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München
Dieser Mann kennt fast alle Geheimnisse der Tierwelt
Selbst Schnecken sind sympathisch, wenn Gerhard Haszprunar von ihnen spricht. Er leitete 27 Jahre Bayerns Zoologische Sammlung. Für uns öffnet er die heiligen Hallen.
Zoologische Sammlung München.jpeg       -  Zu Besuch bei Gerhard Haszprunar, dem langjährigen Leiter der Zoologischen Sammlung in München, der jetzt in den Ruhestand gegangen ist.
Foto: Ulrich Wagner | Zu Besuch bei Gerhard Haszprunar, dem langjährigen Leiter der Zoologischen Sammlung in München, der jetzt in den Ruhestand gegangen ist.
Sarah Ritschel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:10 Uhr

Zum Schluss geht Gerhard Haszprunar noch einmal hinunter ins Magazin, in dem er den Großteil seines Forschungslebens verbracht hat. Dorthin, wo die Weichtiere lagern, die Tintenfische in Alkohol, die Mikroorganismen vom Meeresboden. Hier unten bei den Tiefseetieren fühlt der 66-Jährige sich heimisch. Hier stapeln sich seine Veröffentlichungen, verschlagwortet unter dem Kürzel "Haszi", manche sind schon etwas vergilbt und zeugen von einer Jahrzehnte währenden Wissenschaftskarriere.

Gerhard Haszprunar war Hüter der Zoologischen Staatssammlung

Tausende Weichtiere hat er selbst katalogisiert. "Was ich geforscht habe, ist relativ unanschaulich", er lacht fast ein wenig entschuldigend. "Ich habe sehr viel mit Mikromollusken gearbeitet, mit Kleinstschnecken, alle so zwei Millimeter klein und darunter." Die spektakulären Präparate stehen in anderen Abteilungen des Hauses: die größten Falter der Welt, Käfer so groß wie Torwarthandschuhe, längst ausgestorbene Riesenpinguine.

Jahrzehntelang war Gerhard Haszprunar der Hüter all dieser Tierarten. Über 27 Jahre hinweg war er Direktor der Zoologischen Staatssammlung in München. Mehr als 23 Millionen Objekte liegen, stehen und hängen präpariert in den lichtgeschützten und staubgefilterten Räumen halb unter der Erde. Draußen sind Hunderttausende verschwunden, seit der Biologieprofessor in den Neunzigern hier angefangen hat. "Wir rechnen mit 20.000 Arten, die pro Jahr aussterben. Die meisten haben wir gar nie kennengelernt", erklärt er. 

Auch Nacktschnecken sind sympathisch, wenn Haszprunar über sie spricht

Haszprunar versteht sich als Mensch, der zum Schutz der verbliebenen Arten beitragen muss. "Aus der Kenntnis der Biologie erwächst Verantwortung, sie zu bewahren." Solche bedeutungsvollen Sätze sind die eine Seite des gebürtigen Österreichers. Wer mit ihm auf teppichbezogenen Gängen die Evolutionsgeschichte durchwandert, macht vor allem Bekanntschaft mit der anderen: Haszprunar ist ein leidenschaftlicher Erzähler, der selbst einen "kleinen Nacktschneck" sympathisch erscheinen lässt, wenn er ihn mit seinem Wiener Akzent als "Eineinhalb-Millimeter-Krümel" bezeichnet und schwärmt, wie man scheibchenweise in einem so kleinen Körper "ein komplettes Organsystem" analysieren könne. 

Seine Arbeitsstätte im Münchner Stadtteil Obermenzing konserviert das Design der 80er Jahre. Kürzlich hat Haszprunar sein Büro im Erdgeschoss der Staatssammlung geräumt, seit Ende März ist er offiziell im Ruhestand. "Aber alles, was ich jemals gesammelt und präpariert habe, bleibt hier im Haus." Zu den Schnecken kam er einst, weil an seiner Wiener Universität der Insektenkurs nicht in seinen Tagesablauf passte. "Dann bin ich in den Weichtierkurs gegangen und habe meinen zukünftigen Doktorvater kennengelernt." 

Die Insektensammlung ist das Herz der Zoologischen Staatssammlung

Der 66-Jährige schließt die schwere Tür zur Insektensammlung auf. "Das Herz des Hauses", sagt Haszprunar feierlich und breitet die bejankerten Arme aus. 90 Prozent der Staatssammlung sind Insekten; Asien und Amerika sind im Archiv nur wenige Zentimeter voneinander entfernt: hier ein papyrusfarbener Nachtfalter aus Südostasien, da ein wild gemustertes Exemplar aus dem Amazonasgebiet, genannt: die Weiße Hexe. Es sind die größten Falter der Welt. Im selben Schaukasten: Nepticula Argyropeza, die winzigste aller Motten, einen Millimeter klein und in Europa zu Hause.

Gerhard Haszprunar hat diese Zeugen der Erdgeschichte verwaltet, Gelder für neue Forschung akquiriert, Bayerns Polit-Elite das Bienensterben erklärt und Privatsammlungen aus ganz Europa nach München geholt. Besonders stolz ist er auf die eines französischen Biologielehrers, der mit sechs Jahren sogenannte Spanner zu sammeln begann und mit 94 aufhörte. "Das ist Lebenswerk, das ist Herzblut", sagt Haszprunar und schaut beglückt auf die Arbeit dieses "Fachamateurs".

Im nächsten Raum wartet der älteste Teil der Sammlung. Regale voll ausgestopfter Großkatzen, Walzähne so groß wie Mörserstößel. Der bayerische König Max I. Joseph setzte Anfang des 19. Jahrhunderts den ersten Kurator ein. Der sollte seine persönliche Wunderkammer der Natur, damals noch eher eine Kuriositätensammlung, wissenschaftlich ordnen. "Die Idee damals war: Es gibt eine göttliche Schöpfung und die ist abgeschlossen." Charles Darwin und seine Theorie von der Evolution kamen erst 40 Jahre später. 

Viele Arten sind bereits ausgerottet – hier überdauern sie Jahrhunderte

Der König schickte seinen Naturforscher nach Brasilien, er kam mit 3000 Exponaten im Gepäck zurück. Der Grundstock der heutigen Sammlung, die 1811 offiziell gegründet wurde. Haszprunar zeigt ein paar Affenpräparate, mehr als 200 Jahre alt. Er weist hin auf "ein paar traurige Highlights". Es sind Riesenalks, die Pinguine der Nordhalbkugel. Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie auf drei kleinen Inseln im Nordatlantik entdeckt worden – und vier Jahrzehnte später bereits ausgerottet. Hier, mitten in einem Wohngebiet von Obermenzing, überleben sie auf Jahrhunderte. 

"Es ergibt Sinn, diese Präparate aufzuheben", erklärt der Direktor und Chef von rund 70 Mitarbeitenden, für den noch kein Nachfolger feststeht. "Wir wissen gar nicht, was wir morgen damit anfangen können. Die Technik ist heute präzise wie nie, sodass man an den Exponaten immer wieder etwas Neues entdecken kann – oder etwas korrigieren." Er vergleicht es mit der ersten Mondlandung. "Die Astronauten haben Steine von dort mitgebracht. Man hat bewusst nur einen kleinen Teil untersucht, ein Teil wurde erst nach 30, 40 Jahren freigegeben, der Rest wird immer noch aufgehoben." Jetzt könnten Geologen mit viel genaueren Methoden arbeiten, als das in den Sechzigern möglich war.

Ein Stammbaum für die Tiere im Zoo

Der Österreicher, den ein "Mittelweg zwischen Zufall und Halbplanung" nach München verschlug, hat selbst zwei neue Arten entdeckt: erst besagten "Eineinhalb-Millimeter-Krümel", den er Rhodope roskoi nannte, nach seinem Fundort Roscoff der Bretagne. "Die zweite Entdeckung war dann schon größer, immerhin eineinhalb Zentimeter, eine Käferschnecke in Südfrankreich." Das Glücksgefühl begleitet ihn bis heute: "Das ist der Antrieb eines Wissenschaftlers." 

Haszprunar hat die Forschung in München weit vorangebracht. "In mehr als einem Vierteljahrhundert prägt man ein Haus, ob man das wollte oder nicht. Man kann nur hoffen, dass das Urteil der Geschichte nachher positiv ausfällt", sagt er laut und herzlich lachend. Wegweisend für seine Zeit ist die Entwicklung der Barcoding-Methode: Sie ermöglicht, für alle Tierarten im Freistaat eine Art Fingerabdruck zu erstellen. "Wir machen im Prinzip dasselbe wie die Kripo, nur nicht auf Individuen-Ebene, sondern auf Arten-Ebene. Wenn Sie irgendwo durch die Gegend fahren und mit vielen Flecken auf der Windschutzscheibe zurückkommen, können wir die runterkratzen und Ihnen sagen, was das für Viecher waren."

Der Mensch ist die einzige Art, die ihre Toten begräbt

Viele Präparate hier unten vertragen das Licht nicht, mancher getrocknete Nachtfalter etwa würde in der Sonne zu Staub zerfallen. Deswegen ist es düster auf den Gängen, bloß ein paar Forschende sind dort unterwegs. Ein öffentliches Museum ist die Sammlung nicht, nur im Ausnahmefall für Besucherinnen und Besucher zugänglich, bei Vorträgen zum Beispiel. Die nächste Abteilung liegt eine Wendeltreppe höher. Zeit für etwas Philosophie.

Verliert der Mensch seine Besonderheit inmitten von Millionen Zeugen der Evolutionsgeschichte? Haszprunar will es anders formulieren: "Man lernt als Biologe, wie viel wir mit Tieren gemeinsam haben." Aber man wisse dann auch, was spezifisch für den Menschen sei. "Der Mensch ist die einzige Art, die ihre Toten begräbt. Selbst bei Menschenaffen, die so viel mit uns gemein haben, gibt es nichts Vergleichbares." Wie wirkt sich eine so tiefe Kenntnis der Biologie auf sein eigenes Leben aus? Vor allem als Pflicht anderen gegenüber, sagt der Forscher. "Ich finde: Wenn man die Dinge erklären kann, dann ist damit auch die Verpflichtung verbunden, es zu tun. Viele Krisen – Klimawandel, Corona– sind reine Naturwissenschaft. Da braucht es Übersetzer, die den Menschen das verständlich vermitteln." Tierisches isst er übrigens trotzdem, Fleisch aber nur in Maßen und in bester Qualität.

Hinter der nächsten Stahltür blickt man in die leeren Augenhöhlen zahlloser Schädelpräparate und eines kompletten Braunbären. Endlose Geweih-Reihen ragen Richtung Decke wie von Schöpferhand gedrechselt. Manche Exponate sind Schenkungen von Großwildjägern. Legal erlegt, alles andere würde abgelehnt. Heute wirken viele dieser Trophäen irritierend. Doch Haszprunar erklärt mithilfe eines Horntier-Mauls, was man mit der Genpool-Analyse aus den Präparaten herauslesen kann: Zahn ziehen, eingetrocknetes Zellmaterial herauskratzen. So lässt sich herausfinden, wie eng eine Population miteinander verwandt ist, wie es einer Art heute geht. So lassen sich gewissermaßen Stammbäume für Zootiere erstellen.

Der Mensch greift mehr denn je in tierische Lebensräume ein. Und erkennt oft zu spät, was er angerichtet hat. Haszprunar denkt ans Rappenalptal bei Oberstdorf, wo Almbauern ohne Genehmigung einen Wildbach abgebaggert haben. "Das Tal wiederherzustellen, kostet, so würde ich schätzen, bis zu 500 Mal mehr, als hätte man es einfach in Ruhe gelassen und sich gut darum gekümmert." Ignoranz und Ahnungslosigkeit sind zwei der größten Feinde von Flora und Fauna. "Nur was man kennt, das schützt man", sagt der Professor. "Wenn ich nur eine Meise kenne und nicht weiß, dass es elf verschiedene Meisenarten gibt, dann gehen mir die anderen zehn nicht ab, sobald sie ausgestorben sind.“ 

Mit 66 Jahren geht der Mann, der die Zoologische Sammlung ein Vierteljahrhundert lang prägte, jetzt in den Ruhestand. "Aber die Neugier wird bleiben." Er wird bei jedem Spaziergang an der Isar im Augenwinkel wahrnehmen, was da kreucht und fleucht, wird weiter Steine umdrehen, schnorcheln gehen und vielleicht etwas entdecken, was selbst er noch nicht kennt. Seine Leidenschaft wird weiter da sein. Besonders für den kleinen Schneck. "Wenn man nur die Nacktschnecke im Garten kennt, dann ist vollkommen verständlich, dass man in Schnecken nur Salatzerstörer sieht." Dabei gebe es doppelt so viele Weichtier- wie Wirbeltierarten. "Sobald man diese Vielfalt bedenkt", sagt Haszprunar, und es klingt wie eine kleine Liebeserklärung, "relativiert sich das Ganze. Dann erkennt man in Schnecken viel mehr."

 
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