Als Bernd Haslinger 20 war, kramte er noch jedes Mal seinen Reisepass heraus, wenn er von Deutschland nach Österreich wollte. Noch mit 30 musste er D-Mark in Schilling umtauschen. Wenn Haslinger heute, mit 47 Jahren, die paar Kilometer von Lindau nach Bregenz fährt, hält ihn höchstens der Zoll auf. Ja, in den letzten 20 Jahren sind Bayern und Österreich enger zusammengewachsen. Seit die Grenzen gefallen und die Handelsschranken aufgehoben sind, seit jeder EU-Bürger sich niederlassen und arbeiten kann, wo er will. Bis man irgendwann angefangen hat, neue Hindernisse aufzubauen. Nur heißen die heute nicht mehr Grenzkontrolle und Wechselstube, sondern Maut und Beschäftigungsbonus. An so etwas hat Bernd Haslinger vor 16 Jahren noch nicht gedacht. Damals war der gebürtige Münchener gerade mit dem Architekturstudium fertig und suchte einen Job, als er ein Angebot aus Bregenz in Vorarlberg erhielt. Haslinger sagte zu und zog nach Österreich. Damit war er nicht der Einzige.
In dem Architektenbüro, in dem Haslinger heute arbeitet, ist er einer von sieben Deutschen. Von seinem Büro aus, das hoch über den Dächern von Dornbirn liegt, kann er auf die grün glänzende Spitze der Pfarrkirche St. Martin sehen. Unten, auf den Straßen der 50 000-Einwohner-Stadt, fahren immer wieder Autos mit deutschen Kennzeichen vorbei – „OA“ für den Landkreis Oberallgäu, „LI“ für Lindau, „RV“ für Ravensburg.
In gut 20 Autominuten wäre Haslinger in Deutschland, im Westallgäu. Er könnte pendeln, so wie viele seiner Kollegen es tun. Doch in der Regel fährt der Architekt nur einmal im Monat über die Grenze, um Verwandte und Bekannte zu besuchen. Haslinger reicht das. Er fühlt sich wohl in Österreich. „Die Leute sind herzlich und nett“, sagt er. Selbst den speziellen Vorarlberger Dialekt mit seinen vielen „äs“ und „üs“ versteht er inzwischen einwandfrei. Spannungen zwischen Bayern und Österreich? Davon spürt der 47-Jährige hier nichts. Und doch scheinen sich immer größere Gräben zwischen den Nachbarn aufzutun.
Jüngster Anlass ist ein Vorstoß, mit dem die österreichische Bundesregierung die heimische Wirtschaft ankurbeln will. Wien hat einen „Beschäftigungsbonus“ beschlossen. Von dem sollen Unternehmen profitieren, die neue Jobs schaffen – allerdings nur, wenn sie Einheimische einstellen oder Personen, die vorher in Österreich gearbeitet oder eine Ausbildung gemacht haben. „Austria first“ dürfte das der patriotische Alpenländler nennen, „hinterfotzig“ so mancher jenseits der Grenze. So wie Georg Grabner, Landrat des Berchtesgadener Landes. So weit will Bernd Haslinger nicht gehen. Auch, weil es ihn ja nicht betrifft. Schließlich hat er einen Job. Und doch sieht der 47-Jährige es kritisch, wenn es Deutschen erschwert wird, einen Arbeitsplatz in Österreich zu finden. Wenn seine Landsleute letztlich diskriminiert werden. So sehen es jedenfalls bayerische Politiker. Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) macht keinen Hehl daraus, dass sie damit nicht einverstanden ist. „Die Idee, die Beschäftigung von Österreichern gegenüber Arbeitnehmern aus anderen EU-Ländern zu privilegieren, ist mir unverständlich.
“ Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) dagegen betont, man wolle die Zuwanderung ja nicht behindern. „Wir hindern aber EU-Bürger daran, zu uns zu kommen.“
Und all das, wo sich Bayern und Österreicher eigentlich so nah sind. Wo sie doch so viel verbindet, die Menschen im Voralpenland und in der Alpenrepublik, die, so sagt es das Klischee, Lederhosen, Bier und Blasmusik mögen. Wo doch vor Jahren noch gescherzt wurde, dass der damalige österreichische Kanzler Werner Faymann ohne eigene Meinung zu EU-Gipfeltreffen nach Brüssel fahre und mit der von Kanzlerin Angela Merkel wieder nach Hause komme.
Ja, es stand schon mal besser um die bayerisch-österreichischen Beziehungen. Das war noch vor dem Pickerl-Streit, der die grenzüberschreitende Freundschaft schwer belastet hat. Gemeint ist der Zoff um die Vignette, die die Österreicher auf ihren Autobahnen verlangen – und von der der fünf Kilometer lange Inntal-Autobahn-Abschnitt zwischen der Landesgrenze und Kufstein über Jahre ausgenommen war. Bis die Österreicher sich das anders überlegten – und Ende 2013 auch dort das Pickerl verlangten. Die Bayern waren stinksauer, Mautgegner blockierten die Inntal-Autobahn, ein Maut-Gipfel zwischen beiden Seiten scheiterte.
Und dann ist da natürlich der Streit um die deutsche Pkw-Maut. Also die, die Ausländer in Deutschland bald zahlen sollen, wenn es nach Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt geht. Und das sind nach Rechnung des CSU-Ministers auch die Österreicher. Deswegen war der Aufschrei in der Alpenrepublik groß. Denn eines wollten die Österreicher schon klarstellen: Bei ihnen müssten Autofahrer zwar schon seit langem eine Vignette kaufen, um auf den Autobahnen fahren zu dürfen. Allerdings würden dort alle zur Kasse gebeten, auch die Einheimischen. Die Österreicher, so viel steht fest, wollen gegen die deutsche Maut „mit allen rechtlich sinnvollen Mitteln“ vorgehen – zur Not auch mit einer Klage.
Auch die Flüchtlingskrise hat die Beziehungen belastet. Dabei waren sich Österreichs damaliger Kanzler Faymann und Angela Merkel anfangs einig. Sie öffneten die Grenzen für Flüchtlinge, die tagelang am Hauptbahnhof in Budapest festgesessen waren. Dann aber beschloss Österreich eine Obergrenze und drang darauf, die Balkanroute zu schließen. Vor allem Außenminister Sebastian Kurz schwang sich zum Chefkritiker Merkels auf. Jetzt sind es also wieder die Österreicher, die mit ihrem Beschäftigungsbonus die Bayern ärgern.
Leidtragende dieser Regelung könnten vor allem Arbeitnehmer aus dem Grenzgebiet sein, aus dem Allgäu und der Bodensee-Region. Leute, wie Sebastian Sutter sie kennt.
Sutter ist in Lindau aufgewachsen. Zum Studieren ist der 20-Jährige an die Fachhochschule Vorarlberg in Dornbirn gewechselt. Zum einen, weil es dort für sein Fach Mechatronik keinen Numerus clausus gibt. Zum anderen, weil er dorthin auch pendeln kann. Diese Woche steht eine Mathe-Prüfung an. Um dafür ungestört lernen zu können, hat sich Sutter mit Block, Taschenrechner, Laptop und einer Tasse Kaffee in einen kleinen Raum in der Fachhochschule zurückgezogen.
Wo Sutter in Zukunft arbeiten will, weiß er noch nicht. Junge Leute wie er kennen die Grenzkontrollen zwischen Bregenz und Lindau nur noch vom Hörensagen. Und es macht keinen Unterschied, wo er arbeitet. Hier, im Vierländereck zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, ist die Auswahl an Jobs ohnehin groß. „Ich gehe dahin, wo ich am meisten Geld verdiene“, sagt der 20-Jährige. Er deutet auf den Block, der vollgekritzelt ist mit Formeln und Zahlen, und fügt hinzu: „Ich tue mir das hier ja nicht umsonst an.“
Sollte ein österreichisches Unternehmen für Sutter eine neue Stelle schaffen, würde es den Bonus kassieren – weil er in Dornbirn studiert hat. Für seine Freunde, die in Deutschland arbeiten oder studieren, gilt das nicht. Und er kennt einige, die gerne in Österreich arbeiten wollten. Was er vom Beschäftigungsbonus hält? „Die Qualifikation sollte den Ausschlag geben und nicht die Frage, ob man Deutscher oder Österreicher ist“, sagt er. Hier, zwischen Westallgäu und Vorarlberg, ist der Arbeitsmarkt ohnehin eng verflochten. Rund 3500 Deutsche verdienen ihr Geld in Vorarlberg. Umgekehrt pendeln rund 850 Vorarlberger täglich über die Grenze. Auch in Dornbirn sind die Deutschen nicht wegzudenken. Beim örtlichen Lichttechnik-Hersteller Zumtobel, einem Betrieb mit etwa 2000 Beschäftigten, arbeiten viele Deutsche. Andere sind in Restaurants und Hotels angestellt.
In Österreich aber ist die Arbeitslosigkeit deutlich höher als jenseits der Grenze – auch wenn Vorarlberg noch vergleichsweise gut dasteht. Seit 2011 stieg die Arbeitslosenquote, und das fünf Jahre in Folge. Vor allem schwächelnde Handelspartner auf dem Balkan sowie EU-Sanktionen gegen Russland setzen der Wirtschaft zu. Zudem beschweren sich österreichische Politiker zunehmend über Billigarbeiter aus dem Ausland, die einheimische Arbeitskräfte verdrängten. 70 Prozent des jährlichen Arbeitsplatzzuwachses gingen auf das Konto von Ausländern, sagen sie.
Als Klaus Schneider beim Kühlspezialisten Liebherr in Nenzing anfing, war Österreich noch nicht einmal Mitglied der EU. Nach Vorarlberg zu ziehen, kam für den Ingenieur trotzdem nicht infrage, aus familiären Gründen. Noch heute fährt der 51-Jährige von Wohmbrechts im Kreis Lindau jeden Tag die 70 Kilometer zur Arbeit. Schneider bezweifelt, dass der österreichische Beschäftigungsbonus große Auswirkungen bei Liebherr haben wird. „Egal ob mit oder ohne Bonus: Entscheidend ist die Qualifikation“, sagt er. Dann erzählt er noch, dass er früher jeden Tag an der Grenze seinen Pass vorzeigen musste. Doch das ist längst Geschichte. „Ich erlebe die Vorzüge eines gemeinsamen Europas jeden Tag“, sagt er.