifender Moment, etwas, was er nach seinen Expeditionen zum Nord- und Südpol erleben wollte. An diesem Mittwoch aber sitzt der 61-Jährige da und sagt in die TV-Kamera diesen Satz: "Im Nachhinein betrachtet war das schon ein Himmelfahrtskommando."
Seit Sonntag wird genau diese "Titan", mit der Loibl vor zwei Jahren unterwegs war, vermisst. Wieder war das Tauchfahrzeug mit fünf Insassen auf dem Weg zum berühmtesten Wrack der Welt, rund 600 Kilometer vor der Küste der kanadischen Insel Neufundland. Etwa eine Stunde und 45 Minuten nach Beginn des Tauchgangs riss der Kontakt zum Mutterschiff "Polar Price" ab. Seither suchen Rettungskräfte fieberhaft nach dem verschollenen Boot. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Der Sauerstoff in der "Titan" soll für insgesamt 96 Stunden ausreichen. Und die wären am Donnerstagmittag unserer Zeit vorbei. Die Hoffnung, die "Titan" zu finden und die Insassen zu retten, schwindet mit jeder Stunde.
Für die Rettungskräfte sind die Bedingungen extrem schwierig. Das Suchgebiet ist mit 26.000 Quadratkilometern riesig – größer als die Fläche Mecklenburg-Vorpommerns. Der Atlantik ist in diesem Bereich tausende Meter tief, der Wasserdruck enorm und es dringt kaum Licht durch die Finsternis. Hinzu kommt, dass niemand genau weiß, was mit dem Tauchbootüberhaupt passiert ist. Das beste Szenario sei, wenn es sich im Wrack der "Titanic" verfangen hätte, sagte der Meeresforscher Tim Taylor dem US-SenderNBC News. In diesem Falle wäre das Boot am einfachsten zu finden. Die Theorie, das Tauchboot könne nach einem Strom- oder Kommunikationsausfall zur Oberfläche getrieben sein, scheint sich indes nicht bestätigt zu haben. Eine andere Befürchtung ist, dass der Rumpf beschädigt wurde und es womöglich ein Leck gibt. Das Boot scheint nicht aus eigener Kraft vom Meeresboden aufsteigen zu können. Es muss also vermutlich hochgezogen werden. "Auch wenn das Tauchboot möglicherweise noch intakt ist, gibt es, wenn es tiefer als 200 Meter ist, nur sehr wenige Schiffe, die so tief vordringen können, und schon gar keine Taucher", sagte der U-Boot-Experte Alistair Greig vom University College London der BBC.
Alle 30 Minuten sollen Schläge zu hören gewesen sein
Dann, am Mittwochmorgen unserer Zeit, eine Nachricht, die Hoffnung auf eine Rettung der fünfköpfigen Besatzung der "Titan" machte. Bei der Suche in der Nähe des Wracks habe ein kanadisches Flugzeug "Unterwassergeräusche" registriert, teilte die US-Küstenwache mit. Es seien so etwas wie Klopfgeräusche wahrgenommen worden. Demnach sollen am Dienstag alle 30 Minuten Schläge zu hören gewesen sein. "Zusätzliche akustische Rückmeldungen waren zu hören, die bei der Ausrichtung von Überwasserfahrzeugen hilfreich sind und auf weitere Überlebende hoffen lassen", soll es in einem internen Memo der US-Regierung geheißen haben.
Stunden später musste John Mauger, Kommandant der US-Küstenwache, die Erwartungen dämpfen. "Das ist ein unglaublich komplexes Gelände dort. Man darf nicht vergessen, dass es sich um die Wrackstelle der Titanic handelt – es gibt also eine Menge Metall und verschiedene Objekte im Wasser um diese Stelle herum." Zur Auswertung der Geräusche habe man deshalb Experten der US-Marine hinzugezogen, die in der Lage seien, solche Geräusche einzuordnen und genauere Informationen zu ihrem Ursprung zu geben. Im britischen Sender Sky News nennt Mike Welham, Spezialist für Marineeinsätze, die Geräusche zwar eine "wirklich gute Nachricht". Doch es benötige Zeit, um Spezialausrüstung und geschulte Kräfte für eine Tiefenrettung an den Einsatzort zu bringen. Die genaue Lokalisierung sei zudem ungemein schwierig: Das sei, "als würde jemand ein 50-Pence-Stück auf ein Fußballfeld legen und versuchen, es zu finden."
Arthur Loibl, der Straubinger Unternehmer und Abenteurer, sitzt am Berliner Flughafen, als ihn die "Tagesschau" zum Interview erreicht. Er sagt: "Mit jeder Stunde, die verrinnt, muss es immer grausamer werden. Ich will mir die Situation gar nicht vor Augen führen. Es muss grausam sein, was die Leute gerade mitmachen." Und dann sagt er noch: "Es muss sich da unten wirklich eine Tragödie abspielen."
Es sind nicht nur die Gedanken an das, was hätte passieren können, die Loibl jetzt durch den Kopf gehen. Zwei der Männer, die an Bord der vermissten "Titan" sind, waren auch bei Loibls Tauchgang dabei.
Der Tauchgang zur "Titanic", die seit 111 Jahren vor Neufundland auf Grund liegt, mag so etwas wie der ultimative Nervenkitzel für Abenteurer sein – gleichzusetzen wohl nur mit der Besteigung des Mount Everest oder einem Flug ins All. Etwas, das man als Abenteurer gemacht haben muss. Michael Guillen hat kein Verständnis dafür. Der Physiker war selbst im Jahr 2000 an Bord eines russischen Boots zu "Titanic" getaucht und kam in Lebensgefahr, doch der Pilot schaffte es damals, das Tauchboot, das in einem Propeller der "Titanic" festhing, wieder zu befreien. Touristen haben nach Guillens Ansicht dort nichts zu suchen. "Das ist keine Fahrt in Disneyland. Das ist Mutter Natur. Das Meer ist gnadenlos", sagte er dem Sender Sky News. "Alles wird für Touristen zugänglich gemacht und ich fürchte, wenn es um Geld geht und man mit Nervenkitzelsuchenden da draußen Gewinn machen kann, die bereit sind, das Geld zu zahlen, ist das ein Rezept für eine Katastrophe."
Acht Tage Expedition kosten 250.000 Dollar
Das Unternehmen, das hinter "Titan" steckt, heißt OceanGate Expeditions. Dessen Chef Stockton Rush, der selbst an Bord des verschollenen Tauchboots ist, betonte bei einem Vortrag im letzten Jahr, die Nachfrage sei groß. 2021 hätte OceanGate Expeditions das Wrack sechs Mal erreicht und 2022 sieben Mal. Die Kosten für die achttägige Expedition sollen bei rund 250.000 Dollar liegen.
Für Hamish Harding dürfte der "Titanic"-Tauchgang in die Kategorie günstigerer Tickets gefallen sein. Der Brite ist einer der reichsten Männer Europas, seine Biografie eine Aneinanderreihung abenteuerlicher Rekorde. Erst im Juni 2022 war er ins Weltall geflogen. Medienberichten zufolge ein rund 30-Millionen-Dollar-Vergnügen. Harding hält mehrere Guinness-Weltrekorde, darunter den längsten Tauchgang im Marianengraben, dem tiefsten Ort der Erde im März 2021. Mit an Bord sind außerdem Shahzada Dawood, ein reicher pakistanischer Geschäftsmann, und der gemeinsame 19-jährige Sohn Suleman.
Und dann ist da noch der Mann, den französische Medien "Monsieur Titanic" nennen: Paul-Henri Nargeolet. Der frühere Marinetaucher gilt als äußerst erfahrener Spezialist, wenn es um die "Titanic" geht. Mehr als 30 Mal ist er zum Schiffswrack hinabgetaucht. Nargeolet gehörte bereits der ersten Expedition im Juli 1987 an – zwei Jahre nachdem der Überseedampfer nach jahrzehntelangen Suchaktionen auf dem Meeresboden entdeckt worden war. Jedes Abtauchen verlaufe anders. "Selbst wenn Sie vier, fünf, sechs, sieben oder bis zu acht Stunden lang am Meeresgrund bleiben, wollen Sie eigentlich nicht wieder nach oben kommen", sagte er einmal in einem Interview. "Manchmal reize ich es bis zum Ende der Batterien aus, manchmal sogar darüber hinaus. Dafür bin ich mehrmals getadelt worden."
Der Forscher trägt den Spitznamen "Monsieur Titanic"
Für die französische Marine führte Nargeolet 22 Jahre lang Unterwassereinsätze durch und leitete diese. 1986 beauftragte ihn das französische Forschungsinstitut zur Nutzung der Meere, Ifremer, mit der Leitung der Tauchexpeditionen an Bord des U-Boots "Nautilus" zum Wrack der "Titanic". Später zog er in die USA und übernahm als Verantwortlicher das Programm für Tiefseeforschungen bei der US-Gesellschaft "RMS Titanic, Inc". Deren Präsidentin Jessica Sanders nannte ihn nun einen "Star, der mit seiner Meinung nicht zurückhält und der die Wahrheit sagt". Der Spezialist versuchte mit manchen Legenden um die "Titanic" aufzuräumen. So glaubte er schon sehr früh nicht an eine Kollision mit einem Eisberg, welche zu einem sofortigen Sinken des Schiffs geführt hätte, sondern ging von einem heftigen Schrammen aus, wodurch sich das Drama über zweieinhalb Stunden zog.
Während die Zeit für die Insassen immer knapper wird, kommen immer mehr Zweifel an der Sicherheit der "Titan" auf. So zitierte die New York Times aus einem Schreiben von Führungskräften der Tauchbootindustrie von 2018. "Wir befürchten, dass der aktuelle experimentelle Ansatz von OceanGate zu negativen Ergebnissen führen könnte (von geringfügig bis katastrophal)", heißt es darin. Die BBCberichtete unter Berufung auf US-Gerichtsdokumente, ein OceanGate-Mitarbeiter habe 2018 vor potenziellen Sicherheitsproblemen gewarnt. Mängel im Karbonrumpf des Boots könnten ohne strengere Tests unentdeckt bleiben, hieß es da. Auch in Deutschland sehen Experten wie der langjährige U-Boot-Fahrer Jürgen Weber die "Titan" als riskantes Gefährt an, das keinen Kontrollen unterliege und nur von außen zu öffnen sei. "Also ein eiserner Sarg", sagt der Geschäftsführer vom Verband Deutscher Ubootfahrer (VDU).
Auch Arthur Loibl erzählt in seinen Interviews Abenteuerliches von der "Titan". Stabilisierungsrohre seien mit Kabelbinder wieder angebracht worden, es habe erhebliche Probleme mit der Elektrik und den Batterien gegeben. Ob er heute noch einmal in die "Titan" steigen würde? "Aus heutiger Sicht und mit diesem U-Boot, ehrlich gesagt nein."