Toni besucht ihre Tafel an diesem regnerischen Sommertag mit zweien ihrer drei Kinder. Mit dabei hat sie einen schwarzen Einkaufstrolley. Darin verstaut sie die Waren, die sie in der "Food Bank" erhält, wie man die Tafel hier nennt. Es sind vorwiegend haltbare Lebensmittel: Reis, Nudeln sowie Gemüse und Fleisch in Konservendosen. "Es ist nicht schön, um Hilfe bitten zu müssen", sagt die 42-Jährige mit leiser Stimme und gesenktem Blick. Aber es bleibe ihr nichts anderes übrig.
Wie ihr geht es immer mehr Menschen in Großbritannien. Nach Angaben der Wohltätigkeitsorganisation Trussell Trust, zu der die Tafel im Londoner Stadtteil Stoke Newington gehört, wurden zwischen April 2022 und März 2023 im Land fast drei Millionen Notfallpakete ausgegeben, mehr als jemals zuvor. Die Lage in London ist besonders prekär.
Die Schere geht immer weiter auseinander
Die Tafel in Stoke Newington findet wöchentlich in der St. Mary's Church statt. Mit ihren Türmen und Erkern ist die am Rande eines Parks gelegene Kirche im Bezirk Hackney typisch für den neugotischen Stil, der im 19. Jahrhundert in Großbritannien besonders beliebt war. Das viktorianische Zeitalter war von einer Aufbruchstimmung, aber auch von Unsicherheit und sozialen Gegensätzen geprägt. Schon damals sagte Premierminister Benjamin Disraeli, dass das Land "in zwei Nationen geteilt" sei: "In Arm und in Reich."
Dies ist ein Ruf, dem das Königreich nun erneut gerecht wird. Offiziellen Statistiken zufolge leben dort rund 14,5 Millionen Menschen in Armut. Das entspricht 22 Prozent der Bevölkerung. Eine Analyse der Denkfabrik Resolution Foundation ergab, dass die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Großbritannien zwar vermögender sind als die in vielen anderen europäischen Ländern, jene mit mittlerem Einkommen jedoch neun Prozent ärmer als in Frankreich. Und die ärmsten fünf Prozent auf der Insel haben sogar rund 20 Prozent weniger Mittel zur Verfügung als die entsprechende Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Die Schere geht also immer weiter auseinander.
Die 56-jährige Michelle, die im "Second Chance Café" in der Kirche, wo kostenlos oder gegen eine Spende eine warme Mahlzeit ausgegeben wird, ehrenamtlich tätig ist, beschreibt die Stimmung insbesondere seit der Corona-Pandemie als besonders bedrückend und angespannt. Nicht nur aufgrund der Armut, sondern auch wegen der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. "Wenn ich vor einem teuren Bio-Supermarkt wohnsitzlose Menschen betteln sehe, beschreibt das für mich die Lage am besten", sagt sie. Es sei die Kluft zwischen Arm und Reich, die jene Menschen, die jeden Pence zweimal umdrehen müssen, wütend macht und verzweifeln lässt. "Viele haben die Pandemie im Überlebensmodus hinter sich gebracht. Nur danach wurde es einfach nicht besser", sagt sie. "Wenn das System nicht funktioniert, zerstört dies auch die Menschen."
Die britische Inflationsrate liegt noch immer bei etwa acht Prozent
Der Grund für die Situation in Großbritannien ist auf den ersten Blick derselbe wie überall in Europa: Die gestiegenen Lebenshaltungskosten und Energiepreise haben dazu geführt, dass den Bürgerinnen und Bürgern das Geld ausgeht. Erschwerend hinzu kommt aber die schlechtere Ausgangslage auf der Insel. Die Inflationsrate liegt auch durch die Folgen des Brexits, anders als in vielen Ländern Europas, immer noch bei knapp acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr, obwohl Premierminister Rishi Sunak versprochen hatte, sie schnell zu senken. Um die Preisspirale zu stoppen, hat die Bank of England die Leitzinsen erneut erhöht, was auch Hypothekenzinsen weiter steigen ließ – auf den höchsten Wert seit 15 Jahren.
Laut einer neuen Studie von Resolution Foundation hat diese Entwicklung zum größten Rückgang des britischen Haushaltsvermögens in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Am härtesten getroffen werden davon wie so oft jene, die ohnehin wenig zur Verfügung haben. "Die staatlichen Leistungen reichen mittlerweile selbst für Erwerbstätige nicht mehr aus", sagt Isabel Taylor von der Joseph Rountree Foundation unserer Redaktion. "Weil die Zuschüsse nicht mit der Inflation Schritt halten, ist der reale Wert der Sozialleistungen immer weiter gesunken." Großbritannien ist im Vergleich zu anderen einkommensstarken Ländern weniger großzügig, seitdem die Sozialleistungen unter der früheren Regierungschefin Margaret Thatcher drastisch gekürzt wurden. Zudem ist die Beantragung der Hilfen oft sehr kompliziert und langwierig. In der Folge nimmt der Druck auf die Menschen immer weiter zu.
Das spürt auch Toni. Sie zählt die Rechnungen auf, die sie begleichen muss: Miete, Strom, Wasser, das Mobiltelefon. Die Liste ist lang. "Danach habe ich oft nur noch 86 Pfund für den Rest des Monats übrig", sagt sie. Das sind umgerechnet knapp 100 Euro. Von diesem Geld kauft sie dann meist frische Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder Milch. Um zu sparen, habe sie mittlerweile viele Strategien, erzählt sie. Sie teile Waschmittel-Tabs auch mal in zwei. Bislang habe sie verhindern können, dass ihre Kinder zu wenig zu essen haben. Sie selbst habe jedoch schon gelegentlich hungern müssen, sagt die alleinerziehende Mutter.
Eine Expertin sagt: "Kinderarmut ist die hässliche Seite Londons"
Oft genug sind es jedoch die Kinder, die besonders leiden. Isabel Taylor nimmt die Ergebnisse einer Studie der Loughborough University zur Hand. Hackney ist auf einer London-Karte dunkellila eingezeichnet – dies zeigt die schlechteste von sechs möglichen Kategorien an. Demnach lebt in dem Bezirk fast die Hälfte der Kinder nach Abzug der notorisch hohen Wohnkosten in der Metropole in Armut. Taylor begründet dies überdies mit den Regeln der als Universal Credit bekannten Sozialhilfe. Demnach erhalten Familien nur bis zum zweiten Kind mehr Geld; vergrößert sich die Familie weiter, bleibt der Betrag gleich. Diese Vorgaben träfen Familien hart, so Taylor. "Kinderarmut ist die hässliche Seite Londons", sagt Alison Garnham, Chefin der Organisation Child Poverty Action Group. Ein Drittel bekomme nicht das, was zum Großwerden nötig sei – "und diese Zahl wird noch steigen, wenn die Regierung weiterhin die Augen vor der Tatsache verschließt, dass Familien nicht genug zum Leben haben".
Neue Untersuchungen der Wohltätigkeitsorganisation Shelter belegen zudem, dass in England mindestens 271.000 Menschen obdachlos sind. Die freiwilligen Helfer in Stoke Newington wissen um die Lage. "Ich war selbst wohnsitzlos und habe überdies mit vielen Menschen gesprochen, die auf der Straße gelandet sind und weiß deshalb, dass es jeden treffen kann", sagt die 55-jährige Esther Nelson, die im "Second Chance Café" in der Küche mit anpackt. Die Zahl der Menschen, die in provisorischen Unterkünften leben, ist laut Shelter in den vergangenen zehn Jahren um 74 Prozent gestiegen. London schneidet dabei am schlechtesten ab: Einer von 58 Menschen ist obdachlos. "Weil die Mieten seit der Pandemie drastisch gestiegen sind, ist es für Menschen, die Wohngeld beziehen, fast unmöglich geworden, eine bezahlbare Unterkunft zu finden”, erklärt Taylor. Außerdem sind Sozialwohnungen Mangelware und die Wartelisten lang.
Hart ist die Situation auch für kranke Menschen wie Hatice aus Hackney. Die 63-Jährige leidet seit einigen Jahren an Krebs und muss sich besonders ausgewogen und vitaminreich ernähren. Deshalb verbringt sie oft Stunden in den Schlangen vor Tafeln in ihrer Umgebung, um auch Gemüse und Obst zur Verfügung zu haben, aus denen sie sich dann in ihrer Küche mit einem großen Mixer Säfte und Smoothies zubereitet. "Ich war deshalb oft sehr früh unterwegs, das war ausgesprochen anstrengend", sagt sie und betont, dass die Hilfe durch die Tafeln zwar wichtig, die dort angebotenen Lebensmittel aber oft eben nicht gesund genug seien. "Wir können uns nicht nur von Dosen ernähren."
Es kehren Krankheiten des 19. Jahrhunderts zurück
Britische Ärzte machten kürzlich darauf aufmerksam, dass die Lebenshaltungskostenkrise tatsächlich zu einem Anstieg "viktorianischer" Krankheiten wie Skorbut und Rachitis geführt habe. Tausende Menschen in England sind Recherchen der Tageszeitung The Timeszufolge im vergangenen Jahr wegen Unterernährung ins Krankenhaus eingeliefert worden, immer mehr Kinder werden wegen Zahnproblemen behandelt. "Hier geht es nicht um das Gesundheitssystem, sondern um sozial bedingte Krankheiten, die eine Folge der Sparmaßnahmen der letzten 15 Jahre sind", warnt Clare Gerada, Präsidentin des Royal College of General Practioners, einem Berufsverband für Allgemeinmediziner.
"Viele Menschen essen bei uns ihre einzige warme Mahlzeit der Woche”, erzählt der 30-jährige Max Mucenic, der das "Second Chance Café" seit einigen Monaten leitet. Am Tag servieren die Mitarbeiter den Gästen bis zu 100 Mahlzeiten, vorwiegend Suppen, hergestellt aus gespendetem Gemüse. Dabei sei es ihm wichtig, dass sich die Gäste wohlfühlen. Sie werden bedient, auf den Tischen stehen kleine Sträuße, die von einem lokalen Blumenladen gespendet wurden. Die Besucher können anonym etwas für die Mahlzeit bezahlen oder auch nicht. Damit ist das Café auch ein Ort der Begegnung.
Toni denkt darüber nach, bald ebenfalls mal eine Suppe dort essen zu gehen. An diesem Julitag macht sie sich jedoch direkt auf den Weg nach Hause, um aus den Lebensmitteln der Tafel ein Abendessen für sich und ihre Kinder zu kochen.