zurück
Lesetipp
Hommage an den Arbeitsweg: Warum kein Homeoffice auch gut ist
Wer in die Arbeit fährt und wieder zurück, schafft nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Warum das wichtig ist.
Sonnenaufgang in der Region Hannover.jpeg       -  Mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder zurück – das kann guttun.
Foto: Julian Stratenschulte, dpa | Mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder zurück – das kann guttun.
Laura Gastl
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:54 Uhr

Ein langer Arbeitstag neigt sich dem Ende zu. Tief durchatmen, den Computer ausschalten, im Stuhl zurückrollen. Aufstehen – und, zack, sich innerhalb einer Millisekunde im eigenen Wohnzimmer wiederfinden. Dort, wo acht Stunden am Tag eben auch das Büro ist. Das Gebäude oder gar den Raum verlassen, um zu Hause anzukommen? Nicht nötig. 

So oder so ähnlich sieht das Ende des Arbeitstages vieler aus, seit Anfang 2020 mit Corona das Homeoffice normal wurde. 24,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeiteten 2022 zumindest gelegentlich von zu Hause aus, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Aber tut das überhaupt gut, dort dem Beruf nachzugehen, wo man auch wohnt? Ohne Zeit, den Job hinter sich zu lassen, den Tag zu reflektieren – und eine gewisse Strecke als Puffer zu haben, um Arbeits- und Privatleben voneinander zu trennen?

Heilsam: Auf dem Heimweg den Arbeitstag reflektieren

Dieser Text ist eine Hommage an den Heimweg. Oft gilt er als stressig und als Dieb wertvoller Zeit, die man – wäre man doch im Homeoffice geblieben – anders hätte nutzen können. Um ihn ja kurzzuhalten, ziehen viele um, wenn sie den Job wechseln. 30, 40, 50 Minuten einfach, was ist tragbar, was zu viel? 

"20 bis 30 Minuten sind ideal", sagt Niko Kohls, Medizinpsychologe an der Hochschule Coburg. Dabei über den Tag nachzudenken, könne sehr heilsam sein. Er selbst hat mit dem Auto einen kurzen Weg. Darum bleibt er gerne noch ein paar Minuten sitzen, macht eine Bauchatmung, ja synchronisiert sich neu, bevor er zur Familie hineingeht. "Einfach, um die Erlebnisse des Tages – vielleicht habe ich mich geärgert, vielleicht denke ich über irgendetwas intensiv nach – ein Stück weit draußen zu lassen." 

Nachvollziehbar: Nach dem Computer muss der Kopf heruntergefahren werden. Der Arbeitstag passiert Revue, wird selektiert und verarbeitet. Was habe ich heute geschafft? Eigentlich war ich ja ganz produktiv. Nett, dass der Kollege Kuchen mitgebracht hat, ich muss ihn unbedingt nach dem Rezept fragen. Und was gibt's gleich zum Abendessen? Im Kühlschrank stehen noch die Nudeln von gestern. Während einer 20-minütigen Busfahrt etwa gleitet die Gedankenwelt sanft vom Arbeits- ins Privatleben. 

In manchen Branchen und an manchen Tagen ist es aber nicht nur belangloser Büro-Alltag, den man hinter sich lassen möchte. Kohls erinnert sich an eine ehemalige Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation, die ihm einmal erzählte, wie sie schwierige Situationen – wenn etwa ein Kind verstorben war – hinter sich ließ. Auf ihrem halbstündigen Heimweg auf der Autobahn legte sie eine Ausfahrt als Fixpunkt fest und sagte sich: "Bis dahin kannst du darüber nachdenken und traurig sein. Doch ab dieser Ausfahrt beginnt – auch räumlich gesprochen – dein Privatleben, und dann versuchst du loszulassen." Ihr fiel es so leichter, Abstand zu gewinnen. Sie hatte bewusst eine längere Strecke zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause in Kauf genommen, um trennen zu können.

Im Homeoffice gibt es oft keine klare Trennung zwischen beruflich und privat

Den Tag verdauen, langsam runterkommen – das kann unterwegs nur klappen, wenn diese Zeit auch als entspannend wahrgenommen wird. Staus oder S-Bahn-Ausfälle tragen nicht gerade dazu bei, an dieser Stelle spricht Kohls von „externen Störfaktoren“: Also von Umständen, die man selbst nicht beeinflussen kann. Verspätet sich der Zug mal wieder, ist man schnell dabei, sich zu ärgern. Ein Stück weit ließe sich laut Kohls jedoch beeinflussen, wie der Heimweg wahrgenommen wird, "indem ich die Perspektive verändere". Wer nach Feierabend keine Termine mehr hat, kann auf der Heimfahrt mit dem ÖPNV womöglich trotzdem entspannen. Die Zeit nutzen, um zu lesen, oder sich mit einem Anruf mal wieder bei den Eltern zu melden.

Doch auch unmotorisierte Wege führen nach Hause – auf dem Rad oder zu Fuß etwa. Niko Kohls erzählt von einem Kollegen, der bei Wind und Wetter laufe. "In Bewegung hat er die besten Ideen", sagt der Medizinpsychologe. Daneben tut die frische Luft gut.

Man kann also viel Positives finden an so einem Nachhauseweg, der trotz allem im besten Fall "nicht über eine halbe Stunde hinausgehen sollte", wie der Medizinpsychologe sagt. Das trage "in der Summe" dann doch zu einer geringeren Lebensqualität bei. Für diejenigen, die jetzt also im Homeoffice bleiben, eben weil der Weg sehr weit ist, oder weil man lieber in Ruhe statt im Großraumbüro telefoniert, oder weil es manchmal einfach bequemer ist: Empfiehlt sich da ein Ersatzprogramm? Ja, sollte man den Heimweg vielleicht sogar simulieren?

Der Weg in die Arbeit und wieder nach Hause hat seine Vorzüge

"Ein Ortswechsel tut den Menschen gut", sagt Niko Kohls dazu. Er empfiehlt deshalb, in der Pause oder nach der Arbeit einmal um den Block zu gehen oder eine Runde zu joggen. Hört man sich im Bekanntenkreis um, haben die Menschen ganz unterschiedliche Wege gefunden, um nach dem Tag am heimischen Schreibtisch runterzufahren: erstmal duschen, die Spülmaschine ausräumen, mit dem Hund rausgehen. Oder die "Feierabend-Playlist" hören – jeden Abend die gleiche Musik kann ein Signal fürs Abschalten sein.

Ja, seit Corona hat sich viel verändert im Berufsalltag von zu Hause aus und damit auch in den Routinen des anbrechenden Feierabends. Das Homeoffice hat einen Aufschwung erlebt und ist geblieben, zumindest gelegentlich. Aber man hört auch von Unternehmen, die zum herkömmlichen Büro zurückkehren wollen. Da ist es doch erst recht an der Zeit, die Arbeit vor Ort und die damit verbundene Strecke zu schätzen. Vielleicht sollte man also nicht jede Minute aufwiegen und als verloren betrachten. Einen Podcast hören oder schlichtweg in den eigenen Grübeleien versinken – das kann schön sein. Und manchmal hat das Pendeln den gleichen Effekt wie unter der Dusche zu stehen – es kann einen auf ganze neue Ideen bringen. Der Heimweg hat doch seine Vorteile, ich sollte ihn mehr schätzen … darüber könnte ich ja mal einen Artikel schreiben.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Berufsalltag
Büro-Leben und Büro-Alltag
Eltern
Hochschule Coburg
Home-Office
Statistisches Bundesamt
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen