Am Tag danach wird Simone Berger einiges klar. Dass der Bär, der auf dem Nachbaranwesen die Schafe gerissen hat, auch nur ein paar Meter von ihrem Berggasthof entfernt war. Und dass das schon eine komische Vorstellung ist. Der Bär, hier, inmitten der Almidylle. An diesem Donnerstagvormittag steht Simone Berger vor dem Berggasthof Bichlersee, ein paar Kilometer nördlich von Oberaudorf im Landkreis Rosenheim und erinnert sich an das, was gestern war. „Die Schafe waren schon vorher aufgeregt. Sie sind hin und her gelaufen, haben geschrien.“
Schnell ist klar: Die Schafe sind einem Bären zum Opfer gefallen
Der Grund dafür sollte sich erst später offenbaren, als zwei Tiere tot auf der Weide gefunden wurden. Ein drittes war so schwer verletzt, dass es getötet werden musste. Das Landesamt für Umwelt (LfU) bestätigt noch am Abend, dass die Schafe einem Bären zum Opfer gefallen sind. Das lasse sich anhand der Erstdokumentation der äußeren Verletzungen der Schafe sowie der vor Ort aufgefundenen Trittsiegel belegen.
Simone Bergers Gasthof ist nur einen kurzen Fußmarsch vom Bichlersee entfernt, am Ende einer engen Straße, die sonst vorwiegend von Wanderern in Richtung Parkplatz angesteuert wird. Heute aber interessieren sich die meisten für das Gehöft nebenan, für die Schafe, die dort umgekommen sind. Und für das, was Simone Berger zu erzählen hat, wenn der Nachbar schon nicht reden will. Schließlich hat die Geschichte um die Bärenattacke deutschlandweit Schlagzeilen gemacht.
Jetzt also Oberaudorf. Jetzt also drei gerissene Schafe. Dabei hatte die Sache mit dem Braunbären, der aktuell durch den Süden Bayerns streift, vergleichsweise harmlos begonnen. Am vergangenen Wochenende werden in den Landkreisen Rosenheim und MiesbachTatzenabdrücke im Schnee entdeckt. Bald ist klar: Die Trittsiegel stammen eindeutig von einem Braunbären. Im Lechtal in Tirol, eine halbe Autostunde von Füssen entfernt, findet ein Jäger dann am Montag ein gerissenes Reh, dazu Tatzenabdrücke. Zudem läuft das Tier vor eine Wildkamera.
Drunten, vor dem Rathaus in Oberaudorf, herrscht an diesem Tag normales Treiben. Ein Maibaum, mit dem Ortsnamen und -wappen, steht in der Mitte des Platzes. Ganz in der Nähe haben Kinder kleine Tische aufgebaut, um zu essen. „Bei uns im Ort wurden Schafe gerissen“, erzählt ein Mädchen. Und dass es nicht unbedingt dahinmöchte, wo das war. Ein Junge sagt: „Ich finde es irgendwie spannend, aber auch gefährlich.“
"Man weiß nie so genau, wie ein Bär reagiert"
Betreut werden die Grundschülerinnen und Grundschüler von Eva Mager, die die Mittagsbetreuung im Ort leitet. „Man fühlt sich schon ein bisschen unwohl“, sagt sie. Denn, „man weiß ja nie so genau, wie ein Bär reagiert“. Mager geht oft wandern, auch dort, wo der Bär am Mittwoch die Schafe gerissen hat. Das will sie auch weiterhin machen. „Aber mit ganz offenen Augen und Ohren und sowieso niemals allein.“
Sabine Boser kommt dazu, um ihre Tochter abzuholen. „Wir gehen jetzt halt weniger wandern“, sagt die Mutter. Und schiebt dann nach: „Ich bin total dagegen, dass der Bär abgeschossen wird.“
"Im Ernstfall kommen alle Maßnahmen in Betracht", sagt Glauber
In München ist man derweil bemüht, Entschlossenheit zu demonstrieren. Umweltminister Thorsten Glauber betont, dass die Sicherheit der Menschen absoluten Vorrang habe. Im Zweifel sei auch der Abschuss des Tieres möglich. "Im Ernstfall kommen alle Maßnahmen in Betracht", sagt der Freie-Wähler-Politiker. "Bayern ist auf das Thema Bär vorbereitet."
Und nicht nur darauf. Ministerpräsident Markus Söder will noch im April eine Verordnung vorlegen, wie der Abschuss von Wölfen erleichtert werden kann. "Der Wolf ist kurz vor der Rudelbildung", er gehe schon auf Höfe oder in Orte, hat Söder in dieser Woche betont.
Auch in Oberaudorf ist der Wolf Thema. Zumindest, wenn es um die Landwirtschaft geht. Einfache Weidezäune können weder einen Wolf noch einen Bären abhalten, sagt Bürgermeister Matthias Bernhardt. Wichtig sei nun, vor allem mit den Almbauern zu sprechen und ihnen zu helfen. Viele von ihnen sind in Sorge. Schon, weil in wenigen Wochen die Tiere auf die Almen getrieben werden sollen. Das Landesamt für Umwelt rät den Nutztierhalten in der Region, ihre Tiere möglichst nachts einzustallen sowie Herdenschutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Behörden können dabei mit Zaunmaterial unterstützen. Viele Landwirte entgegnen, dass das an Berghängen kaum umzusetzen sei – schon, weil die Zäune regelmäßig ausgemäht und kontrolliert werden müssten.
Nachts alle Tiere einzusperren, ist für Tierhalter nicht einfach
Drunten, am Fuß des Berges, hält Familie Regauer Pferde, Ziegen und Schafe in einem Offenstall. Auf der direkt angrenzenden Weide stehen sie noch nicht. Genauso wenig wie die Ziegen und Schafe, die eigentlich in ein umzäuntes Areal am Hang gehören. „Schon eine komische Vorstellung, dass er einfach kommen könnte“, findet Veronika Regauer und meint den Bären. „Wir müssen auf jeden Fall die Zäune noch mal abgehen.“ Und nachts? „Da werden sie eingesperrt.“
Doch „das ist platztechnisch nicht bei allen möglich“, grätscht ihre Tochter Theresa dazwischen. „Man redet es sich schön und hofft, dass er einfach weiterzieht.“ Denn „es ist wirklich schwierig, wenn man einen offenen Stall hat und plötzlich seine Tiere einsperren muss. Da müssten die Ziegen ins Wohnzimmer. Und manche Pferde noch dazu“, meint sie. Abgeschossen soll der Bär ihrer Meinung nach aber nicht werden, sondern umgesiedelt. Dieser Meinung ist auch ihre Mutter Veronika. Beide sind sich auch einig, was auf keinen Fall auf den Bären zukommen soll. Und zwar ein Leben im Zoo.
Für "JJ4", die Bärin aus der nächstgelegenen Bärenpopulation im italienischen Trentino, etwa 120 Kilometer von Bayern entfernt, könnte das die letzte Rettung sein. Vor zwei Wochen hatte sie einen 26 Jahre alten Jogger angefallen und getötet. In der Nacht zum Dienstag dann tappte die Bärendame in eine Rohrfalle, gefüllt mit Obst, Mais und Honig, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, wo sie Andrea P. angegriffen hatte. "JJ4" wurde in ein Wildtiergehege gebracht, wo sie nun in einem Käfig gehalten wird. Und nun? Findet sich kein Wildtierpark oder Zoo, der die Bärin aufnimmt, muss sie eingeschläfert werden. Nach dem Willen der Behörden in Trentino soll "JJ4" sterben, Tierschützer aber haben Protest eingelegt. In drei Wochen muss das VerwaltungsgerichtTrient entscheiden.
Fachleute erwarten keine dauerhafte Bären-Ansiedlung in Bayern
Eine dauerhafte Ansiedlung von Bären im Freistaat erwarten Fachleute nicht – auch, wenn es grundsätzlich nicht ungewöhnlich sei, dass im südlichen BayernBären umherstreifen. Meist sind das junge, männliche Tiere, die nach einer Partnerin suchen. Zuletzt gab es den Behörden zufolge im Sommer 2022 Nachweise in den Landkreisen Bad-Tölz-Wolfratshausen und Garmisch-Partenkirchen. Der letzte Riss durch einen Bären wurde 2006 dokumentiert.
Damals war das "Bruno". "Problembär "Bruno". Die Geschichte von "JJ1", der vom Trentino nach Bayern gewandert war, ist hinlänglich bekannt. Anfangs versicherte der damalige Umweltminister Werner Schnappauf noch: "Der Braunbär ist in Bayern willkommen." Schließlich war "Bruno" der erste seiner Art nach 171 Jahren im Freistaat. Nach 35 toten Schafen, mehreren gerissenen Ziegen, drei geplünderten Bienenstöcken, drei überfallenen Hühner- und Kaninchenställen und einem toten Meerschweinchen ist die Nachsicht beim CSU-Minister zu Ende. "Bruno" ignoriert Fallen und lässt sich auch von finnischen Bärenjägern nicht erlegen. Am 26. Juni 2006 wird er schließlich erlegt. Wer der Schütze war, bleibt bis heute ein Geheimnis.
Die Urlauberin will auch weiterhin wandern
Gabriele Pauly fühlt sich an diesem Donnerstag ein bisschen an die Zeit erinnert, als "Bruno" in Bayern unterwegs war. Die Frau aus Kiefersfelden findet es gut, dass es wieder einen Bären gibt. Denn: „Wir nehmen den Tieren den Lebensraum. Nicht die uns." Und Henriette Seitz, eine Urlauberin aus Frankfurt, hat die Nachricht vom Bären erst jetzt, in Oberaudorf, gehört. Von ihrem geplanten Programm halte sie das nicht ab, sagt die Seniorin. Und dazu gehört auch das Wandern.
Oben, auf der Alm steht Simone Berger vor dem Berggasthof, die Daunenjacke bis obenhin geschlossen. Noch ist es kühl hier, die Wanderer werden erst wieder vermehrt bei ihr Halt machen, wenn es wärmer wird. Sorgen, dass die Touristen ausbleiben könnten, macht sie sich nicht. "Tagsüber wird der Bär sicher nicht über die Terrasse laufen.“ Das wäre wohl das Letzte, woran man beim Panoramablick über das Tal und einem Kaffee in der Hand denken möchte. Berger meint: „Am Ende wird wohl nur der Abschuss bleiben.“ Denn die Sicherheit von Mensch und Tier gehe vor.