Auf der Insel Lummerland herrscht ein guter gemütlicher König namens Alfons der Viertel-vor-Zwölfte. Und dort leben vier Menschen ohne Vorurteile. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob das Baby, das sie gerade per Post in einem Karton mit Luftlöchern zugeschickt bekommen haben, schwarzer oder weißer Hautfarbe ist. Sie nehmen es ohne Umschweife bei sich auf. Der Schriftsteller Michael Ende (1929-1995) hat vor 55 Jahren einen Einstieg in seine Geschichte von Jim Knopf gewählt, der heute wieder aktuell wirkt.
Was weiter geschieht auf der Insel Lummerland und auf den Reisen von Jim Knopf und seinem rußigen Freund Lukas, dem Lokomotivführer mit seiner Lok Emma, wusste der in Garmisch geborene und in München aufgewachsene Autor zunächst selbst nicht. Er habe sein erstes Buch begonnen, „ohne zu wissen, wie der zweite Satz heißen wird“, sagte Ende ein Jahr vor seinem Tod 1995 der Fachzeitschrift „Deutschunterricht“. „Und ich war während des Schreibens selbst gespannt, wie es weitergehen soll.“
Befreiung der Kinder
Es geht dann auch wirklich spannend weiter: Jim Knopf besiegt in Kummerland den bösen Drachen Frau Mahlzahn, befreit die Kinder aus ihrem strengen Regiment und rettet die verschwundene Prinzessin Li Si. Und auch der Untertan „Herr Ärmel“, die mütterliche Ladenbesitzerin Frau Waas und natürlich die kleine Molli haben Generationen von Kindern fasziniert. „Da stimmt irgendwie alles“, urteilt der Buchhändler Ralf Lehmann aus dem bayerischen Nördlingen, der die Geschichte auch seinen eigenen Jungs vorgelesen hat. In Michael Endes Büchern stecke Humor und Philosophie, „ohne erhobenen Zeigefinger“.
Aber Jim Knopf birgt auch Weisheiten für Erwachsene. Der frühere Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) zum Beispiel zeigte sich fasziniert vom Scheinriesen „Tur Tur“, der beim Näherkommen immer kleiner wird. An ihn ließ Eichel einst humorvoll Grüße ausrichten: „Sag ihm, dass ich oft an ihn denken muss, wenn ich es mit politischen Gegnern zu tun habe.“
Der Erfolg des Buches ist riesig. Fünf Millionen Exemplare in 33 Sprachen wurden bis heute verkauft. Dabei sah es zunächst gar nicht danach aus: Mehr als zehn Lektoren lehnten das Manuskript ab. Als endlich ein Berliner Verlag und der Stuttgarter Thienemann-Verlag zugleich anbissen, entschied sich Michael Ende für den Berliner Verlag. Mit dem Lektorat dort gab es aber Streit, unter anderem weil „aus sittlichen Gründen“ keine Verlobung von Jim Knopf und Prinzessin Li Si stattfinden sollte. Also wechselte Ende nach Stuttgart.
Am 9. August 1960, vor 55 Jahren, brachte der Thienemann-Verlag Jim Knopf auf den Markt. 1961 wurde das Werk mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. 1962 folgte „Jim Knopf und die Wilde 13“, später schuf Michael Ende mit „Momo“ und „Die unendliche Geschichte“ weitere Klassiker der Kinderliteratur.
Den lange anhaltenden Erfolg verdanken die Jim-Knopf-Bände ganz sicher auch den Marionetten der Augsburger Puppenkiste, für die der skurrile und nachdenkenswerte Stoff geradezu ideal war. Sie stellten bereits 1961 eine erste Schwarz-Weiß-Fernseh-Aufnahme vor – natürlich war darin bereits das typische schaukelnde Puppenkisten-Plastikwellen-Meer zu sehen. In der farbigen Version von 1976 erklang dann der Hit „Eine Insel mit zwei Bergen“, in dem Lukas der Lokomotivführer und seine Emma ganz schön schräg um die Wette pfeifen. Bis heute ist Jim Knopf einer der Stars unter den berühmten Augsburger Puppen.
Auf die Frage, was er mit seinem Jim Knopf sagen wollte, hat Michael Ende geantwortet: „Nichts! Außer die kindliche Fantasie anregen.“ Das allerdings glaubt ihm die Publizistin Julia Voss nicht. In ihrem 2009 erschienen Buch „Darwins Jim Knopf“ entdeckt sie Elemente aus der Biografie Charles Darwins. Auf dessen Expeditionsschiff „Beagle“ soll es einen kleinen geraubten Jungen namens „Jimy Botton“ gegeben haben. Daher sieht Voss Parallelen zwischen Lummerland und England.
Der Halbdrache leidet
Michael Ende könnte beim Kreieren der Geschichte an das Ende seiner Jugend in der Nazizeit gedacht haben, glaubt Voss. Sie verweist auf die Figur des Halbdrachen Nepomuk, der besonders darunter leidet, dass er nicht „reinrassig“ ist. Weil seine Mutter ein Nilpferd war, wurde er aus der Drachenstadt vertrieben. Das Drachenland Kummerland sei eine Chiffre für den Nationalsozialismus. Als Voss diese Theorie veröffentlichte, war Autor Ende bereits gestorben.
Zum 55. Geburtstag des ewig jungen Jim Knopf von der winzigen Insel mit den zwei Bergen bietet der Verlag nun eine neue Ausgabe an, für die der Illustrator Mathias Weber die schwarz-weißen Innenillustrationen von Franz Josef Tripp koloriert hat. Michael Ende, Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende, hätte das wohl gefallen. „Das ist klar wie Zwetschgensoße“, würde Jim Knopf sagen.
Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Mit Illustrationen von F.J. Tripp, koloriert von M. Weber (Thienemann Verlag, 16,99 Euro) Michael Ende: Jim Knopf und die Wilde 13. Mit Illustrationen von F.J. Tripp, koloriert von M. Weber (Thienemann Verlag, 16,99 Euro).