
"Wir haben den Blaubarsch, den Sandaal, den Steinbutt. Der Hering kommt zum Laichen zu uns." Olivier Becquet blickt aufs Meer hinaus, während er die Schätze aufzählt, die darin herumschwimmen, bevor sie ihm ins Netz gehen. "Und kennen Sie Meermandeln?"
Becquet läuft ins Gebäude der Fischer-Genossenschaft von Le Tréport, deren Vorsitzender er ist. Der Raum, in dem der Fang am Morgen sortiert wurde, ist frisch ausgewaschen, der Boden noch nass. In einer Ecke liegt eine weiß-braun gemusterte Muschel. Becquet legt sie in seine Handfläche. "Das ist eine Delikatesse. Einen Offshore-Windpark mitten in das größte Vorkommen von Meermandeln in Europa zu stellen, auf diese Idee muss man erst einmal kommen!" Empört schnauft er auf.
Frankreich: Windenergie kontra Atomkraft
Der 65-Jährige gehört zu den lautstärksten Wortführern gegen die geplante Errichtung von 62 Windrädern im Meer zwischen der normannischen Hafenstadt Dieppe und der malerischen Somme-Bucht. Das Fanggebiet der Fischer von Le Tréport liegt in dem Gebiet, das sich über 110 Quadratkilometer erstreckt. Schon 2005 begannen die Planungen, dann stockte das Projekt. Nun soll es in die konkrete Bauphase gehen, damit es ab Ende 2026 fertiggestellt ist, um pro Jahr 2000 Gigawatt zu erzeugen und damit den Energiebedarf von fast 850.000 Menschen zu decken. Im vergangenen Dezember wies der Staatsrat, Frankreichs höchste richterliche Instanz, einen Einspruch zurück. Die letzte Hoffnung der Gegnerinnen und Gegner, das Projekt zu stoppen, ruht nun auf dem Europäischen Gerichtshof.
Durch die dauerhafte Störung des natürlichen Milieus befürchte er eine "ökologische Katastrophe", aber auch schwere Konsequenzen für Le Tréport, sagt Becquet. Die Betreibergesellschaft sei nicht auf den Vorschlag eingegangen, die Zone für den Windpark etwas zu verschieben. "Laut Studien werden unsere Fischfangunternehmen 25 bis 30 Prozent ihres Umsatzes einbüßen", warnt Becquet. "Sie können sich dann unmöglich halten. Der Hafen wird leer sein!" Entschädigungszahlungen, die ihnen angeboten wurden, lehnten sie ab. "Wir wollen arbeiten, wie wir es hier immer getan haben!" 200 der 4500 Einwohner des Städtchens seien Fischer. "Sollen die jetzt alle lernen, Windräder zu bauen?"
Windkraft – was gemeinhin als Energiequelle der Zukunft gilt, ist nach Ansicht der Fischer deren Todesstoß. Und das ist nicht die einzige Energiedebatte, die das Land entzweit. Atomkraft, Nachhaltigkeit, es gibt viele Begriffe, die in Frankreich anders konnotiert sind als im großen Rest Europas. Und die zu einer vielfach sichtbaren Spaltung führen.
Der Widerstand ist in Le Tréport, das im Sommer viele Urlaubsgäste anzieht, allgegenwärtig. Im Zentrum zwischen dem Casino und einem Kinderkarussell am Strand hängt ein Schild. "Bis wann gibt es noch Fischfang und Tourismus?", steht in roter Schrift über zwei Bildern. Auf dem ersten blickt eine schwangere Frau ins Meer, über das Boote fahren. Auf dem zweiten hält sie ein Mädchen an der Hand, aus dem Wasser ragen Windräder. "Mama, wo sind die Boote?", fragt das Kind. Gegenüber diesen Szenarien verspricht die Windpark-Betreibergesellschaft EMDT die Schaffung von 1300 direkten Jobs. In den mindestens 30 Jahren, in denen der Windpark laufen soll, könnten 800 überwiegend lokale Unternehmen als Zulieferer dienen, um saubere Energie herzustellen, heißt es. Eine neue Industriebranche entstehe, neben der Atomindustrie, die im 17 Kilometer entfernten Kraftwerk Penly vielen Menschen Arbeit gebe.
2800 Kilometer französische Küste, aber kaum Windanlagen
Anders als bisher erhält die Offshore-Windkraft in Frankreich nun Unterstützung von ganz oben. Emmanuel Macron betrachtet sie als Pfeiler für die Strategie Frankreichs, bis 2050 Energieneutralität zu erlangen. Windparkprojekte in mehreren Regionen sind angelaufen, insgesamt 50 sollen es werden. Zwar verfügt Frankreichüber Küsten von 2800 Kilometern Länge, doch Windparks auf See wurden ebenso wie jene auf dem Land jahrelang vernachlässigt.
Generell herrsche in Frankreich beim Ausbau erneuerbarer Energien Nachholbedarf, sagt Andreas Rüdinger, Experte für die Energiewende bei der französischen Denkfabrik IDDRI. Als einziges Land der EU habe es 2020 seine Ziele nicht erreicht, nämlich 23 Prozent des Endenergieverbrauchs aus Erneuerbaren zu speisen. Bezogen auf den gesamten Energieverbrauch betrug allerdings auch in Deutschland der Anteil der Erneuerbaren im vergangenen Jahr nur 20,4 Prozent, gegenüber 46 Prozent im Stromsektor.
Die Kernenergie, hieß es lange, versorge Frankreich ausreichend. Mit 56 Reaktoren verfügt es über den zweitgrößten zivil genutzten Atompark der Welt hinter den USA. Zweifel an diesem Kurs waren von staatlicher Seite nie erwünscht. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 wurde im Fernsehen vermeldet, die radioaktive Wolke habe "an der deutsch-französischen Grenze haltgemacht". Heute ist bekannt, dass das eine Lüge war, aber in Umfragen befürworten immer noch drei von vier Menschen in Frankreich die Atomkraft, auch aufgrund des günstigen Stroms. Der Tarif für französische Haushalte liegt aktuell bei 20 Cent pro Kilowattstunde – in Deutschland ist er rund doppelt so hoch.
"Leider herrscht oft die falsche Vorstellung vor, dass man sich auf den Investitionen der Vergangenheit ausruhen kann", sagt Andreas Rüdinger. Dabei herrsche Konsens unter Spezialisten, dass durch die zunehmende Elektrifizierung der Ausbau aller CO2-freien Energieformen notwendig sei. "Neue AKWs sind in Planung, doch da diese nicht vor 2035, wahrscheinlich eher 2037 ans Netz gehen, werden Alternativen gebraucht", erklärt der Experte. Die Politik, allen voran das rechte Lager, schaffe oft eine Polarisierung zwischen Atomkraft und erneuerbaren Energien – als könne und müsse man nicht auf beide bauen. Die rechtsextreme Marine Le Pen versprach im Präsidentschaftswahlkampf nicht nur den Stopp aller laufenden Windkraftprojekte, sondern sogar den Abbau der bestehenden Anlagen.
Die Sozialisten, Kommunisten, selbst die Grünen sind in der Frage ebenso gespalten wie Macrons Partei Renaissance. Ein Gesetz für einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, das im Frühjahr beschlossen wurde, nennt der Spezialist "enttäuschend": "De facto wird dieses vermeintliche Beschleunigungsgesetz überhaupt nichts beschleunigen, da die Hürden bestehen bleiben." Eine einzige Person oder ein Verein könnten Projekte wohl auch künftig um Jahre verzögern.
An der Störfallübung vor dem AKW nahm nur eine Person teil
Zwischen Antrag und Fertigstellung vergehen in Frankreich im Schnitt acht bis zehn Jahre. Das schrecke potenzielle Investoren ab. Macron gehe sowohl bei Onshore- als auch bei Offshore-Projekten zögerlich voran. Umso stärker setzt er auf die Kernenergie, betreibt in Brüssel den Kampf um deren Bezeichnung als "grüne" Energieform und kündigte noch im Wahlkampf Anfang 2022 den Bau von mindestens sechs neuen Reaktoren an, mit geschätzten Gesamtkosten von 51,7 Milliarden Euro. Ein neues Gesetz zu deren Beschleunigung durch den Abbau bürokratischer Hürden beendete auch offiziell das Ziel, den Anteil von Atomstrom in Frankreich bis 2035 von mehr als 70 auf 50 Prozent zu verringern. Ausgegeben hatte es ursprünglich Macrons sozialistischer Vorgänger François Hollande.
"Die hohe Abhängigkeit von der Kernenergie ist riskant, da bei einem Reaktorpark, der im Schnitt 40 Jahre Lebenszeit erreicht, zunehmend Probleme auftreten", warnt Rüdinger. Ausgerechnet ab Winter 2021, kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, wurden Risse bei mehreren Reaktoren entdeckt. Parallel zur Energiekrise in Europa fielen zeitweise mehr als die Hälfte der 56 französischen Reaktoren aus. Ein neuer Europäischer Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville in der Normandie sollte eigentlich 2012 fertig sein und 3,3 Milliarden Euro kosten. Inzwischen liegt die Rechnung bei 19,1 Milliarden Euro. Ans Netz geht er frühestens 2024.
Mehr als die Hälfte der 56 Reaktoren fiel zeitweise aus
Die nächsten Reaktoren sollen auf den Arealen schon existierender Anlagen entstehen; die ersten beiden in Penly am Ärmelkanal, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Le Tréport. 1990 ging das dortige Atomkraftwerk an der Küste ans Netz, das sich teils hinter den für diese Region typischen hohen Kreidefelsen versteckt. Die beiden Reaktoren gehörten zu der Serie, die Risse aufwiesen. Panik brach trotzdem nicht aus. Als vor eineinhalb Jahren eine Evakuierung für den Fall eines Unfalls simuliert wurde, habe ein einziger Einwohner teilgenommen, erzählt Patrice Philippe, Bürgermeister der Ortschaft Petit-Caux, zu der Penly gehört. "Den Leuten ist das AKW nicht völlig gleichgültig, aber irgendwann vergessen sie einfach, dass es da ist." Es gebe ja auch die Vorteile: die Jobs, die es in diese strukturschwache Region bringe und hohe Einnahmen für die Gemeinde.
Er wisse um die Risiken der Kernkraft, aber die Sicherheitsstandards seien hoch, sagt der Fischer Olivier Becquet, der einen Großteil seines Lebens auf dem Meer verbracht hat. "Mit drei Atomkraftwerken und der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague erzeugt die Normandie bereits mehr Strom, als sie verbraucht." Jetzt noch der Windpark, das sei zu viel. Die Hoffnung auf einen Baustopp gibt er nicht auf. "2005 sagte man uns, vier Jahre später würden die Windräder stehen – wir haben viel Zeit gewonnen", sagt der Fischer und schaut wieder hinaus auf das Meer, das in alle Ruhe daliegt.