Für ein Bundesland, das es gewohnt ist, in Sachen Bildung – vor allem, was das Leistungsniveau angeht – oft der Klassenprimus zu sein, dürfte es sich wie eine ziemlich vergeigte Prüfung anfühlen. Oder wie ein blauer Brief mit wenig schmeichelndem Inhalt. Und in der Tat ist das, was im neuen Bericht des Münchner ifo-Instituts steht, ein ziemlicher Rüffel. Bayern ist bei der Bildungsgerechtigkeit das Schlusslicht. In keinem anderen Bundesland hängt es so sehr vom familiären Hintergrund ab, ob ein Kind aufs Gymnasium geht.
Deutschlandweit besuchen 26,7 Prozent der Kinder mit sogenanntem "niedrigem Hintergrund" – damit ist gemeint, dass kein Elternteil Abitur hat und das Haushaltseinkommen nicht im oberen Viertel liegt – ein Gymnasium. Mit "höherem Hintergrund" sind es fast 60 Prozent. "Die Ungleichheit der Bildungschancen ist in allen Bundesländern sehr stark ausgeprägt", heißt es in der Studie. Es gebe aber deutlich Unterschiede. Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz etwa weisen der Erhebung zufolge etwas bessere Chancenverhältnisse auf, Sachsen und Bayern schlechtere. Im Freistaat Bayern liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen auf ein Gymnasium gehen, nur bei rund 20 Prozent.
Studie sieht Nachteile bei Übertritt nach der vierten Klasse
Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), findet angesichts der Studienergebnisse deutliche Worte: "Wir verlieren die Kinder, die aus sozio-ökonomisch schwachen Elternhäusern kommen. Wir müssen hinschauen! Und man muss sich endlich fragen: Ist das eine Schulstruktur, die allen gerecht wird?" Fleischmann fordert "eine mutige Politik", und zwar sofort "und nicht nur dann, wenn Wahlen anstehen. Die Zeit sei reif für eine Neustrukturierung des Schulsystems. Denn die Studie zeige, dass eine spätere Aufteilung auf andere Schularten die Chancengleichheit erhöhe. In Bayern aber halte man weiter daran fest, dass Schülerinnen und Schüler schon nach der vierten Klasse auf eine weiterführende Schule gehen. "Die Studie zeigt doch, dass dieser frühe Übertritt ausgedient hat", sagt Fleischmann gegenüber unserer Redaktion.
In der Tat zeigt der Bericht deutlich, dass es eine große Rolle zu spielen scheint, wann die Kinder auf weiterführende Schularten übertreten. So sind Berlin und Brandenburg, also die Länder mit dem ausgeglichensten Chancenverhältnis, der Untersuchung zufolge die einzigen beiden Bundesländer, in denen die Schülerinnen und Schüler die Entscheidung nicht bereits nach der vierten, sondern erst nach der sechsten Klasse treffen müssen. Was der Untersuchung zufolge indes keine Auswirkungen hat: die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in einem Bundesland. "Dieser Anteil hat keinen systematischen Zusammenhang mit dem Chancenverhältnis", heißt es in der Studie. Ebenfalls gebe es keinen Ost-West-Unterschied und auch die wirtschaftliche Lage eines Bundeslandes liefere keine Erklärung. Auch gelinge es Bundesländern, die mehr für Bildung ausgeben – und in denen entsprechend mehr Geld pro Kopf für die Förderung der Schulkinder zur Verfügung steht – nicht, eine bessere Chancengleichheit herzustellen.
Bayerns Kultusministerin Stolz kritisiert die ifo-Studie
Professor Andreas Hartinger, Inhaber des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Universität Augsburg, beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, welche Faktoren die Chancengleichheit in der Bildung beeinflussen. Auch er spricht sich dagegen aus, Kinder bereits nach der vierten Klasse auf eine weiterführende Schule zu schicken. "Die Kinder sind neun oder zehn Jahre alt, da schon zu prognostizieren, welche Schulart für sie passt, ist sehr schwer. Ich würde den Übertritt nach hinten schieben." Allerdings könne der frühe Wechsel an eine andere Schule nicht der einzige Grund für die schlechte Platzierung Bayerns in der ifo-Studie sein, sagt Hartinger – schließlich gebe es auch Bundesländer, die relativ gut abschneiden, und die die Schülerinnen und Schüler aber ebenfalls nach vier Schuljahren aufteilen, Rheinland-Pfalz etwa. "Ich glaube, dass es in Bayern auch eine Rolle spielt, dass beim Übertritt nicht der Elternwille zählt, sondern die Noten", sagt Hartinger. In anderen Bundesländern gebe es eher Empfehlungen, es würde mehr berücksichtigt, was sich die Eltern für ihr Kind wünschen. Der Pädagogik-Professor würde dieses Modell auch für Bayern empfehlen – um dabei aber auch die Eltern zu erreichen, die selbst nicht auf dem Gymnasium waren und sich vor dieser Schulart scheuten oder sie gar nicht in Betracht zögen, müsse es aber gute Beratungsangebote geben, fordert er.
Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) kritisierte derweil die Herangehensweise der Studie. "Die einseitige Betrachtungsweise der ifo-Studie, "Chancengerechtigkeit" einzig und allein an den Besuchsquoten des Gymnasiums festzumachen, ist mehr als fragwürdig und gesellschaftspolitisch geradezu fatal. Bildungsgerechtigkeit bedeutet für mich, dass alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich nach individuellen Begabungen gefördert werden." Die Studie setze alle weiteren Schularten, Bildungs- und Berufswege massiv herab. "Das ärgert mich sehr." Fleischmann vom BLLV kontert: "Dass die Ministerin die Studie anzweifelt, ist peinlich. Man muss die Studienergebnisse ernst nehmen. Die Lehrerinnen und Lehrer sehen doch jeden Tag, wie die Kinder leiden."
Katharina Schulze: "Totalversagen der Söder-Regierung"
Die Frage der Chancengleichheit ist längst ein Politikum geworden, an dem sich natürlich vor allem die Oppositionsparteien reiben. "Die Ergebnisse der Studie sind ein Schock! Wir als SPD akzeptieren das nicht. Wir wollen, dass alle Kinder beste Chancen auf Schulerfolg und gute Ausbildung haben – unabhängig vom Geldbeutel und Abschluss der Eltern", sagt etwa Florian von Brunn, Vorsitzender der SPD in Bayern und Fraktionschef im Landtag. Katharina Schulze, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, spricht von einem "Totalversagen der Söder-Regierung" in Sachen Chancengleichheit. "Denn sie hält noch immer an einem Schulsystem fest, das aus dem letzten Jahrtausend stammt."