
Da kommen sie raus aus dem Gerichtssaal. Er wie immer – blauer Anzug, Krawatte, aufrechte Haltung; seine Ehefrau im schwarzen Hosenanzug, an der Handtasche diesmal ein grüner Schulterriemen mit dem Aufdruck "STAY STRONG", bleib stark. Grün ist ja die Hoffnung, wieder große stumme Symbolik, und jetzt hat sie gesiegt, die Hoffnung. Und alle können es sehen. Gerade hat das Ehepaar Andreas und Gabriele R. im Großen Saal des Stuttgarter Landgerichts an diesem Freitagmittag gehört, was bei vielen Zuschauern ungläubige Reaktionen auslöste: Einen Freispruch für Andreas R., den freigestellten obersten Polizeibeamten Baden-Württembergs, vom Vorwurf der sexuellen Nötigung.
Und nicht nur das: Die eineinhalbstündige Urteilsbegründung, mehrfach unterbrochen von lautem Protest oder Unmutsäußerungen der Zuhörer, war nicht nur eine klatschende Ohrfeige für die Nebenklägerin, die heute 34-jährige Polizeibeamtin, die den Vorwurf gegen Andreas R. aufgebracht und damit die ganze Polizeiaffäre des aufsehenerregenden Verfahrens und einen Landtags-Untersuchungsausschuss überhaupt erst in Gang gebracht hatte. Der Vorsitzende RichterVolker Peterke, der gemeinsam mit einer jungen beisitzenden Richterin und zwei Schöffinnen zu dem Urteil kam, teilte eine ganze Reihe von klatschenden juristischen Ohrfeigen in Richtung der Nebenklägerin aus. Eine um die andere zertrümmerte die Version der Beamtin, zerlegte ihre Aussagen restlos, erklärte praktisch alles als unglaubwürdig oder nicht relevant für den Tatvorwurf, was an Zeugenaussagen oder Deutungen für die Version der Nebenklägerin hätte sprechen können. Nachdem die Videoaufnahmen aus der Kneipe in der Nacht aufgetaucht waren, habe die Nebenklägerin ihre ursprüngliche Aussage verändert, und auch die Aussage sei nicht mit den Videos in Übereinstimmung zu bringen gewesen. War das alles erfunden? "Nein. Aber dass die Darstellung verzerrt oder übertrieben war, dafür gibt es aus unserer Sicht sehr gute Anhaltspunkte", so Peterke.
Andreas R. soll der Polizistin seinen Penis in die Hand gedrückt
Was übrig blieb, reichte aus Sicht des Gerichts bei weitem nicht für eine Verurteilung. Am Ende steht ein Mangel an tragfähigen Beweisen. "Es kann durchaus sein, dass er sie sexuell genötigt hat. Die Aussage kann wahr sein. Es kann aber kein zweifelsfreier Beweis geführt werden. Der Angeklagte ist deshalb freizusprechen." Knackpunkt für das Gericht dabei: Das Verhalten der Polizeibeamtin nach dem entscheidenden Punkt in der Nacht vom 12. auf den 13. November 2021. Nach einer Sektrunde im Innenministerium, an der die im Aufstiegsverfahren für den höheren Dienst befindliche Beamtin im Zimmer des damaligen Inspekteurs Andreas R. war, der für sie als Mentor fungieren sollte, war man schließlich zu zweit in einer Kneipe gelandet, hatte weiter Alkohol getrunken, über Stunden Zärtlichkeiten ausgetauscht. Das ist über Stunden per Überwachungsvideo dokumentiert.
Bei einem kurzen Gang nach draußen soll Andreas R. ihr seinen Penis in die Hand gedrückt und dabei uriniert haben – der Kern des Vorwurfs sexueller Nötigung. Nahm er ihre Hand? Hielt er sie fest? Agierte sie aktiv und freiwillig? Darüber steht Aussage gegen Aussage – vielmehr: Es gibt dazu nur ihre Aussage. Eine Erklärung dazu, die Andreas R. seinen ersten Anwalt hatte verfassen und dem Gericht vorlegen lassen, ist nicht prozessverwertbar, weil Andreas R. später sein Verteidigungsteam auswechselte. Sie habe sich geekelt, sagte die Nebenklägerin, habe spätestens dann nicht mehr gewusst, wie sie sich der Situation entziehen sollte, nachdem ihr Andreas R. von seinen sexuellen Vorlieben für urinierende Frauen berichtet haben soll.
Sie hatte, so schilderte sie es später, Angst um Nachteile bei ihrer Karriere. Das Gericht aber sah auf den Videos auch nach der Rückkehr der beiden in die Kneipe auf den Videos nur ein "einvernehmlich schmusendes Pärchen" und "keine Spur von Ekel" bei der Polizeibeamtin. Dass sie betrunken gewesen sei, er sie gar mit der Absicht, den Abend in sexuellem Kontakt enden zu lassen, betrunken gemacht habe? "Ausgeschlossen", so das Gericht, zwischen 0,0 und 0,1 Promille, maximal aber 0,9 Promille habe man für sie nachgerechnet. "Sie wirkt nach der Rückkehr in die Kneipe völlig entspannt, macht sogar eine witzige Geste ihm gegenüber", so der Richter. "Wir sehen keine sexuelle Nötigung. Wir haben sexuelle Handlungen gesehen, Zungenküsse und Streicheln, sehr ernsthafte sexuelle Handlungen. Die erfolgten aber aus unserer Sicht im Einverständnis mit dem Opfer. Wir haben keine Lage festgestellt, in der dem Opfer bei Widerstand empfindliches Übel droht."
Freispruch für Polizeiinspekteur: Das Gericht glaubt der Zeugin nicht
Zu dieser Version sei die Nebenklägerin erst am nächsten Tag gekommen – nachdem sie in der Nacht ihrem verheirateten Ex-Freund Volker B. von der Knutscherei mit Andreas R. berichtet hatte, dieser "rasend eifersüchtig" gewesen sei und sie hoffte, den verheirateten Polizeibeamten, der sich von ihr zugunsten seiner Familie getrennt hatte, wieder für sich gewinnen zu können. Als Volker B. einem Bekannten im Innenministerium davon erzählte, hätten beide auf die Beamtin eingewirkt, den Vorfall zu melden – und so erst alles ins Rollen gebracht.
Die Zeugin, die über Andreas R. aussagte, er habe sie 2019 in einer Kneipe angesprochen und dazu bringen wollen, draußen auf sie zu urinieren? "Wir glauben ihr nicht", so das Gericht, "bestenfalls hat sie übertrieben, vielleicht wollte sie sich nur wichtigmachen." Ein Zeuge, der auf dem Tablet seiner Freundin Nacktfotos und -videos von Andreas R. fand, die diesen beim Urinieren zeigten? "Diese Videos liegen nicht vor", so das Gericht, und im Übrigen habe der Zeuge ein Eifersuchtsproblem gehabt. Ein späteres, von der Beamtin mitgeschnittenes Skype-Telefonat, in dem Andreas R. die Aufnahme einer sexuellen Beziehung fordern soll? Vom Gericht nicht gewichtet. Dass Andreas R. nach seiner Freistellung vom Dienst sein privates Handy vernichtete? Für das Gericht nicht relevant. Am Ende hat RichterPeterke noch eine Botschaft an die Öffentlichkeit: "Es ist wichtig, dass wir mit diesem Urteil Opfer von Sexualstraftaten nicht davon abhalten wollen, diese zu melden, sondern sie im Gegenteil dazu ermutigen wollen."
Es sei aber auch wichtig, Sachverhalte so zu berichten, wie sie tatsächlich waren. Aus dem Gerichtssaal erntet Peterke dabei lautstarkes Gelächter. Wie die Nebenklägerin, wie im gesamten Prozess beim Urteil hinter einer Sichtwand verborgen, den Gerichtsspruch aufnahm? Dazu wollte sich ihr AnwaltHolger Rohne im Anschluss nicht äußern. "Uns war wichtig, dass es ein rechtsstaatliches Verfahren gibt", sagt Rohne. "Der Strafprozess folgt seinen eigenen, strengen Regeln. Sie führen oft dazu, dass ein Urteil gesprochen werden muss, das das tatsächliche Geschehen nicht abbildet." In jedem Fall habe die Hauptverhandlung aber offengelegt, um wen es sich bei Andreas R. handele: "Wir haben es mit einem Beamten zu tun, dessen persönlicher und beruflicher Lebensweg davon geprägt ist, den Kontakt zu jüngeren Frauen zu suchen und der nicht davor zurückschreckt, den ihm anvertrauten Einfluss und Macht pflichtwidrig auszunutzen".
Andreas R. verlässt den Gerichtssal mit seiner Frau
Für ihn ist der Fall nicht erledigt – im Falle des Skype-Telefonats könnte die Staatsanwaltschaft aus seiner Sicht erneut gegen Andreas R. aktiv werden und eine Anklage auf Bestechung verfolgen, der Vorwurf: sexuelle Gefälligkeit gegen Karrierehilfe einzufordern. Die Mutter der Nebenklägerin aber verfolgte im Saal Urteil und Begründung mit versteinerter Miene, an ihrer Schulter trostsuchend den Kopf einer jungen Frau mit Sonnenbrille, wohl die Schwester der Nebenklägerin.
Ob Staatsanwaltschaft und Nebenklage Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen, muss innerhalb der nächsten acht Tage entscheiden werden. Unabhängig davon sieht Andreas R. aber in jedem Fall nach Rechtskräftigkeit des Urteils einem Disziplinarverfahren entgegen. Dass seine Rückkehr in das Amt des höchsten Polizeibeamten Baden-Württembergs angesichts der bekannt gewordenen Fälle praktisch ausgeschlossen ist, hatte Innenminister Thomas Strobl (CDU) noch unlängst im Landtag gesagt. Nach dem Freispruch ist mit einer Entlassung von Andreas R. aus dem Beamtenverhältnis allerdings kaum zu rechnen. Im Disziplinarverfahren ist eine Rückstufung möglich. Ob und auf welchem Posten und wann sich Andreas R. künftig wieder im Dienst des Landes und des Innenministeriums wiederfindet, gehört zu den vielen offenen Fragen nach diesem Prozess.
Dennoch wirkt Andreas R., der am Morgen vor dem Gerichtsgebäude noch rastlos hin und hergewandert war, beim Verlassen des Gerichtssaals um Zentnerschwere erleichtert. Der Anflug eines Lächelns liegt auf seinem Gesicht. Hand in Hand drückt sich das Ehepaar hinter der Durchleuchtungsschleuse an dem Medienrudel vorbei. Vor den Kameras und Mikrofonen hat sich derweil mit kaum verhohlenem Triumphgestus seine Anwältin Ricarda Lang aufgebaut. "Sagen Sie nichts", ruft sie ihrem Mandanten noch hinterher, "die schreiben sowieso, was sie wollen." Schneidend erklärt sie den Medienvertretern: "Ich möchte sagen, dass der Angeklagte unschuldig ist, das habe ich bereits am ersten Tag gesagt und das hat jetzt ein Gericht festgestellt", und sie lässt sich in ihrer Deutung auch nicht beirren, als sie drauf hingewiesen wird, dass das Gericht nicht die Unschuld von Andreas R. feststellte, sondern vielmehr einen Freispruch aus Mangel an Beweisen aussprach. "Schreiben Sie ruhig weiter, Sie können Herrn R. ruhig weiter diskreditieren und Ihre eigenen Wahrheiten schreiben, obwohl Sie hier was ganz anderes gehört haben", sagt Lang.
Diese Sicht bleibt wiederum die eigene Wahrheit der Verteidigerin, die vom ersten Tag an aggressiv Kurs darauf genommen hatte, die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin zu zertrümmern – und nach dem Urteilsspruch steht fest: mit Erfolg.