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München
Therapeutin: "Frauen suchen oft nach Status, Männer nach sexueller Verfügbarkeit"
Wenn sich zwei Menschen das erste Mal sehen, was passiert da im Gehirn? Gibt es die Liebe auf den ersten Blick? Und was, wenn die anfängliche Schockverliebtheit nachlässt?
Symbolbild - Kuss.jpeg       -  'Küssen ist ein sehr intimer Akt, intimer als Geschlechtsverkehr. Unser größtes Lustorgan sitzt im Kopf, nicht unterhalb des Bauchnabels', sagt Dr. Heike Melzer.
Foto: Mohssen Assanimoghaddam, dpa (Symbolbild) | "Küssen ist ein sehr intimer Akt, intimer als Geschlechtsverkehr. Unser größtes Lustorgan sitzt im Kopf, nicht unterhalb des Bauchnabels", sagt Dr. Heike Melzer.
Stephanie Sartor
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:25 Uhr

Frau Dr. Melzer, Sie sind als Paar- und Sexualtherapeutin Expertin in Sachen Liebe. Ein Dating-Portal will eben erst herausgefunden haben, dass hierzulande sehr viele Menschen an die Liebe auf den ersten Blick glauben, Deutschland belegt Platz 12 von 46. Gibt es die Liebe auf den ersten Blick wirklich?

Dr. Heike Melzer: Die Liebe auf den ersten Blick ist ein Mythos. Sprechen wir lieber von Verliebtheit auf den ersten Blick, die dann eintritt, wenn die Projektion der eigenen Filme auf der Leinwand des Gegenübers störungsfrei läuft. Für Liebe braucht es Zeit und eine gemeinsame Vision, die einen durch Dick und Dünn gehen lässt. Verliebtheit ist ein flüchtiges Gefühl, bei dem der Botenstoff Dopamin eine Rolle spielt. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Es gibt sicher auch Menschen, die sagen: Wir haben uns gesehen und es war wie ein Rausch, der in Liebe gemündet ist. Durch die vielen Apps und Portale ist Dating aber generell ein entromantifiziertes Konsumprodukt geworden, das unsere Reflexe anspricht. Also: Wen finde ich auf den ersten Blick gut, wen nicht?

Also eher Attraktivität auf den ersten Blick?

Melzer: Ja, in den meisten Fällen ist das so. Viele haben ja auch bestimmte Voraussetzungen, wie der andere aussehen muss, etwa wie groß er sein soll. Und noch andere Aspekte spielen eine Rolle bei der Frage, wie attraktiv der andere ist: Frauen suchen etwa oft nach Status, Macht und Geld, während Männer sexuelle Verfügbarkeit, Jugend und Attraktivität anziehend finden.

Wenn sich zwei Menschen das erste Mal sehen, was passiert da im Gehirn?

Melzer: Das Treffen findet heute ja meist online statt. Da fehlt dann natürlich einiges. Aber ganz generell kann man sagen, dass beim ersten Kontakt, online oder offline, sehr viel Dopamin ausgeschüttet wird, man will sich dann automatisch auf den anderen zubewegen. Und dann schaut man, ob sich der andere qualifiziert. Dopamin geht mit Vorfreude einher, ein wahnsinnig gutes Gefühl. Auch der Glücksbotenstoff Serotonin wird ausgeschüttet. Man hat ein unglaubliches Glücksgefühl, glaubt, alles zu wissen, was der andere denkt, will nicht mehr schlafen oder essen. Das hat schon psychotische Züge, diese Verliebtheit am Anfang. Auch Pheromone spielen eine große Rolle, also biochemische Botenstoffe, die wir etwa beim Küssen austauschen. Küssen ist ein sehr intimer Akt, intimer als Geschlechtsverkehr. Unser größtes Lustorgan sitzt im Kopf, nicht unterhalb des Bauchnabels. Im Kopf entscheidet sich: Gefällt mir die Stimme? Kann ich ihn oder sie riechen und schmecken? Passt es oder passt es nicht? Vieles davon funktioniert alles intuitiv aus dem Bauch heraus.

Was kann man über die Beziehung von Paaren sagen, die von sich erzählen, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen?

Melzer: Wenn Menschen das von sich erzählen, dann ist das auf jeden Fall ein schöner Start. Gute Geschichten fangen nicht mit Zweifeln an. Es ist schön, wenn zwei Menschen gleich am Anfang die Handbremse lösen und diesen Kick spüren und aus einem Ich und Du ein Wir werden lassen. Allerdings ist es oft auch so, dass die Menschen nur dieses Hochgefühl der Verliebtheit lieben und den anderen quasi dafür benutzen. Wenn dann das Dopamin-Level sinkt, wenden sie sich schnell anderen potenziellen Partnern oder Partnerinnen zu, bei denen die Schmetterlinge neu anfangen zu fliegen. Da muss man aufpassen, es gibt genügend Wölfe im Schafsfell, vor allem bei Männern, manchmal aber schon auch bei Frauen. 

Sobald der Alltag kommt und dieses Verliebtheitsgefühl nachlässt, wird es also oft schwierig?

Melzer: Ja, man kommt dann aus diesen Höhen, in die man katapultiert wurde, wieder nach unten. Man stellt fest, dass man einen Alltag hat, fragt sich, ob es überhaupt Konzepte für ein gemeinsames Leben gibt, man ärgert sich, dass der andere das Waschbecken nicht sauber macht und seine Haare liegen lässt. Es stellt sich dann die Frage: Bleibt man dran? An echter Liebe bleibt man dran, das hat eine Zeitkomponente. Von Liebe zu sprechen, wenn man kurzzeitig schockverliebt ist, ist Blödsinn. Dass der Begriff Liebe so inflationär verwendet wird, ist leider ein Phänomen unserer Zeit. 

Viele Menschen tendieren ja dazu, die Beziehung zu beenden, wenn die Schockverliebtheit nachlässt. Aber ist das etwas Schlechtes, wenn eine gewisse Routine einkehrt?

Melzer: Nein. Denn erst, wenn sich die Schmetterlinge verziehen, wird der Weg für die Liebe bereitet. Aber wie ich schon sagte: Manche Menschen sind nur in das Gefühl der Verliebtheit verliebt. Und nicht in den anderen. Und wenn auf der Leinwand, auf die ich meine Wünsche projiziere, eben nicht mehr der Film kommt, den ich sehen will, sondern plötzlich die Realität, dann wird der andere entsorgt. Und man schaut wieder bei Tinder rein. Aber so erreicht man nie die Tiefe, die man für Liebe eben braucht. 

Was raten Sie Menschen, die das Gefühl haben, dass die große Verliebtheit langsam erlischt?

Melzer: Es geht darum, Normalität zuzulassen und sie nicht als etwas Schlechtes zu sehen. Probleme sind negativ bewertete Soll-Ist-Differenzen. Wenn ich den Soll-Wert sehr hoch hänge und sage, Schmetterlinge über zehn Jahre und die große Verliebtheit sind normal, dann werde ich nicht glücklich. Man muss also die Soll-Werte korrigieren, die Normalität wertschätzen. Es gibt aber auch Paare, die den Ist-Wert verschlechtern. Also, die zunehmen, sich nicht mehr pflegen, sich morgens nicht mehr die Zähne putzen, wenn sie mit dem Partner intim werden wollen. Und die wundern sich dann, dass nichts mehr läuft. Diese Paare müsse sich fragen: Was haben wir denn früher anders gemacht? Liebe, Sexualität, Attraktivität sind alle keine Selbstläufer, man muss schon was dafür tun. 

Zur Person: Dr. Heike Melzer, 58 Jahre alt, ist Neurologin, Psychotherapeutin und Autorin und führt eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie in München.

 
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