Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, Adolf Scheidle einfach so anzurufen, um sich als Besucher anzukündigen. Es gibt keinen Empfang auf der Pointhütte. Nur Funkkontakt – in Notfällen. Wer den Alphirten zwischen Juni und Oktober erreichen will, muss die drei Kilometer lange Straße ab dem Giebelhaus zur Hütte hochwandern und an die Tür klopfen, auf gut Glück. Hochfahren? Nur mit Sondergenehmigung, die Hütte liegt im Naturschutzgebiet der Allgäuer Hochalpen. Doch selbst dann wäre es ziemlich unwahrscheinlich, den 58-Jährigen mit dem grauen Vollbart auf der Alpe anzutreffen. Adolf Scheidle stapft so gut wie immer in den Berghängen umher und kümmert sich um seine 271 „Pflegerinder“.
An diesem Vormittag haben wir Glück. Scheidle ist tatsächlich vor der mit Schindeln verkleideten Holzhütte am Werkeln. Gerade werden zwei trächtige Rinder von der Nachbarsalpe auf einen Anhänger verladen. Zeit für einen Blick auf die Kulisse.
Der Arbeitsplatz des Alphirten im hintersten Winkel des Ostrachtals, unweit von Bad Hindelang, gleicht der Idylle in Heidi-Filmen: saftige Wiesen, grasende Rinder, das helle Läuten ihrer Schellen, das Rauschen der Gebirgsbäche und im Hintergrund der schneebedeckte Gipfel des „Großen Wilden“. Und dann Scheidle selbst. Er hat schon ein bisschen was vom Alm-Öhi, ob er will oder nicht.
Wenn Frühsommer ist, wird ein Teil des Allgäuer Jungviehs traditionell in die Berge geschickt. Im Allgäu sind das 30 000 Rinder. In der Regel kehren die Hirten zusammen mit ihrem Vieh nach etwa 100 Tagen wieder in die Täler zurück. Im Allgäu beginnt dann die fünfte Jahreszeit: der Viehscheid. An diesem Wochenende fangen die ersten an. Die Jungrinder auf den Alpen werden abgetrieben, anschließend „geschieden“, also getrennt, und in die Obhut ihrer Bauern zurückgegeben.
In Bad Hindelang findet der Viehscheid jedes Jahr am 11. September statt. Etwa 900 Tiere kehren von fünf Alpen ins Tal zurück. Die Tradition des Bad Hindelanger Alpabtriebs lässt sich bis 1794 zurückverfolgen. „Für die Einheimischen ist das wie ein Feiertag“, sagt Tourismusdirektor Max Hillmeier. Und natürlich ist „dr Schaid“, wie die Hindelanger sagen, auch ein Magnet für tausende Touristen.
Adolf Scheidle wird die Jungrinder von seiner Hütte aus die 18 Kilometer durch das Ostrachtal bis nach Bad Hindelang treiben. Doch ohne Blumen und Schmuck. Denn: Geschmückt werden die Rinder nur, wenn der Alpsommer für Mensch und Tier unfallfrei verlaufen ist. Dann trägt das Leittier einen prächtigen Kranz aus Bändern, Gräsern, Zweigen und Blumen, der zu einer großen Krone geformt ist. Mit eingeflochten ist meist auch ein Kreuz für den göttlichen Beistand und ein Spiegel, der böse Geister abwehren soll. Doch in diesem Jahr sind drei von Scheidles Pflegerindern verunglückt. Ein Tier habe sich den Fuß gebrochen, zwei weitere seien abgestürzt. „Je mehr man hat, desto größer ist die Gefahr, dass etwas passiert“, sagt Scheidle. Was der 58-Jährige nicht ändern kann, das akzeptiert er. „Das ist halt so.“
Die verunglückten Rinder mussten mit dem Hubschrauber ausgeflogen werden. Das Tier mit dem gebrochenen Fuß bekam im Tal den erlösenden Bolzenschuss, die beiden abgestürzten Tiere waren sofort tot. So sind es nur noch 271 Schumpen, die in den saftigen Berghängen rund um die Hütte grasen. Schumpen, so heißen die Jungrinder im Allgäu. Sie sind von 17 verschiedenen Bauern aus dem Tal und der Umgebung.
Vor ein paar Tagen hat es bis auf 1800 Meter runtergeschneit. Darum hat der Alphirte seine Tiere bereits zuvor von der Stierbachalpe zur niedrigeren Pointhütte auf 1319 Metern abgetrieben. Das Prasseln des Regens mischt sich jetzt mit dem Klingeln der Kuhschellen. Aus den Hängen schießen die Wassermassen der Gebirgsbäche nur so heraus. Für die Weiden ist das durchwachsene Wetter gut gewesen: „Das Gras ist ordentlich gewachsen.“
Doch man spüre den Klimawandel, sagt Scheidle. „Es gibt mehr Wetterextreme. Mal ist es extrem heiß, dann gibt es extreme Gewitter.“ Immerhin habe es heuer keinen schlimmen Hagel gegeben. „Dann lebt hier gar nix mehr.“ Wenn man die Tiere nicht in Sicherheit bringe, laufen die Schumpen weg. „Dann gibt es Abstürze.“ Darum beobachtet er immer den Himmel: „Wenn sich die Wolken kupfern färben, wird es sehr gefährlich.“
Die Arbeit in den Bergen ist hart. „Trotz technischer Errungenschaften ist das ein rechter Knochenjob und ein entbehrungsreiches Leben“, sagt Michael Honisch. Er ist Leiter des Fachzentrums Alpwirtschaft im Landwirtschaftsamt in Kempten sowie Geschäftsführer des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu. Die Alpwirtschaft gibt es schon seit Jahrhunderten. Sie gehöre zum Allgäu wie das Braunvieh und der Viehscheid, sagt Honisch.
Die erste urkundliche Erwähnung der Alpwirtschaft ist für das Jahr 1059 belegt. Es sei eine „altbewährte Tradition“, die seit jeher dazu dient, die Talbauern zu entlasten und Futterflächen fürs Vieh bereitzustellen. „Wasser, Luft und Böden im Tal werden durch die extensive Wirtschaftsweise geschont.“ Durch Kräuter, die viele Bewegung und die frische Luft sei das Vieh besonders robust.
Und die Alpwirtschaft prägt die Landschaft. Erst die Beweidung in den Bergen schafft offene Flächen, die für viele Pflanzen, Insekten und Tiere lebensnotwendig sind. Alpwirtschaft, Naturschutz und Tourismus greifen dabei wie Zahnräder ineinander. „Jeder ist aufeinander angewiesen, es ist wie in einer Symbiose“, sagt Honisch. „80 Prozent des Skitourismus findet auf Alpflächen statt.“
„Ohne Alpwirtschaft, da wäre hier im Allgäu Schwarzwald. Da gäb's keinen grünen Hügel mehr“, sagt Adolf Scheidle. Seit 37 Jahren ist der gebürtige Hindelanger nun schon Alphirte, in dritter Generation. „Als Neunjähriger habe ich als Kleinhirte angefangen.
“ Seitdem gehört für ihn das Bergleben einfach dazu: die Luft, das Grün, das Vieh, die Selbstständigkeit. „Hier oben hast keinen Chef. Die Natur gibt die Arbeit vor.“ Die Monotonie der Arbeit sei heilend für Körper, Geist und Seele. Tatsächlich strahlt Scheidle eine kraftvolle Ruhe aus. Jede einzelne Kuh kennt er. Nicht beim Namen, aber am Gesicht. Das sei eine Begabung. „Wenn sich Menschen treffen, dann vergisst man das Gesicht seines Gegenübers auch nicht.“ Deshalb merkt er auch sofort, wenn eine Kuh fehlt. Damit er alle Jungtiere im Gelände wiederfindet, tragen sie Schellen, die mit ihrem Gebimmel nicht zu überhören sind. „Schellen sind geschmiedet, Glocken werden gegossen.“ Der Unterschied ist ihm wichtig.
Bräuche und Traditionen haben vor allem eine Aufgabe: Sie tragen zur Identität von Einheimischen und der Region bei, sagt Roman Tischberger, Volkskundler an der Universität Augsburg. „Das Spannende an Bräuchen ist: Sie sind nicht starr, sondern verändern sich.
“ Auch viele Viehscheide haben ihren Festcharakter in den 70er Jahren ausgeweitet und wurden damit immer mehr auch zu einem Event für Touristen. „Die Kommerzialisierung ist aus wissenschaftlicher Sicht nichts Negatives – auch diese Seite gehört zu der Veränderlichkeit von Bräuchen“, sagt Tischberger. In der Realität führe das natürlich oft zu Spannungen. Nach Bad Hindelang kommen jedes Jahr etwa 15 000 Besucher. Die Hotels und Gaststätten sind dann ausgebucht, sagt Tourismusdirektor Hillmeier. Weil der Viehscheid noch „ein Stück echtes Allgäu“ sei.
Tradition hat es auch, dass Adolf Scheidle in den Sommerferien einen Gehilfen hat: den Kleinhirten Pius Hierl aus Immenstadt. Er ist quasi der Lehrling auf der Alpe. Der 15-Jährige bekommt dafür sogar zwei Wochen früher schulfrei – wie alle Kleinhirten. „Kommod ist das schon, weil dann weniger Arbeit ist“, sagt Scheidle. Seit sieben Jahren schon begleitet der Bub den Alphirten. Doch für ihn ist das wohl vorerst der letzte Alpsommer, nächstes Jahr beginnt Pius Hierl eine Ausbildung zum Landwirt. Er werde die Zeit auf der Alp vermissen, sagt er. „Aber es ist halt so, eine Lehre gehört dazu.“ Adolf Scheidle kommt mit dem Alleinsein klar. „Damit kann ich leben. Es ist ja auch keine Einöde hier oben.“ Wanderer und Einheimische treffe man immer mal.
Seine Frau arbeitet als Wirtin auf der Bärgündlealp, sein Sohn ist mit 190 Rindern auf einer benachbarten Alpe. Ein Telefon wäre da nützlich. Aber: „Seit die Telekom Hand angelegt hat, gibt es hier keinen Empfang mehr.“ Er meint den Umbau des Gipfelrestaurants auf dem Nebelhorn. Auch der Bürgermeister von Bad Hindelang, Adi Martin, hat das schon kritisiert, da Wanderer seitdem keinen Notruf absetzen könnten. Früher sei das praktischer gewesen, da konnte Scheidle „seine Frau, den Tierarzt oder den Besamer“ anrufen. Aber beschweren will er sich nicht. „Vor 30 Jahren gab es auch kein Handy.“
Wenn der Viehscheid ansteht, nächsten Montag also, geht das emsige Treiben los. Scheidle nimmt das gelassen hin. Am Vortag bekommen die Rinder die festlichen Zugschellen angelegt, die besonders groß und laut sind. Bereits in dieser Woche wurden sie von den Talbauern heraufgebracht. Der Kleinhirte putzt, reinigt und fettet die Schellen, damit sie schön glänzen. Gegen halb sieben, sobald die ersten Sonnenstrahlen die Berge kitzeln, werden Adolf Scheidle, der Kleinhirte und seine drei Helfer aufbrechen. Der schmale Weg talabwärts zieht sich wie ein Schlauch, da können auch die Jungrinder kaum ausbüxen. „Die laufen alle hinten nach.“
Das Geläute der Schellen wird die Stille im Tal zerschneiden. Erfahrungsgemäß stehen dann viele Touristen und Einheimische am Wegesrand, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Nach eineinhalb Stunden Fußmarsch wird Scheidle in Hinterstein ankommen, einem Ortsteil von Bad Hindelang. Dort ziehen er und seine Helfer das feine Gewand an: weißes Hemd und Lederhose. Dann naht der Einzug in Bad Hindelang. Es ist jedes Jahr eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse, wenn Rinder und Hirten auf dem Scheidplatz eintreffen.
Für Adolf Scheidle ist der Viehscheid kein Höhepunkt, eher „ein Muss“. Nach diesem Tag geht es für ihn wieder in die Ruhe und Abgeschiedenheit. Denn mit einem Teil der Schumpen geht es noch auf die Herbstweide, auf eine andere Hütte. Die Umstellung, bis der normale Alltag im Tal wieder losgeht, sei daher sanft. Ab Oktober arbeitet Scheidle dann in Gunzesried als Zimmerer. Und auch der Bart kommt dann wieder ab.