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Kaufbeuren
Besser kontrolliert Alkohol trinken als völlige Abstinenz zu pflegen?
Eine Studie will neue Wege in der Suchtmedizin versuchen. Doch auch Patientinnen und Patienten sehen das kritisch.
Alkoholtote       -  Die Silhouette eines Alkohol trinkenden Mannes. In Großbritannien ist die Zahl der Alkoholtoten in der Corona-Zeit drastisch gestiegen.
Foto: Arno Burgi/dpa-Zentralbild, dpa | Die Silhouette eines Alkohol trinkenden Mannes. In Großbritannien ist die Zahl der Alkoholtoten in der Corona-Zeit drastisch gestiegen.
Markus Bär
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:33 Uhr

Alkohol ist bekanntlich die Volksdroge Nummer 1. Nicht nur bei uns in Bayern, auch in ganz Deutschland. 1,6 Millionen seiner rund 82 Millionen Einwohner sind alkoholabhängig, 6,7 Millionen trinken so viel, dass man von einem schädlichen Konsum sprechen muss. Ein Ziel der Suchtmedizin ist es darum stets gewesen, Alkoholismus in den Griff zu kriegen, am besten ist dabei aus gesundheitlicher Sicht natürlich Abstinenz. Diese galt und gilt zumindest für abhängige Alkoholkranke als alternativlos. Doch nun verweist eine von der Bundesregierung bezuschusste Studie darauf, dass auch so genanntes „kontrolliertes Trinken“ ein Behandlungsziel sein könnte. Nach dem Motto: Lieber deutlich weniger trinken, als immer wieder zu versuchen, gar nichts zu trinken und damit aber, was ja häufig vorkommt, zu scheitern. Doch dies wird kritisch gesehen – auch von Betroffenen. 

"Früher zwei bis drei Flaschen Wodka am Tag"

„Ich habe es immer wieder probiert, einfach weniger zu trinken – es klappt auf keinen Fall“, sagt eine 59-Jährige gegenüber unserer Redaktion. Die Augsburgerin befindet sich zurzeit in Behandlung in der Fachabteilung für Suchtmedizin des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Die Frau geht sehr offen mit ihrer Erkrankung um. „In meinen ‚besten‘ Zeiten habe ich zwei bis drei Flaschen Wodka am Tag getrunken.“ Das schaffe sie inzwischen nicht mehr, aber „eine Flasche stecke ich immer noch weg“. Was sie aber nicht will. Denn sie weiß genau, wie sehr der Alkohol ihrem Körper zusetzt. „Ich habe dann versucht, mit einem einzigen Flachmann am Abend auszukommen – halt wirklich mit einem einzigen.“ Aber das funktioniere nicht. „Dann kommt das Wochenende und ich trinke mehr als einen. Und schon geht die Spirale von vorne los. Und binnen einem bis zwei Tagen sind alle Fortschritte dahin.“ Sie würde sich sehr wünschen, dass kontrolliertes Trinken ein Weg für sie sei. „Aber ich kenne niemandem, bei dem das geklappt hat.“

Das bestätigt auch ein Mitpatient der Frau. „Ich habe schon zwei Langzeittherapien hinter mir“, so der 42-Jährige aus dem Ostallgäu. „Auch ich habe versucht, kontrolliert zu trinken.“ Etwa mit zwei Bier am Tag. „Das hat dann vielleicht eine Woche lang geklappt.“ Doch das Problem bei der Alkoholkrankheit ist: An der Stelle, an der Nicht-Erkrankte aufhören zu trinken, geht es für den Betroffenen immer weiter. Die Dosis muss gesteigert werden. Das ist die sogenannte Toleranzentwicklung. Eines der zentralen Kennzeichen der Alkoholkrankheit. „Nach kurzer Zeit geht die Menge dann wieder rauf – bei mir bis hin zu 17 Halben am Tag.“ Und: „Da kommt man dann von allein nicht mehr heraus.“ Er habe immer wieder erlebt, dass er über Wochen mit einem Alkoholblutwert von zwei bis drei Promille den Tag bestreiten könne. Das sei für ihn aber kein Ziel. „Schlussendlich merke ich, dass es mir ohne Alkohol viel besser geht.“ Und da wolle er hin. Es würde so gern wie seine Eltern sein, die mal ein Glas Wein tränken – und dann sei es wieder gut. „Doch bei mir geht das nicht. Bei mir funktioniert nur Abstinenz.“

Warum viele Menschen Alkohol konsumieren können, ohne dass sich eine Alkoholkrankheit entwickelt – und warum das bei anderen nicht funktioniert, ist von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren und Umständen des jeweiligen Individuums abhängig, erläutert Friedrich Larsen, Oberarzt der Suchtabteilung des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. „Das Thema kontrolliertes Trinken taucht alle paar Jahre wieder auf wie ein Strohfeuer“, sagt der 43-Jährige, der seit zwölf Jahren im BKH Kaufbeuren tätig ist. Er ist – wie die Patientin und der Patient seiner Abteilung – ebenfalls davon überzeugt, dass das nicht klappt. „Wenn ich hier bei uns auf einmal kontrolliertes Trinken als Alternative anbieten würde, würde das erheblichen Suchtdruck bei den Patienten befördern – und Rückfälle auslösen. Es würde ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen.“ 

Kontrolliertes Trinken hat Vor- und Nachteile

Zwar gebe es durchaus Aspekte des Konzepts „kontrolliertes Trinken“, die aufhorchen lassen. Wer versuche, ganz ohne Alkohol auszukommen, erleidet häufig Rückfälle. Und erlebt diese oftmals als persönliche Niederlage. „Auch darum geht die Alkoholkrankheit oft mit Depressionen einher.“ Doch Friedrich Larsen sieht die Rückfallmöglichkeit beim kontrollierten Trinken ebenfalls als sehr groß an. Denn immer wieder droht der Kontrollverlust, der aufgrund der Toleranzentwicklung, also das Gewöhnen an die Substanz, zum Konsum erheblicher Trinkmengen führen kann. Mit dem Ergebnis: Auch beim kontrollierten Trinken vergrößert sich die Trinkmenge immer wieder rasch.

Er folge darum als Therapeut der Empfehlung der medizinischen Fachgesellschaften und der WeltgesundheitsorganisationWHO. Und die besagt: Das Ziel ist völlige Abstinenz. Kennzeichen der Alkoholkrankheit sind etwa: starkes Verlangen, Alkohol zu konsumieren (sogenanntes Craving), verminderte Kontrolle (es wird mehr Alkohol getrunken als geplant und es besteht der Wunsch, den Alkoholkonsum zu verringern, was aber nicht klappt), körperliche Entzugserscheinungen bei Konsumstopp, Steigerung der Toleranz (um die gewünschte Wirkung hervorzurufen, sind immer größere Mengen an Alkohol erforderlich), Einengung des Denkens auf Alkohol, anhaltender Konsum trotz gesundheitlicher und sozialer Folgeschäden (wie etwa Leberzirrhose, Verlust des Führerscheins oder des Arbeitsplatzes, Trennung des Lebenspartners, Rückzug aus dem Bekannten- und Freundeskreis). 

Die Autoren der eingangs genannten Studie, bei der 22 bereits durchgeführte Studien zum kontrollierten Trinken analysiert wurden, verweisen trotz der Kritik auf Vorteile des Konzepts. „Natürlich ist die Abstinenz schon allein wegen der geringeren gesundheitlichen Folgeschäden ein vorteilhaftes Therapieziel“, sagt Projektleiter Professor Christopher Baethge von der Uniklinik Köln. Der Psychiater gibt aber zu bedenken, dass dies für viele Betroffene ein unerreichbares Ziel ist oder eine Hürde, an der sie womöglich bereits mehrfach gescheitert sind. Ein großer Anteil der Patientinnen und Patienten traue sich das Konzept des reduzierten Trinkens eher zu als eine strikte Abstinenz. „Interessanterweise entscheidet sich ein Teil der Betroffenen im Therapieverlauf noch für das jeweils andere Therapieziel. So entschloss sich ein Drittel derjenigen, die zunächst das Ziel ,kontrolliertes Trinken‘ gewählt hatten, im Verlauf der Behandlung für das Ziel Abstinenz– das entkräftet einen wichtigen Kritikpunkt gegen das kontrollierte Trinken“, erklärt Baethge. 

Die WHO hat die Trinkmenge weiter reduziert

Doch was heißt nun das überhaupt genau – „kontrolliertes Trinken“? „Wir orientieren uns dabei an Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation“, sagt Studienautor Dr. Jonathan Henssler von der Charité in Berlin. Diese habe die empfohlenen unschädlichen Trinkmengen immer weiter reduziert. Die Empfehlung besagt: beim Mann fünf „Standardeinheiten“ pro Woche und bei einer Frau vier. Eine Standardeinheit sind hier 0,25 Liter Bier oder 0,1 Liter Wein. Hierbei könne gewährleistet werden, dass der Alkoholkonsum als nicht schädlich gelten könne. Wobei den Studienautoren klar sei, dass viele Menschen natürlich deutlich mehr trinken. Und viele von ihnen trotzdem nicht unbedingt als alkoholkrank gelten müssen. 

Im nächsten Schritt will das Forschungsteam um Baethge und Henssler seine Erkenntnisse gezielt verbreiten und diskutieren – mit Ärzten, Psychotherapeuten, mit alkoholabhängigen Menschen und ihren Interessenvertretungen, die einen Ausweg aus der Krankheit suchen. Auf Fachkongressen, so der Vorschlag von Baethge, sollten die genannten Gruppen gemeinsam Ideen entwickeln, wie Alkoholabhängigkeit künftig erfolgreicher therapiert werden kann. So könnten am Ende mehr Betroffene von einer Behandlung profitieren.

 
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