Im Minutentakt laufen Menschen aus dem ehemaligen Kaufhof-Gebäude am Münchner Stachus heraus. Eine Familie mit Kind winkt ab, ein älterer Herr sagt im Vorbeigehen mit einem Lächeln auf den Lippen: "Die Wahl ist geheim." Nicht alle wollen über die entscheidende Runde der Präsidentschaftswahl der Türkei reden, für die sie hierhergekommen sind. In den vergangenen Tagen strömten tausende Menschen in das leer stehende Kaufhaus, das zu einem Wahllokal umfunktioniert wurde. Vom 20. bis 24. Mai konnten Türkeistämmige dort ihre Stimme für die Stichwahl abgeben, da es im ersten Wahlgang für keinen Kandidaten eine absolute Mehrheit gab. In der Türkei wird am Sonntag gewählt.
Die Wahlbeteiligung in Deutschland war erneut hoch. Von etwa 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland gaben 761.000 Deutsch-Türkinnen und Deutsch-Türken ihre Stimme ab – eine Steigerung von zwei Prozent im Vergleich zum ersten Durchgang mit 733.000 Stimmen. Der Andrang in München war ebenfalls groß. Deutsch-Türken aus Schwaben, Oberbayern und Niederbayern konnten von Samstag bis Mittwoch in München für einen der beiden verbliebenen Kandidaten votieren: Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (CHP). Die Stimmzettel werden anschließend in die Türkei gebracht und dort ausgezählt. Am ersten Wahlgang nahmen in der bayerischen Landeshauptstadt 53.000 Menschen teil. "Die Stimmung im Wahllokal ist harmonisch", sagt Wahlhelferin Özlem Akca. In den vergangenen Tagen habe es auch keine Zwischenfälle gegeben.
Erdogan schneidet bei den Wählern in Deutschland besser ab als in der Türkei
Doch bei vielen ist die Anspannung groß. Eine Mutter und ihr Sohn erzählen, dass sie Kilicdaroglu gewählt haben. "Wir wollen Freiheit", sagt die Frau mit Nachdruck. Eine junge Landshuterin hat ihre Stimme ebenfalls dem Oppositionsführer gegeben. Sie hofft, dass sich die Türkei mit einem anderen Präsidenten weiterentwickelt und demokratischer wird. Im ersten Wahlgang erhielt der CHP-Kandidat in Deutschland nur 32,5 Prozent. Sein Kontrahent hingegen erzielte hierzulande 65,5 Prozent – ein signifikanter Unterschied zum Ergebnis in der Türkei. Dort holte Erdogan 49,3 Prozent und Kilicdaroglu 44,9 Prozent der Stimmen.
Ein Mann, der eilig aus dem Wahllokal schreitet, hat sein Kreuz bei Erdogan gemacht. Er gibt sich siegessicher in Bezug auf seinen Kandidaten. "Jeder spricht heute von der Türkei, das ist Erdogans Verdienst", sagt er im Gehen. Eine junge türkische Frau, sie ist Mitglied der AKP, verfolgt die Stimmabgabe als Wahlbeobachterin. Für sie ist die Wahl besonders wichtig, da sie ihre Stimme nur abgeben kann, wenn in der Türkei gewählt wird. Meinungsfreiheit hat für sie einen hohen Stellenwert. "Man muss sich nicht lieben, aber respektieren", sagt sie zu den Spannungen zwischen beiden politischen Lagern.
Stimmung zwischen CHP- und AKP-Anhängern ist angespannt
Dass sich auch Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugungen gut verstehen, zeigen Tulay Tayhan und Adem Bulut. Während sie die Wahlen für die oppositionelle CHP beobachtet, schaut Bulut für die AKP, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Sie machen gemeinsam eine Zigarettenpause und lachen zusammen. Doch die Stimmung kippt, als es politisch wird. Bulut ist vom türkischen Präsidenten überzeugt. "Erdogan hält unser Land zusammen, er kämpft für die Demokratie." Tayhan ist ganz anderer Meinung. Sie glaubt, dass in der Türkei aktuell keine wirkliche Demokratie herrscht. Darauf folgt ein Schlagabtausch zwischen den beiden – Themen wie Armut, Justiz und Meinungsfreiheit stehen zwischen Bulut und Tayhan.
Die Stimmen der Auslandstürken könnten für den Ausgang der Wahl relevant werden. "Je knapper die Lage in der Türkei selbst ist, desto entscheidender sind die Stimmen der Diaspora-Türken", erklärt Politikwissenschaftler Roy Karadag. Die AKP erhofft sich die Mehrheit der Stimmen. Viele, die Erdogan unterstützen, würden aus ländlichen Gebieten der Türkei stammen, sie sind dort stark verwurzelt. In diesen Regionen schneidet die AKP traditionell stark ab. Diese Türkeistämmigen seien sehr konservativ und religiös und befürworten die Regierungspolitik in der Türkei. Für sie spielten Freiheit und Demokratie oft nicht die entscheidende Rolle, für die meisten Wähler der Opposition hingegen schon, erklärt Karadag. Hinzu komme, dass die AKP in Deutschland sehr viele Türkeistämmige mobilisiert, zur Wahl aufruft und sogar Busfahrten zu den Wahllokalen organisiert.
Politische Überzeugung wird oft innerhalb der Familien weitergegeben
"Manche denken, dass sie mit der Wahl von Erdogan der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland eins auswischen können", erklärt Karadag. In Deutschland gebe es keinen richtigen Konflikt zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern, da es an Austausch fehle. Jeder lebt in seiner eigenen Sphäre, sagt Karadag. Die politische Überzeugung werde auch innerhalb der Familien weitergetragen.
Der Nationalist Sinan Ogan, der mit 5,1 Prozent im ersten Wahlgang ausgeschieden war, kündigte am vergangenen Sonntag seine Unterstützung für Erdogan an. Er rief seine Wählerinnen und Wähler auf, den Amtsinhaber zu wählen. Es gilt als wahrscheinlich, dass diese Stimmen nun Erdogan zugutekommen. Auch der Münchner Wähler Onur Akbulut glaubt, dass Ogans Unterstützung der CHP schaden wird. "Die Chancen stehen schlecht", sagt er, der sein Kreuz bei Kilicdaroglu gesetzt hat. Die Stimmung in seinem politischen Lager sei nicht gut. "Vielleicht gibt es aber eine Überraschung. Man soll es nicht unversucht lassen."