Täglich melden sich bei Tobias Scheßl junge Leute. Sie vertrauen ihm, fragen ihn um Rat oder brauchen seine Hilfe. Der eine, weil er Liebeskummer hat, eine andere hat Stress mit den Eltern. Und wieder ein anderer schreibt Scheßl, dass er Suizidgedanken habe. Das Besondere: das alles passiert online in sozialen Netzwerken wie Instagram, Discord oder Twitch.
Scheßl, 31, ist einer von 14 digitalen Streetworkern beim Bayerischen Jugendring (BJR). Über alle möglichen Online-Kanäle versuchen die Sozialarbeiter möglichst niederschwellig mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen, ihnen bei Problemen zur Seite zu stehen.
Digitale Sozialarbeit: Laptop, Handy und Internetzugang reichen zum Arbeiten
Tobias Scheßl– online nur Tobi genannt – ist für Schwaben zuständig. Aber wie funktioniert die Soziale Arbeit im Netz? "Vereinfacht gesagt, helfen wir jungen Menschen bei Problemen aller Art", sagt Scheßl, der sich auf die Plattform Jodel und den Chat-Dienst Discord spezialisiert hat. Letzteren nutzen weltweit über eine Viertelmilliarde Menschen. Alles, was der Kaufbeurer zum Arbeiten braucht, ist ein Laptop oder Smartphone sowie einen Internetzugang.
Online suchen die Sozialarbeiter des BJR proaktiv den Dialog mit jungen Menschen zwischen 14 und 27 Jahren. "Oft brauchen junge Menschen auch nur ein offenes Ohr", erzählt Scheßl. Ähnlich wie in Jugendzentren spricht er mit jungen Menschen im Netz über alltägliche Themen, diskutiert in Chats mit, ist schlicht präsent – und dabei immer als Streetworker zu erkennen. "Nur ist unser Billardtisch zum Beispiel ein Server bei Discord", erklärt er. "Aus 'normalen' Gesprächen entwickeln sich nicht selten tiefgründigere Dialoge und teils kommen Probleme zur Sprache, bei denen wir helfen können”, erklärt Scheßl. Der Kontakt kommt über verschiedene Wege zustande. Mal schreibt er junge Leute gezielt an, mal postet er Inhalte, mal wird er gezielt um Hilfe gebeten.
Abgewiesen wird beim BJR niemand. In der Regel wisse Scheßl nicht, welches Geschlecht, Alter oder Wohnort die jeweilige Person hat. Denn Datenschutz wird bei dem Projekt großgeschrieben. "Keiner muss Informationen preisgeben, die er nicht preisgeben will", sagt Scheßl. Die Beratung ist kostenfrei und die Ansprechpartner des BJR unterliegen der Schweigepflicht. "Das hilft vielen, schnell ein Vertrauensverhältnis zu uns aufzubauen", sagt der studierte Sozialarbeiter, der auch seinen Klarnamen weitestgehend aus dem Internet heraushält.
Inflation, Krieg: Diese Sorgen und Ängste beschäftigen junge Menschen
Im September 2021 ist das Projekt, das bundesweit das erste seiner Art ist, gestartet. Seitdem haben Scheßl und seine Kolleginnen und Kollegen tausenden jungen Menschen geholfen – mal beim Bafög-Antrag, oft aber auch beim “Überthema psychische Gesundheit”, wie es der Allgäuer nennt. Die junge Generation beschäftige aktuell vor allem der Krieg in der Ukraine, aber auch die hohe Inflation.
Seit Jahren verlagern sich die Lebensräume der jungen Generation zunehmend in die digitale Welt. Die Initialzündung für das BJR-Projekt war schließlich die Corona-Pandemie, die den Trend hin zu sozialen Medien weiter verstärkte. "Wir wollen die jungen Menschen dort abholen, wo sie sich einen Großteil ihrer Zeit aufhalten."
Wie Streetworker Tobias Scheßl einen jungen Menschen vor dem Suizid bewahrte
Etwa 25 Nachrichten bekomme Scheßl täglich. Oft melden sich neue Klienten, aber es gebe auch viele, die ihn regelmäßig um Rat fragen. Dabei ist ihm ein Fall in besonderer Erinnerung geblieben. "Damals habe ich mit einem jungen Menschen geschrieben, der sehr klar angedeutet hat, sich noch am Abend dieses Tages das Leben nehmen zu wollen. Ich habe mich dann dazu entschlossen, den Rettungsdienst zu rufen. Zum Glück wusste ich zufällig, wo die Person wohnt”, erzählt Scheßl von einem seiner einschneidendsten Erlebnisse als digitaler Streetworker. Im ersten Moment sei die Person "nicht begeistert" von Scheßl's entschiedenem Handeln gewesen. Aber einige Wochen später habe sie sich bei ihm bedankt. "Seitdem stehen wir in regelmäßigem Kontakt. Das zeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist." Situationen wie diese seien aber die absolute Ausnahme.
Mit dem Projekt, das vom Bayerischen Sozialministerium finanziert wird, erreiche der BJR eine völlig neue Zielgruppe, für die es bislang kaum passende Hilfsangebote gegeben habe. Doch die Arbeit der digitalen Sozialarbeiter beschränkt sich nicht nur auf das Internet. Immer wieder treffen Scheßl und seine Kollegen Klienten auch persönlich, je nachdem, wie sie am besten helfen können.
Digitaler Streetworker: In welchen Situationen Fingerspitzengefühl erforderlich ist
Bevor der 31-Jährige erster digitaler Streetworker Schwabens wurde, war er zehn Jahre in einem Kaufbeurer Jugendzentrum tätig und studierte berufsbegleitend Soziale Arbeit an der Hochschule Kempten. Dann wechselte er in die Online-Welt. Nach eineinhalb Jahren zieht er ein positives Fazit des Pilotprojekts. Der Einstieg der Streetworker in die digitale Welt sei geglückt. "Wir sind auf allen Kanälen offen empfangen worden und treiben auch immer wieder Projekte in Kooperation mit Einrichtungen vor Ort voran", sagt Scheßl.
Das Schwierigste sei, die Probleme der jungen Menschen richtig einzuschätzen – etwa wie akut eine Suizidankündigung ist. "Da braucht es enormes Fingerspitzengefühl, aber wir kennen dabei auch unsere Grenzen: Wir sind keine ausgebildeten Psychologen oder Therapeuten, aber wir können qualifizierte Hilfe vermitteln und tun das auch.“
Mehr Informationen finden Sie unter www.digital-streetwork-bayern.de