Die RSV-Welle rollt weiter mit einer enormen Wucht durch Schulen und Kindergärten. Arztpraxen sind voll, Kinderkliniken am Limit. Und dabei erwischt das Virus auch Kinder, die es ohnehin schon schwer genug haben. Etwa den kleinen Daniel aus Schwabmünchen im Landkreis Augsburg. Im Sommer 2021 bekam der Bub ein Spenderherz, nach langem, nervenaufreibendem Warten. Seither muss er Medikamente nehmen, die sein Immunsystem dämpfen, damit das Spenderorgan nicht abgestoßen wird. Angreifer, wie etwa das derzeit grassierende RS-Virus, haben dann leichtes Spiel. „Sein Immunsystem ist einfach platt’“, sagt Diana Dietrich, Daniels Mutter.
Kinder mit Vorerkrankungen kann das Virus schwer treffen
Gerade Kinder mit Vorerkrankungen kann das Virus besonders schwer treffen, erklärt das Robert Koch-Insitut. Zu Risikopatienten gehören dem Institut zufolge etwa Kinder mit Vorerkrankungen der Lunge oder mit Herzfehlern sowie alle, die – wie eben Daniel – ein Spenderorgan erhalten haben und immunsupprimiert sind.
943 Tage musste Daniel auf ein neues Herz warten. Im Alter von zehn Monaten war bei ihm eine dilatative Kardiomyopathie diagnostiziert worden, eine schwere Erkrankung, bei der eine Herzkammer massiv vergrößert ist. Seit der rettenden Transplantation geht es dem Jungen zwar gut – Rückschläge muss er aber immer wieder verkraften. Wie gerade eben. Ende November begann der Vierjährige stark zu husten. „Es wurde einfach nicht besser, in der Nacht hat er dann ganz schwer geatmet“, erzählt Diana Dietrich. Der Kinderarzt stellte im Blut hohe Entzündungswerte fest und empfahl, ins Krankenhaus zu fahren. In der Klinik machten die Ärzte einen Abstrich – das Ergebnis: RSV. In Kombination mit einer Bronchitis. Daniel bekam ein Antibiotikum, das zwar nicht gegen das Virus hilft, aber zumindest gegen die Bakterien, die Daniels Bronchien angegriffen haben. Stück für Stück ging es bergauf, schließlich durfte Daniel wieder nach Hause.
Seit Herbst geht Daniel in den Kindergarten. Dort habe er sich das Virus wohl auch eingefangen, meint seine Mutter. Seit er mehr Kontakte zu anderen Kinder habe, sei er öfter krank gewesen, habe etwa Durchfall oder eine Bindehautentzündung gehabt. „Gerade im ersten Jahr nach einer Transplantation ist man anfälliger“, sagt Diana Dietrich.
Mittlerweile geht es Daniel wieder gut – ein bisschen hustet er aber immer noch. „Dieses Virus ist wirklich hartnäckig“, sagt Diana Dietrich. Dass gerade jetzt in der Hochphase von allerlei Atemwegserkrankungen die Maskenpflicht so gut wie überall gefallen ist, sei für Menschen mit Vorerkrankungen natürlich nicht gut, fährt sie fort. „Jetzt muss sich eben jeder selbst schützen, ich trage auch weiterhin Maske“, sagt sie und ergänzt: „Wichtig wäre einfach, dass jemand, der Husten oder Schnupfen hat, daheim bleibt, damit er niemanden ansteckt.“
Brauchen wir doch wieder eine Maskenpflicht?
Diesen Grundsatz, dass jeder, der krank ist, auch zu Hause bleiben soll, betonte auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Doch die Realität sieht oft anders aus. Daher stellt sich die Frage, ob aktuell sogenannte vulnerable Gruppen, also Menschen wie Daniel, die ein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung haben und Gefahr laufen, diese nicht so gut wegstecken zu können, ausreichend geschützt werden. Zumal nicht nur chronisch kranke Kinder und Erwachsene zur vulnerablen Gruppe gehören, sondern auch pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren. Zwar gilt in verschiedenen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen noch eine Maskenpflicht und eine Testpflicht in Kliniken und Altenheimen. Doch reicht das?
Verina Wild forscht genau zu diesem Thema: Was ist eigentlich Vulnerabilität? Und wie können diejenigen besser geschützt und gestärkt werden, die tatsächlich vulnerabel sind? Die Professorin für Ethik in der Medizin an der Universität Augsburg war zu diesem Thema zuletzt auch Gast bei AFEM, dem Augsburger Forum für Ethik in der Medizin, denn das Thema könnte vor dem Hintergrund der grassierenden RS-, Influenza- und Coronaviren aktueller nicht sein. Und gerade die Anliegen von Kindern und Jugendlichen sind Wild wichtig. „Denn Kinder und Jugendliche werden manchmal übersehen, brauchen aber ganz besondere Beachtung, weil sie sich noch viel weniger bemerkbar machen können als Erwachsene. Das hat man in der Corona-Pandemie gesehen.“
Wäre also doch eine Maskenpflicht in Schulen oder generell in Innenräumen wieder in diesen Wochen wichtig, um kranke Kinder wie Daniel zu schützen? Oder welche anderen Maßnahmen wären notwendig? Wild wünscht sich, dass diese Fragen aktuell zumindest wieder diskutiert werden. Denn aus ihrer Forschungsarbeit weiß sie, dass vor allem Verständnis in einer Gesellschaft dafür vorhanden sein muss, dass bestimmte Gruppen durch verschiedene Dinge vulnerabel gemacht werden können, und dass das Risiko dafür ungleich verteilt ist. Und dass ganz genau hingesehen werden muss, was dagegen getan werden muss. So galten in der Corona-Pandemie vor allem alte Menschen als besonders gefährdet. Das sei auch richtig gewesen, denn diese Gruppe war besonders vulnerabel, schwer am Virus zu erkranken oder sogar zu sterben. Aber Kinder und Jugendliche wurden erst einmal gar nicht als besonders vulnerabel angesehen. Viel zu spät wurde aus ihrer Sicht erkannt, dass gerade auch Heranwachsende ein hohes Risiko hatten, Schaden zu nehmen. Die aktuell hohe Zahl psychischer und psychosomatischer Erkrankungen bei Kindern etwa belege nun dieses Fehlen von besonderen Schutzmaßnahmen.
Wichtig ist Wild aber auch, dass nicht nur auf körperliche oder psychische Vorerkrankungen bei Menschen generell geachtet wird, wenn es um Vulnerabilitäten geht. Vernachlässigt wird aus ihrer Sicht zu oft das soziale Umfeld. Und auch hier habe sich doch in der Corona-Pandemie gezeigt, dass zum Beispiel Bildungsungleichheiten zugenommen haben, oder dass Kinder und Jugendlichen in beengten Wohnverhältnissen oftmals unter den Isolationsmaßnahmen noch einmal stärker gelitten haben als Gleichaltrige in wohlhabenderen Verhältnissen. Da man längst nachgewiesen hat, dass es für die Gesundheit ganz entscheidend ist, wo und wie ich lebe, müssten aus ihrer Sicht soziale Kriterien wesentlich stärker in den Fokus der Gesundheitsversorgung und auch der Gesundheitsprävention generell gerückt werden, also nicht nur bei Kindern und Jugendlichen.
Expertin warnt: Risikopatienten dürfen nie nur "Opfer" werden
Dabei geht es bei der Suche nach Vulnerabilitäten und bei der Entwicklung von Schutzmaßnahmen vor allem darum, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, betont Wild. Nicht passieren darf ihrer Einschätzung nach dabei, dass Menschen, wie dem transplantierten Daniel, Menschen also, die aufgrund einer Erkrankung oder auch aufgrund sozialer Rahmenbedingungen ein höheres gesundheitliches Risiko tragen, der Begriff der "Vulnerabilität" als stigmatisierendes „Etikett“ aufgeklebt wird, als „arme Opfer“, für die man meist nur Mitleid übrighat. Denn das ändere ja nichts an deren Situation. "Wo eine Vulnerabilität identifiziert wird, muss es sofort darum gehen, wie sie verkleinert oder verhindert werden kann, und wer dafür die Verantwortung trägt."
Am Beispiel Maskenpflicht erklärt Wild aber auch, dass ihrer Beobachtung nach in unserer Gesellschaft der Handlungswillen des Einzelnen oder auch in der Politik manchmal nicht groß genug ist, um gerechtere und gesündere Bedingungen für alle zu schaffen. „Schutzkonzepte bedeuten manchmal eben auch, dass man sich zum Wohle aller einschränken muss. Manchmal wird dann aber nur der Teil der Gesamtsituation gesehen, der für einen selbst wichtig ist, und eine Einschränkung wird vielleicht gar nicht als nötig gesehen.“