
Sie kommen gerne, wenn es dämmert im Wald hoch über Berchtesgaden. Zurück lassen die Besucher Hakenkreuze an den Bäumen und am Geburtstag des früheren Hausherrn brennende Kerzen. Von Adolf Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg ist nicht mehr viel übrig. Eine bemooste Stützmauer am Berghang, eine graue Tafel mit kargem Text erinnern noch an die Residenz des Massenmörders, an der ein Wanderweg vorbeiführt. Ihre Ruine wurde 1952 gesprengt, Wald sollte darüber wuchern und nichts mehr an ihre Existenz erinnern. Doch der braune Spuk auf dem Obersalzberg bleibt gegenwärtig.
Hitler kam vor 100 Jahren erstmals auf den Obersalzberg
Seinen Anfang nahm er vor 100 Jahren, als Adolf Hitler erstmals den Obersalzberg besuchte, damals als Tourist. Der Ort war ein beliebtes Erholungsziel und auch der Nazi-Chef und seine Gefolgsleute fühlten sich dort wohl. Für das Dorf und seine Bewohner begann damit eine Reise ins Verhängnis. Rund um das Haus "Wachenfeld", das Hitler später kaufte und zu seiner Residenz "Berghof" umbauen ließ, entstand nach der Machtergreifung 1933 im Laufe der 1930er Jahre das sogenannte Führersperrgebiet, in dem die Spitzen des Dritten Reiches mehr als nur Urlaub machten. Frühere Bewohner wurden verdrängt und vertrieben.
Hitler verbrachte rund ein Viertel seiner Regierungszeit auf dem Obersalzberg. Das abgelegene Idyll war seine heimliche Hauptstadt in den Bergen: ein Feriendorf, in dem Massenmörder ihrer "Arbeit" nachgingen. Dort fielen die Entscheidungen für die Ermordung kranker Menschen (Euthanasie-Programm) oder die Belagerung von Leningrad mit einer Million Hungertoten. Kaum ein Großverbrechen des Dritten Reiches wurde nicht auf dem Obersalzberg gedacht, diskutiert oder beschlossen. Farbfilme von Hitlers Geliebter Eva Braun zeigen gut gelaunte und schäkernde NS-Größen bei der Kaffeepause in jenen Tagen, in denen sie den Überfall auf Polen vorbereiteten und damit den Zweiten Weltkrieg lostraten.
Neue Ausstellung: Was Hitler und die Nazis auf dem Obersalzberg trieben
Zu sehen sind Ausschnitte der Filme – die Originale lagern in Washington – in einer Ausstellung, die ab Donnerstag für die breite Öffentlichkeit zugänglich ist. "Idyll und Verbrechen" heißt die neue Dauerausstellung der Dokumentation Obersalzberg, die vom Institut für Zeitgeschichte konzipiert worden ist. Sie zeigt, wie die Nazis aus dem harmlosen Touristen-Ort zunächst eine Bühne machten für ihre verlogene Propaganda, einen Wallfahrtsort für ihre Ideologie – und wie er das nach Hitlers Ende in gewisser Hinsicht blieb. Der Obersalzberg ist und bleibt auch ein Ziel für Ewiggestrige und Sensationshungrige, "die den Hitler-Grusel suchen", wie Sven Keller sagt. Der gebürtige Donauwörther ist der fachliche Leiter des Dokumentationszentrums.
Auch dieses profitiert von der schrecklichen Faszination, die von den Nazis und ihren Verbrechen ausgeht. Mehr als drei Millionen Besucherinnen und Besucher fand die 1999 eröffnete Dokumentation Obersalzberg bislang. Sie platzte bald aus allen Nähten, weshalb die Staatsregierung schon 2012 einen Erweiterungsbau beschloss. Fünf Jahre später ging es los, und entstanden ist ein modernes Museum mit 800 Quadratmeter Ausstellungsfläche und Zugang zu einem Teil der Bunkeranlagen im Obersalzberg. Das alte Gebäude der Ausstellung dient jetzt als Bildungszentrum. Bauzeit und Baukosten haben den Rahmen gesprengt. Aus gut 14 Millionen Euro wurden rund 30 Millionen (nach heutigem Stand), statt drei Jahren dauerte der Bau sechs. Corona und der Ukraine-Krieg werden mit als Ursachen genannt.
Farbfilm zeigt Nazi-Größen beim Kaffeeklatsch
In der Schau selbst werden immer wieder die Einzelschicksale von Menschen in den Mittelpunkt gerückt. So wie das von Dora Reiner. Die Jüdin aus Schönau am Königssee wurde 1941 deportiert und ermordet, ihr Haus und Vermögen riss sich der NS-Staat unter den Nagel. Ein Schicksal von vielen während der Nazi-Diktatur und ganz nah dran an Hitlers "Berg-Idyll". Während es dort der Elite des NS-Staats an nichts fehlte, starben im restlichen Europa die Menschen zu Millionen.
Erst ganz zum Schluss kam der Krieg bedrohlich nahe. Davon zeugt das größte Ausstellungsstück, die Bunkeranlage, welche die Nazis ab 1943 in den Obersalzberg treiben ließen. Rund sechs Kilometer unterirdischer Stollen gibt es, in der Schau können 650 Meter in einem Rundgang besichtigt werden. An den Wänden finden sich Skizzen und Kritzeleien, hinterlassen von Zwangsarbeitern und den ersten alliierten Soldaten, die ab 4. Mai den Obersalzberg kampflos einnahmen. In den Bunkern selbst fand sich reiche Beute: riesige Lebensmittelvorräte, Hitlers Schallplatten und Gemälde. Mit den Vorräten der NS-Elite stieg eine „ungeheuer wilde Party“. So schilderte es eine US-Kriegsreporterin, die dabei war.
Kilometerlanges Bunkersystem unter dem Obersalzberg
Das Ende des Bunkerbaus, bei dem tausende Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten, war nur wenige Tage früher gekommen. Am 25. April 1945 hielten 359 britische Bomber auf den Obersalzberg zu und luden dort mehr als 1200 Tonnen an Bomben ab. Noch bei den Bauarbeiten für das neue Dokumentationszentrum wurde ein bis dato unentdeckter Blindgänger gefunden. Die Folgen des Angriffs waren für den Obersalzberg verheerend. Dass dabei "nur" 31 Menschen starben, lag an den Bunkern. Der, den sie eigentlich schützen sollten, sah derweil in einem Bunker in Berlin seinem Ende entgegen. Adolf Hitler hatte seine Bergresidenz im Sommer 1944 für immer verlassen.
Unversehrt überstanden hat den Luftangriff damals das von den Nazis erbaute Kehlsteinhaus auf dem gleichnamigen Berg. Das historisch belastete Aussichtslokal, das viele heute noch fälschlich für Hitlers Residenz halten, ist seit den 1950er Jahren in den warmen Monaten für Besucher geöffnet und einer der großen Publikumsmagneten im Berchtesgadener Land. Eine kleine Ausstellung weist auf die große Dokumentation unten am Parkplatz hin. In früheren Jahren hätte so viele den Weg zur Dokumentation am Obersalzberg gefunden, sagt Ausstellungschef Keller. Er hofft, dass sich dieser Effekt bei der neuen Dauerausstellung wiederholt.
Kehlsteinhaus bei Berchtesgaden überstand Bombenangriff
Viele Besucher seien Touristen gewesen, die sich für mehrere Tage in der Gegend aufhielten und für die der Obersalzberg ein Programmpunkt war. Keller: "Das stört uns nicht. Im Gegenteil: Tourismus und historische Aufklärung müssen kompatibel sein." Die Öffentlichkeit helfe sogar, unerwünschte Umtriebe einzudämmen. Und so gibt es am Obersalzberg nicht nur das Kehlsteinhaus mit seinen mehreren hunderttausend Besuchern, wo der Riesen-Germknödel 9,90 Euro kostet, sondern auch das Luxus-Hotel Kempinski. Dort beginnt die Übernachtung bei 800 Euro.
Von touristischer Normalität ist der Ort dennoch weit entfernt. Das zeigt die Aufregung, die vor wenigen Jahren herrschte, als ein privates Hotel am Obersalzberg über das Londoner Auktionshaus Sotheby’s angeboten wurde. Groß war die Befürchtung, dass ein neuer Eigentümer daraus eine Wallfahrtsstätte für Neonazis und sonstige Spinner machen könnte. Wie schwierig der Umgang mit "Hitler-Häusern" auch andernorts ist, zeigt ein Blick über die nahe österreichische Grenze.
Was passiert mit Hitlers Geburtshaus?
In Österreich wird über Hitlers Geburtshaus in Braunau diskutiert. Der Staat hat sich der Immobilie inzwischen mittels Enteignung bemächtigt, doch die dort geplante Polizeiwache ist umstritten. In München ist genau dies der Fall. Hitlers ehemaliges Privathaus am Prinzregentenplatz beherbergt schon lange eine Inspektion der bayerischen Polizei.
Doch was tun mit Hitlers ehemaliger Residenz auf dem Obersalzberg? Lange versuchte man, die historische Erblast zu verstecken und totzuschweigen. Doch das ist gescheitert. "Nur weil man einen Wald darüber wachsen lässt, verschwindet dieser Ort nicht", sagt Ausstellungsleiter Sven Keller. Er und seine Kollegen halten es für sinnvoller, auch die Überreste des Berghofs, die nur ein paar hundert Meter entfernt von den beiden Ausstellungsgebäuden entfernt liegen, mit in die historische Aufarbeitung einzubeziehen. "Das ist natürlich eine Gratwanderung", gibt Bildungsreferent Mathias Irlinger zu und erzählt dann von einem Experiment.
Was die Polizei in Hitlers Haus in München macht
Im an die Dokumentation angeschlossenen Bildungszentrum machen immer wieder Schülergruppen Vorschläge, wie mit dem Berghof-Areal umgegangen werden solle. Einer lautete: Man solle dort schlichtweg ein Mc Donald's-Restaurant errichten. Die Filiale eines multinational agierenden Konzerns, der sein Geld mit Fleischklöpsen verdient an dem Ort, an dem der Nationalsozialist und Vegetarier Hitler herrschte? Radikaler, findet Irlinger, ließe sich die Geschichte dieses Ortes nicht überschreiben.
Info: "Idyll und Verbrechen" Die neue Dauerausstellung auf dem Obersalzberg ist geöffnet von April bis Oktober täglich von 9 bis 17 Uhr. Von November bis März ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 15 Uhr auf. Eintritt für Erwachsene: drei Euro. Kinder und Jugendliche frei. Es gibt Führungen sowie Media-Guides in Deutsch und Englisch. Mehr unter www.obersalzberg.de