Es war der 23. Februar, ein Dienstag, als die 22-jährige Elisabeth den Bus nach Ingolstadt nahm. Im wenige Kilometer nördlich davon gelegenen Dürrnhof war sie als Kinderschwester untergekommen – bei der ihr aus Ulm bekannten Familie von Richard Scheringer. Jetzt wollte sie sich auf dem Arbeitsamt in Ingolstadt nach einer anderen Stelle erkundigen. Danach hatte sie noch genügend Zeit, denn der Bus verkehrte nur selten zwischen der Stadt und dem Einödhof.
Elisabeth setzte sich in ein Café, sie griff zur Zeitung. Was dann folgte, war ein Schock. Unfassbar, was da stand. Es traf die junge Frau ins Mark. Ihr Bruder und ihre Schwester, erfuhr sie aus der Zeitung, lebten nicht mehr. Sie waren tags zuvor im Gefängnis in München-Stadelheim hingerichtet worden. Sie waren Hochverräter, stand da.
Elisabeths Geschwister, das waren Hans und Sophie Scholl, zwei Hauptfiguren der studentischen Widerstandsbewegung „Weiße Rose“. Mit der Macht des Wortes haben sie sich unter dem Eindruck der Kriegsgräuel gegen das nationalsozialistische Deutschland aufgelehnt. Insgesamt sechs Flugblätter verfassten, vervielfältigten und verteilten die Mitglieder der „Weißen Rose“. 70 Jahre ist es jetzt her, dass Hans und Sophie Scholl und ihr Freund Christoph Probst umgebracht wurden. Ihre Köpfe wurden mit dem Fallbeil abgehackt.
„Da habe ich mir einfach gewünscht, ich wäre wahnsinnig“, sagte Elisabeth vor einigen Jahren einem Schweizer Radiosender. Im Gespräch hat sie diesen Satz nicht noch einmal über die Lippen gebracht. Die zierliche Frau wohnt im Stuttgarter Osten – mit fast 93 Jahren allein in einem vierstöckigen Haus. „Hartnagel“ steht an der grünen Eingangstür. Und an der Klingel ist zu lesen: „Fritz Hartnagel“, obwohl Elisabeths Mann 2001 gestorben ist.
Eine Freundin öffnet die Tür. Ein knarzender Treppenaufgang führt hinauf in den Wohnbereich. Elisabeth Hartnagel sitzt auf einem schwarzen, abgewetzten Ledersofa. An einer Wandseite türmen sich sechs Regaletagen hoch Bücher, dazwischen glasierte Tonkrüge und getrocknete Zapfen. Und ganz unten, etwa in der Mitte des Bücherregals, das fast bis zur Decke reicht, ist ein Werk über Hans Scholl griffbereit. Daneben steht „Doktor Faustus“ von Thomas Mann.
Lesen – das ist eine der Hauptbeschäftigungen der 92-jährigen Frau. Jetzt aber spricht sie mit leisen, eindringlichen Worten über die Geschichte ihrer Familie. Die Kindheit in der Gemeinde Forchtenberg am Kocher, wo Vater Robert zehn Jahre lang Bürgermeister war, verlebte sie unbeschwert mit ihren vier Geschwistern. Das Alter der Kinder, geboren zwischen den Jahren 1917 und 1922, lag dicht beieinander. „Deshalb waren wir auch immer Spielkameraden.“
Nachdem Scholl 1930 nicht mehr wiedergewählt wurde, ließ er sich mit seiner Familie – nach einer kurzen Tätigkeit in Ludwigsburg – als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in Ulm nieder. Alle Söhne und Töchter gingen mit Begeisterung in die Hitlerjugend, erlebten dort Gemeinschaft und übernahmen Führungsaufgaben, was dem pazifistisch eingestellten Vater überhaupt nicht passte. „Das haben wir Kinder einfach damit abgetan, dass er zu alt für so was ist und es nicht begreift.“
Doch Robert Scholl hatte sehr wohl begriffen, was sich da abspielte. Und auch dem Nachwuchs dämmerte es im Laufe der Zeit – als manche Lieder nicht mehr gesungen, bestimmte Schriftsteller nicht mehr gelesen werden durften und Freunde geschnitten werden sollten, weil sie jüdischen Glaubens waren. „Es war kein einzelnes Ereignis, es waren viele Mosaiksteinchen, die Hans und Sophie zu Gegnern von Hitler und dem Nationalsozialismus machten. Es hat sich so entwickelt“, erzählt die letzte Überlebende der Geschwister Scholl. Eigentlich gibt sie keine Interviews mehr. „Es ist eine Ausnahme“, sagt sie.
Das jüngste der fünf Kinder, Werner, war der Erste, der gegen das Dritte Reich aufmuckte. Im Alter von 15 oder 16 Jahren hat er die Augen der Justitia vor dem Landgericht in Ulm mit einem Hakenkreuztuch verbunden. Und bei einer Versammlung der NSDAP im Ulmer Saalbau ließ er – mit einer langen Zündschnur – einen Kanonenschlag los und verduftete rechtzeitig. „Er hat es später erzählt. Ansonsten war Werner ein großer Schweiger“, sagt Elisabeth Hartnagel und setzt ein verschmitztes Lächeln auf. Ihr gefällt noch heute, was ihr Bruder damals angestellt hat.
Grüblerisch wirkt sie, als es um die Ereignisse im Februar 1943 geht. „Nachdem ich vom gewaltsamen Tod von Hans und Sophie wusste, bin ich bis abends nur planlos herumgeirrt.“ Zurück auf dem Dürrnhof rief ihre Mutter Magdalena an. Man verabredete sich für den nächsten Tag in München am Bahnhof.
Elisabeth reiste von Ingolstadt an, ihre Eltern, Inge und Werner kamen aus Ulm. Auf dem Friedhof am Perlacher Forst wurden die enthaupteten Geschwister beigesetzt. Der Vater hatte ein Grab gekauft. Die Mutter stand wort- und tränenlos zwischen den Särgen. Ihre Hände streichelten das Holz. Schließlich sagte sie doch etwas, das Elisabeth Hartnagel sieben Jahrzehnte später wiederholt: „Jetzt trägt der Hans die Sophie.“ Der Bruder war zuerst beigesetzt worden.
Eine kleine Trauergemeinde erwies den „Hochverrätern“ die letzte Ehre. Neben der Familie und dem Pfarrer kam nur die Studentin Traute Lafrenz, die Freundin von Hans Scholl. Sonst war keiner der Münchner Kommilitonen bereit, am Grab derer zu stehen, die nicht nur über die Zustände geschimpft, sondern gegen die Diktatur ein sichtbares Zeichen gesetzt hatten. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) überwachte die Beisetzung.
Das Terrorregime verbreitete Angst und Schrecken. Rückblende: Der erste Senat des Volksgerichtshofes, der normalerweise in Berlin tagte, wurde mit einer Sondermaschine nach München eingeflogen. Im Justizpalast wütete der berüchtigte „Blutrichter“ Roland Freisler, der die Angeklagten lächerlich zu machen versuchte, ihnen das Wort abschnitt, sie niederbrüllte. Davon ließ sich vor allem Sophie Scholl äußerlich nicht beeindrucken. Das hielt Freisler jedoch nicht davon ab, kurzen Prozess zu machen.
Am 18. Februar 1943 waren Hans und Sophie Scholl vom Hörsaaldiener Jakob Schmied dabei beobachtet worden, wie sie in der Münchner Universität kurz vor 11 Uhr von der Balustrade im zweiten Stock Flugblätter in den Lichthof hinabwarfen. Nach der widerstandslosen Festnahme mussten sie zermürbende Verhöre über sich ergehen lassen, die die Grundlage für den Schauprozess lieferten. Nachdem es nichts mehr zu leugnen gab, versuchten die Todgeweihten möglichst viel Schuld auf sich zu nehmen. Freunde und Mitstreiter sollte nicht dasselbe Schicksal ereilen. Nur vier Tage später wurden sie mittags abgeurteilt. Am späten Nachmittag fiel dann das Fallbeil.
Elisabeth wusste von den lebensgefährlichen Aktivitäten ihres Bruders und ihrer Schwester nichts. Gut 14 Tage vor deren Festnahme war sie in München zu Besuch. Am Abend des 3. Februar 1943 verabschiedete sich der Medizinstudent Hans Scholl von seinen Schwestern. Er müsse mit den Freunden Alexander Schmorell und Willi Graf noch in die Frauenklinik. Tatsächlich aber legten die jungen Männer in München Flugblätter aus und schrieben an Wände „Nieder mit Hitler“ und ganz groß an die Fassade der Universität „Freiheit“.
Die Frauen gingen derweil im Englischen Garten spazieren. Als Sophie meinte, jetzt müsste man eine Mauerinschrift anbringen, zog die Schwester treuherzig einen Bleistift aus der Handtasche. „Mit Teerfarbe muss man so was machen“, sagte Sophie. Elisabeth warnte: „Das ist aber wahnsinnig gefährlich.“ Die Schwester entgegnete nur: „Die Nacht ist des Freien Freund.“ „Meine beiden Geschwister waren sich im Klaren darüber, dass sie ihren Kopf verlieren, wenn sie erwischt werden“, sagt Elisabeth Hartnagel im Rückblick.
Wenige Tage nach der Beerdigung wurden die Scholls bis auf Werner – er gehörte als Sanitätssoldat der Wehrmacht an – ohne Angabe von Gründen in Schutzhaft genommen – „die ersten Fälle von Sippenhaft im 20. Jahrhundert“, schrieb der Journalist Erich Kuby. Den „Gefängnisfraß“ wird Elisabeth Hartnagel nie vergessen. Die Frauen schliefen auf blankem Beton. In der Zelle stand ein Krug mit Wasser, der nachgefüllt wurde. Ein Fass mit Salz gehörte zur Ausstattung und eine Bibel. Mit einer Art „spanischen Wand“ war der „Sanitärbereich“ abgetrennt, der aus „einem Kübel mit Deckel“ bestand. Einmal am Tag wurde er geleert. Elisabeth wurde wegen einer Nieren- und Blasenentzündung nach zwei Monaten entlassen, die anderen Frauen mussten drei Monate länger bleiben.
Der Vater war wegen weiterer Vorwürfe bis November 1944 im Gefängnis. Ein absurd anmutendes Zugeständnis machte die Gestapo dem Steuerberater Scholl aber doch. Da die Jahresabschlüsse anstanden, durfte Tochter Elisabeth die Akten vom Büro ins Gefängnis bringen, so dass die Geschäfte der Kanzlei weiterliefen. Die Akten dienten auch dazu, kleine Zettel mit Nachrichten ins Gefängnis zu schmuggeln.
In Freiheit fühlte sich Elisabeth Hartnagel wie eine Ausgestoßene. Viele von Vaters Kunden wollten nichts mehr mit der Familie zu tun haben – das sei „nichts Persönliches, aber wegen des Geschäfts“. Passanten wechselten die Straßenseite. Elisabeth suchte lange nach einem Rechtsanwalt, der bereit war, die Familie zu verteidigen. Und einmal stand vor der Tür der Wohnung am Münsterplatz eine fremde Frau: „Ich wollte nur mal sehen, wie jemand aussieht, dem zwei Geschwister geköpft worden sind“, sagte sie und verschwand. Die Wohnung, die der Württembergischen Metallwarenfarbrik (WMF) gehörte, wurde den Scholls mit der Begründung gekündigt, eine Weltfirma könne nicht an Hochverräter vermieten.
Eine ungeheuer wertvolle Stütze hatte Elisabeth in dieser Zeit der Ablehnung: den Berufsoffizier Fritz Hartnagel. Er hatte die Familie bereits im Gefängnis besucht. Jetzt verhalf er Elisabeth zu einer Anstellung bei seiner Schwester. Ursprünglich war Hartnagel mit Sophie Scholl befreundet. Die beiden lernten sich beim Tanzen kennen, er 20, sie 16. Später musste er sich von Nachbarn anhören: „Es ist kein Wunder, dass Deutschland den Krieg verliert, wenn ein deutscher Offizier ein Trauerband für eine Volksverräterin trägt.“
Er und Sophie schrieben sich Hunderte von Briefen, in denen es um Krieg und Liebe geht. Die Trauer über den Verlust der Geliebten und der Schwester brachte Fritz Hartnagel und Elisabeth Scholl zusammen. „Man war einfach auch allein“, sagt die alte Dame. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft heirateten die beiden.
55 Jahre waren sie ein Ehepaar, lebten bis 1970 in Ulm, dann in Stuttgart. Vier Söhne gingen aus der Ehe hervor. Kurz vor seinem Tod im April 2001 ermunterte der Ehemann seine Frau, die sorgsam aufbewahrten Briefe zu lesen. Nach seinem Tod tat Elisabeth Hartnagel auf Anraten des jüngsten Sohnes noch mehr: Sie wählte Auszüge für das Buch „Damit wir uns nicht verlieren: Briefwechsel 1937-1943“ aus und tippte sie „mit zwei Fingern auf einer uralten Schreibmaschine“ ab.
Dass die Schwester zur Ikone geworden ist, „das geht mir schon auf die Nerven und das hätte ihr auch nicht gepasst“, sagt Elisabeth Hartnagel. Denn damit werde man der „Weißen Rose“ nicht gerecht. „Ohne Hans Scholl und Alexander Schmorell hätte es die Weiße Rose nicht gegeben.“ Beide hatten die ersten vier Flugblätter verfasst. „Ohne Sophie schon.“
Die Familie Scholl
Robert Scholl (1891-1973) war Bürgermeister in Ingersheim-Altomünster und Forchtenberg, zog zu Beginn der 30er Jahre als Steuerberater nach Ulm. Er kam mehrfach ins Gefängnis, 1942 wegen einer abfälligen Bemerkung über Hitler. Magdalena Scholl (1881-1958), geborene Müller, lernte als Krankenschwester im Reservelazarett Ludwigsburg ihren Mann kennen. Inge Scholl (1917-1998) war in der Steuerkanzlei des Vaters in Ulm tätig. 1946 gründete sie in der Donaustadt eine der ersten Volkshochschulen in Nachkriegsdeutschland. 1972 zog sie mit ihrem Mann und fünf Kindern nach Rotis ins Allgäu. Hans Scholl (1918-1943) erlebte in der Studentenkompanie die Kriegsgräuel. Der Medizinstudent war Mitbegründer der „Weißen Rose“. Elisabeth Scholl (*1920) erlernte die Berufe der Kindergärtnerin und Kinderschwester. Sie heiratete 1945 Sophies Freund Fritz Hartnagel. Heute lebt sie in Stuttgart. Am 27. Februar wird sie 93 Jahre alt. Sophie Scholl (1921-1943) war wie ihr Bruder in der „Weißen Rose“. Sie wurde am 22. Februar 1943 vor Hans hingerichtet. Werner Scholl (1922-1944) stand als Sanitätssoldat der Wehrmacht an der russischen Front. Seit Juni 1944 gilt er als vermisst. TEXT: AZ