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München
Wie steht es um unser Schulsystem, Herr Meidinger?
Sagt Heinz-Peter Meidinger etwas, diskutiert Deutschland darüber. Nun geht der Präsident des Lehrerverbands in den Ruhestand – und verabschiedet sich mit großen Forderungen.
Heinz-Peter Meidinger, hier Ende September in Berlin, warnt vor einem «massiven Niveauverlust» an den Schulen. Foto: Soeren Stache       -  Heinz-Peter Meidinger ist der bekannteste Lehrervertreter Deutschlands.
Foto: Soeren Stache, dpa (Archivbild) | Heinz-Peter Meidinger ist der bekannteste Lehrervertreter Deutschlands.
Sarah Ritschel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:33 Uhr

Herr Meidinger, Sie sind der bekannteste Lehrer-Vertreter Deutschlands. Jetzt gehen Sie in den Ruhestand. Wie schnell werden Sie sich daran gewöhnen, dass nicht mehr über jede Ihrer Äußerungen in ganz Deutschland diskutiert wird?

Heinz-Peter Meidinger: Oh, der Phantomschmerz wird sich in Grenzen halten. Ich bin seit 2020 als Schulleiter im Ruhestand. Als Pensionist weiterhin aktive Lehrkräfte vertreten? Das will ich nicht. Irgendwann ist man einfach zu weit weg vom Schulalltag. Und ich freue mich, endlich Herr meiner Terminplanung zu sein, ins Theater zu gehen, wieder mehr zu lesen. Ich bin eigentlich eine echte Leseratte. Aber in den letzten Jahren habe ich fast nichts anderes gelesen als Bildungsstudien. 

Sie haben oft sehr zugespitzte Begriffe verwendet, nannten etwa den Einsatz unzureichend nachqualifizierter Quereinsteiger an Schulen ein "Verbrechen an Kindern". Ihre Aussagen dazu, dass Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule hinterherhinken, brachte Ihnen kürzlich den Vorwurf des Rassismus ein. Prallt so etwas an Ihnen ab?

Meidinger: Das ist manchmal eine Gratwanderung. Klar, solche Vorwürfe freuen einen nicht. Vielleicht habe ich das ein oder andere Mal Worte gewählt, die missverstanden werden konnten. Was ich immer sagen wollte: Wir schaffen es bislang nicht, den steigenden Anteil von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte entsprechend zu fördern. Es gibt genügend Studien, die beweisen, dass diese Kinder in der Schule im Schnitt größere Probleme haben als deutsche – und dass sich das potenziert, je mehr von ihnen zusammen in einer Klasse lernen. Es ist wichtig, dass man das erkennt und zu einer ausgewogeneren Verteilung der Schülerinnen und Schüler kommt. Die Staatsregierung sollte auch gezielt um Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte werben. Sie können diesen Schülerinnen und Schülern als Vorbild dienen.

Sie kennen das System Schule seit mehr als 40 Jahren, haben 1982 als Referendar an einem Gymnasium in Deggendorf angefangen. Was waren – neben der Zuwanderung – Ihrer Meinung nach die drei größten Umwälzungen in dieser Zeit?

Meidinger: Eine große Umwälzung ist natürlich die Digitalisierung, die sich an den Schulen durch die Pandemie noch beschleunigt hat. Ebenfalls eine riesige Veränderung: Das Leistungsprinzip wurde kontinuierlich entwertet, die Notenschnitte werden immer besser. Aber wenn man möchte, dass Kinder ihr Leben einmal selbst in die Hand nehmen, müssen sie auch gefordert werden und mit Misserfolgen umgehen lernen. Und: Die Schülerschaft ist heterogener geworden. Zum einen mit Blick auf Migration, zum anderen haben sich auch die gesellschaftlichen Milieus ausdifferenziert. Andererseits: Auch in meiner Elterngeneration gab es in der Schule schon Heterogenität. Damals saßen Kinder am Lande von der ersten bis zur achten Klasse zusammen in einem Klassenzimmer (lacht). 

Gibt es auch positive Umwälzungen?

Meidinger: Natürlich. Schule ist pädagogischer geworden. Es wird heute erheblich mehr vom Kind aus gedacht als zu meiner eigenen Schulzeit. Das Prinzip: "Friss Vogel, oder stirb" gibt es heute nicht mehr. 

Hat der Unterricht heute noch irgendetwas mit Ihrer eigenen Schulzeit zu tun? Jüngst meinten Sie ja, man solle in der Grundschule "Schnickschnack" wie zum Beispiel Englischunterricht weglassen.

Meidinger: Erst einmal: Ich bin wahnsinnig gerne in die Grundschule gegangen. Ich hatte eine Lehrerin, die uns Schüler geliebt hat. Natürlich wurde viel auf die Grundkompetenzen geschaut: Wir haben Diktate geschrieben ohne Ende, mussten rauf und runter Kopfrechnen. Dieses Starren auf die Fehler, zum Beispiel bei der Rechtschreibung: Das ist nicht mehr so, heute herrscht eine andere Art von Pädagogik. Da hat sich viel zum Positiven verändert. Aber Englisch gab es zu meiner Grundschulzeit in der Tat noch nicht. 

Ihre Aussage zum "Schnickschnack", der zulasten der Kernkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen geht, tätigten Sie in Reaktion auf die IGLU-Studie, wonach jedes vierte Grundschulkind nicht die Mindestanforderungen im Lesen erfüllt. Was muss sich da ändern?

Meidinger: Wir müssen uns wieder mehr auf die Basics konzentrieren, etwa den Lese- und Schreibunterricht. Bayerns Grundschulkinder haben pro Woche zwei Stunden Englisch, die für eine höhere Fremdsprachenkompetenz herzlich wenig bringen. Studien zeigen, dass zwei Jahre Englisch an der Grundschule in etwa dem Lernfortschritt von zwei bis drei Wochen Fremdsprachenunterricht an einer weiterführenden Schule entsprechen. Statt Englisch sollte man in diesen Stunden Lesen üben. Ein Schlüssel zu mehr Lese- und Sprachkompetenz ist außerdem die vorschulische Förderung. Es braucht verbindliche Sprachstands-Tests für Vierjährige und eine verpflichtende vorschulische Förderung für Kinder mit Sprachdefiziten. Da sind wir in Bayern noch zu nachlässig und zurückhaltend. Deswegen sackten auch bei uns die Leistungen von Kindern mit Zuwanderungshintergrund bei der letzten IQB-Grundschulstudie stärker ab als in anderen Bundesländern.

Ist der Politik der Ernst der Lage bewusst?

Meidinger: Offenbar nicht. Ich vermisse den IGLU-Schock. Nach dem Pisa-Schock 2001 hat man konkrete Handlungsfelder benannt, in denen sich im schulischen Bereich etwas ändern musste – und das auch in Angriff genommen. Jetzt passiert nichts dergleichen. Doch wenn 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht so viel Lesekompetenz haben, dass sie vernünftig lernen können, werden sie sich unglaublich schwertun auf ihrer weiteren Laufbahn, wohl nie ein Gymnasium besuchen, womöglich keinen Schulabschluss machen. Das ist sozialer Sprengstoff. Aber der Lehrkräftemangel erschwert es natürlich, dieses Dilemma zu lösen. 

Kann Künstliche Intelligenz bald eine Lehrkraft ersetzen?

Meidinger: Die Künstliche Intelligenz wird wohl in nicht ferner Zukunft Lehrkräfte teilweise bei der Korrektur und der Unterrichtsvorbereitung entlasten und auch dabei helfen können, den Lernstand eines einzelnen Schülers genau festzuhalten. Eine engagierte und gut qualifizierte Lehrkraft wird sie aber nie ersetzen können. Gerade Kinder, die besonderer Förderung bedürfen, brauchen menschlichen Kontakt, den eine KI niemals wird bieten können. 

Herr Meidinger, den Lehrkräftemangel dürften Sie in Ihrer Amtszeit nicht mehr beheben können. Aber lassen Sie uns zurückblicken: Worauf sind Sie stolz?

Meidinger: Ich bin stolz darauf, dass ich persönlich und mit meinem Verband zur Rückkehr des G9 in Bayern und anderen Bundesländern beitragen konnte. Auch darauf, dass wir in Hamburg 2009 zusammen mit Elterninitiativen die sechsjährige Grundschule verhindert haben, was eine bundesweite Signalwirkung hatte. Was mich aber nervt, ist, dass wir über manche Dinge seit 30 Jahren reden und nicht weiterkommen, zum Beispiel bei den unterschiedlichen Anforderungen, die in Abschlussprüfungen an Schülerinnen und Schüler gestellt werden. Das ist von Bundesland zu Bundesland immer noch extrem unterschiedlich.

Wenn Sie bald auf Ihrer Terrasse sitzen, Ihren Roman beiseitelegen und die Zeitung aufschlagen: Was würden Sie gerne darin lesen?

Meidinger: Ich würde mich freuen, wenn der Negativtrend bei den schulischen Leistungen und bei der Integration von zugewanderten Schülerinnen und Schülern gestoppt wäre – und wenn die schlimmste Zeit des Lehrkräftemangels bald überstanden wäre.

 
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