Der Kangchendzönga im Himalaja sollte zum letzten Achttausender werden, den Extrembergsteiger Luis Stitzinger in seinem Leben erklomm. Am 25. Mai starb der 54-jährige Füssener wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels. Wie inzwischen bekannt ist, litt Stitzinger an einem akuten Hirn- und Lungenödem, besser bekannt als Höhenkrankheit. Der Bergsteiger konnte demnach keine rationalen Entscheidungen mehr treffen, zumal er auf den Einsatz künstlichen Sauerstoffs bewusst verzichtet hatte. Nach diesen dramatischen Ereignissen hat sich seine langjährige Ehefrau Alix von Melle, 52, nun erstmals in einem ausführlichen Gespräch mit unserer Redaktion geäußert.
Frau von Melle, ein knappes halbes Jahr ist vergangen, seit Luis Stitzingers Leichnam in Kathmandu eingeäschert wurde. Vor kurzem waren Sie das erste Mal wieder selbst beim Klettern unterwegs. Mit welchem Gefühl? Können die Berge für Sie trotz dieses schweren Verlusts derselbe Sehnsuchtsort bleiben?
Alix von Melle: Ich habe schon im Sommer ganz schnell gemerkt, dass ich die Berge brauche, und bin wieder zum Mountainbiken und Bergsteigen gegangen. Klettern konnte ich mir anfangs gar nicht vorstellen – weil es etwas war, was ich 25 Jahre lang nur mit Luis gemeinsam gemacht habe. Anfang Oktober habe ich mich dann getraut, weil auch Luis es so gewollt hätte, und bin mit einem Bekannten eine Route an der Westlichen Zinne geklettert. Es war einerseits ein schönes Gefühl, andererseits tat es aber auch verdammt weh, weil ich mir an jedem Standplatz dachte, verdammt, das hättest du jetzt mit Luis machen können. Es ist ein bittersüßes Gefühl. Nach Luis’ Tod das gesamte Bergsteigen an sich in Frage zu stellen, war aber nie ein Thema.
Das Risiko, ums Leben zu kommen, war ja ein ganz maßgeblicher Teil Ihrer Beziehung als Extrembergsteiger-Paar. Schließlich sind Sie selbst mit sieben Achttausendern die erfolgreichste Deutsche in dieser Disziplin. Haben sie das gemeinsam jemals thematisiert?
von Melle: Man selbst glaubt immer, alles im Griff zu haben, und macht sich dann eher Sorgen um den Partner. Das war bei Luis und mir genauso – wie wahrscheinlich bei vielen anderen Paaren auch. Wir haben über dieses Risiko zwar gesprochen. Aber man verdrängt es schon ein Stück weit. Dass Luis ausgerechnet auf einer Expedition sein Leben verliert, hätte ich nie gedacht angesichts seiner großen Erfahrung. Obwohl objektiv dort an den Achttausendern das Restrisiko natürlich deutlich höher ist als im Alpenraum.
Lassen Sie uns noch einmal zurück in den Mai gehen. Wie haben Sie davon erfahren, dass auf der Expedition irgendetwas nicht nach Plan verläuft?
von Melle: Gemeinsam mit einem Freund war ich zum Mountainbiken im Schwarzwald, als die nepalesische Trekking-Agentur an jenem Donnerstag eine Gipfelliste vom Kangchendzönga veröffentlichte. Allerdings ohne Luis’ Namen. Da dachte ich mir zuerst, okay, dann wird Luis wohl umgedreht sein. Abends habe ich dann nochmals die Agentur kontaktiert, die mir auf Nachfrage bestätigte, dass Luis den Gipfel erreicht habe und bereits im Abstieg sei. Da war ich erst mal beruhigt. Denn im Abstieg war er immer sehr schnell.
Am folgenden Freitag sollte sich für Sie aber alles ändern.
von Melle: Ich hatte schon sehr unruhig geschlafen, und als ich in der Früh mein Handy anschaltete, sah ich, dass die Agentur versucht hatte, mich zu erreichen. Sie baten mich um GPS-Daten, weil sie kein Lebenszeichen mehr von Luis hatten und er auch nicht zum verabredeten Zeitpunkt im vierten Hochlager eingetroffen war. Als es dann Freitagmittag wurde und es immer noch keinen Funkspruch oder keine Nachricht von ihm gab, war mir klar, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Einfach aufgrund der Zeit, die er in der Höhe war.
Dennoch wurde sehr schnell ein Rettungsteam zusammengestellt, das nach Luis suchen sollte. Aber die Helikopter konnten wegen schlechten Wetters nicht starten.
von Melle: Genau. Angesichts dieser Umstände und der vielen verstrichenen Stunden hatte ich ehrlich gesagt gar nicht mehr damit gerechnet, dass Luis überhaupt gefunden wird. Denn das Suchgebiet lag zwischen 7350 und fast 8600 Meter. Wir wussten außerdem nicht, was mit Luis konkret passiert war. Ob er seine Skier angeschnallt hatte, abgestürzt oder einfach erschöpft war.
Wann fiel dann doch die Entscheidung für Sie, selbst nach Kathmandu zu fliegen?
von Melle: Als für mich überraschend die Nachricht kam, Luis sei gefunden worden, war mir klar, ich muss in den Flieger. Das hat alles geändert. Sonst wäre ich wahrscheinlich in Deutschland geblieben. Mein Bruder begleitete mich.
Luis Stitzinger hat mir einmal gesagt, dass er, wenn er umkommen sollte, auch am Berg bleiben möchte. Sodass niemand sein Leben riskieren muss, um seinen Leichnam ins Tal zu bringen. Warum war das nicht möglich?
von Melle: Wir hätten Luis diesen letzten Wunsch gerne erfüllt. Doch ein neues Gesetz in Nepal verpflichtet Trekking-Agenturen und Expeditionen dazu, ihren Müll wieder vom Berg mit herunter zu nehmen. Makabererweise zählen dazu auch die sterblichen Überreste eines Menschen. So haben wir entschieden, Luis nach Kathmandu zu bringen, wo er einige Tage später mit dem Helikopter eintraf.
Zu der emotionalen Belastung kamen für Sie in diesen Tagen dann auch noch finanzielle Sorgen. Denn die Versicherung weigerte sich, für die Bergekosten von rund 66.000 Dollar aufzukommen. Weshalb?
von Melle: Das ist eine Sache, über die ich mich bis heute noch ärgere. Die Argumentation lautete, Luis hätte selbst einen Notruf absetzen müssen, damit die Versicherung einspringt und zahlt. Im Kleingedruckten steht das tatsächlich so. Aber jeder, der sich etwas mit Expeditionsbergsteigen auskennt, weiß: Das ist fernab jeder Realität. Zumal Luis ja an einem Hirnödem litt und nicht mehr in der Lage war, rationale Entscheidungen zu treffen. Aber auch das Ergebnis einer Autopsie, die ich vor seiner Einäscherung durchführen ließ, hat die Versicherung nicht interessiert.
Wie nahm dann finanziell alles doch noch einen guten Ausgang?
von Melle: Ich habe eine unheimlich große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft erfahren. Viele von Luis’ Freunden, ehemaligen Weggefährten und Kunden haben mich finanziell unterstützt, um die Kosten zu stemmen. Einen großen Teil hat auch der Anderl-Heckmair-Fonds übernommen. Der Verband der Berg- und Skiführer unterstützt damit Berufskollegen und ihre Familien, die finanziell in Not geraten sind. Diese Hilfe war für mich wie ein Wink des Schicksals. Denn Anderl Heckmair war auch der Taufpate von Luis gewesen.
Sie standen selbst auf sieben Achttausendern. Auf sechs davon gemeinsam mit Luis. Gemeinsam sind Sie auf Vortragstour durch ganz Deutschland gewesen. Wie geht es sportlich und beruflich nach dem Tod von Luis jetzt für Sie weiter?
von Melle: Mit dem Höhenbergsteigen möchte ich auf alle Fälle weitermachen, aber ob es noch mal ein Achttausender sein muss, weiß ich noch nicht. Auch Vorträge möchte ich weiterhin halten. Luis wird dabei natürlich immer ein maßgeblicher Teil sein. Vor kurzem habe ich mich in Pfarrkirchen wieder erstmals vor Publikum getraut, alleine zu erzählen. Es war eine große Herausforderung für mich. Aber die Resonanz, die ich bekommen habe, hat mir viel Kraft und Zuversicht gegeben. Luis hätte gewollt, dass ich so weitermache.