Kürzlich hat Schulleiterin Katja Seitz etwas Gutes erlebt. Sie erinnert sich genau an den Tag, als einer ihrer Schüler sagte: „Frau Seitz, Schule ist ja doch nicht das Allerschlimmste im Leben.“ Für den Schüler und für seine Lehrerin ist dieser Satz ein großer Erfolg. Der Junge besucht die St.-Josef-Schule für Kranke an der Augsburger KJF-Klinik Josefinum. Hier lernen psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche, die ihre Regelschule wegen der Therapie nicht besuchen können – Förderschüler, Grundschülerinnen, Mittel- und Realschüler, Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Viele von ihnen waren lange nicht in ihrer eigentlichen Klasse, haben eine schwierige Beziehung zur Schule oder Traumatisierungen erlebt. „Unser Ziel ist es, den Schülerinnen und Schülern die Freude am Lernen zurückzugeben", sagt Seitz, "und sie wieder in eine Klassengruppe zu integrieren."
Alles hier sieht aus wie in einer normalen Schule. Nur auf den Gängen ist es leiser, weniger Geschrei, Gelächter und Getrappel. An den Pinnwänden in den Klassenzimmern hängen selbstgebastelte Plakate, immer mit Magneten, nie mit Pin-Nadeln. Desinfektionsmittel gibt es nicht, es ist giftig, wenn man es trinkt.
Rund 100 Kinder und Jugendliche lernen an der Schule für Kranke
In der Schule am Josefinum, die von der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) der Diözese Augsburg betrieben wird, unterrichten Lehrkräfte aus allen Schularten derzeit rund 100 Kinder und Jugendliche. In der Klasse von Schulleiterin Seitz beginnt der Tag mit dem Morgenkreis. Eine Handvoll Schülerinnen und Schüler sitzen um sie herum, weniger als in einer regulären Klasse. Draußen würden sie die Förder- oder Mittelschule besuchen, fünfte bis siebte Klasse. Die erste Frage der Lehrerin ist simpel: „Wie geht es dir heute?“, fragt sie. „Ganz gut“, sagt ein Mädchen. „Geht so“, ein Junge. Ein anderer sagt nichts, die Augen unter langen Haarsträhnen verborgen.
Sobald die behandelnden Ärzte junge Patienten in der Lage sehen, am Unterricht teilzunehmen, besteht auch für langfristig erkrankte Kinder und Jugendliche in Bayern Schulpflicht. 16 Schulen für Kranke gibt es im Freistaat. Je nachdem, an welche Klinik sie angedockt sind, teilen die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Krankheitsbilder. Das Josefinum ist auf psychiatrische Erkrankungen spezialisiert, an anderen Klinikschulen kommen Kinder mit Herz- oder Krebserkrankungen, Unfallverletzungen oder chronischen Leiden zusammen. Manche Klinik kooperiert auch mit Schulen vor Ort, anstatt eine eigene zu betreiben. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler im Unterricht für Kranke schwankt natürlich ständig, bei einer letzten Erhebung des Kultusministeriums im Oktober 2021 hatten 2430 klinisch betreute Schüler in ganz Bayern dort gelernt.
Die Lehrkräfte hier in Augsburg wissen, welches „Päckchen“ jeder Schüler zu tragen hat, stehen ständig in Kontakt mit den Kliniktherapeutinnen und -therapeuten. „Es sind alle Arten von psychischen Erkrankungen: Depressionen, Essstörungen, Autismus, Angststörungen“, zählt die Schulleiterin auf. Manchmal dauert es Wochen, bis die Patienten bereit dafür sind, wieder mit anderen zu lernen. Gerade sind es besonders viele. „Die Klinik ist randvoll, an unserer Schule sind wir mehr als ausgelastet“, sagt Katja Seitz. „Wir bemühen uns aber, für jedes Kind und jeden Jugendlichen ein passendes Angebot zu schaffen.“
Essstörungen bei weiblichen Jugendlichen steigen um 130 Prozent
Dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nach der Corona-Pandemie häufiger auftreten als vorher, beweisen mehrere Studien, zuletzt etwa der Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK. Angststörungen zum Beispiel nahmen demnach bei 15- bis 17-Jährigen in Bayern im Vergleich zu vor der Pandemie um 45 Prozent zu, depressive Episoden um 25 Prozent, besonders bei Mädchen. Die Zahl der Essstörungen stieg bei weiblichen Jugendlichen um 130 Prozent. Kinder zwischen zehn und 14 Jahren litten zuletzt ebenfalls häufiger an Depressionen und Verhaltensstörungen.
Im bayerischen Kultusministerium kennt man die Zahlen - und erklärt, was getan wird. Einer Sprecherin zufolge gibt es an den regulären Schulen rund 1850 Beratungslehrkräfte und 1000 Schulpsychologen. Seit dem Schuljahr 2018/2019 seien insgesamt 500 Stellen für die Schulpsychologie und für die Schulsozialpädagogik geschaffen worden. Seit dem letzten Schuljahr haben Beratungslehrkräfte außerdem deutlich mehr Zeit, um sich neben ihren Unterrichtsstunden um die Sorgen der Schüler zu kümmern.
Die Rektorin in Augsburg betont, dass sie und ihr Kollegium keine Therapeuten seien. „Unsere Aufgabe ist, die Schüler auf die Rückkehr in ihre Stammschule vorzubereiten und ihnen Wissen zu vermitteln.“ Das tun sie in den Fächern Mathe, Deutsch, Englisch und anderen Kernfächern, je nach Alter der Schülerinnen und Schüler zwei bis drei Stunden pro Tag. Sie stehen ständig in Kontakt mit der Stammschule, bekommen viele der Arbeitsaufträge von dort.
Die Klassen an der Schule für Kranke sind kleiner als an Regelschulen
In Seitz’ Klasse sind jetzt die Referate dran. Die Schülerinnen und Schüler haben sich die Themen selbst ausgesucht: griechische Götter, Jamaika, Homosexualität. Um ihre Diagnosen soll es hier nicht gehen. Einen Raum weiter experimentiert eine Gruppe Schülerinnen und Schüler aus Realschule und Gymnasium mit Metallschlegeln und Kleiderbügeln aus Draht. Lehrerin Sarah Eckstein will ihnen zeigen, wie Schallwellen übertragen werden. Sie hat vor ihrem Wechsel an die St.-Josef-Schule als Gymnasiallehrerin gearbeitet. „An der Arbeit mit den Kindern hier schätze ich, dass nicht nur das rein Fachliche im Vordergrund steht“, sagt Eckstein. „Hier arbeite ich mit weniger Schülerinnen und Schülern auf einmal, kann viel mehr auf den Einzelnen eingehen.“ Das hat nicht nur Vorteile für den Beziehungsaufbau, der bei psychisch erkrankten Kindern so wichtig ist.
Manchmal bewirkt die kleine Gruppe sogar, dass sich die Schüler nach ihrem Klinikaufenthalt in einzelnen Fächern verbessert haben. Einmal hat eine Schülerin hier ihre Abschlussprüfung für die Mittlere Reife geschrieben – im Krankenzimmer, jeden Tag vier Stunden. „Sie hat bestanden“, sagt die Schulleiterin. Seit ihrer Entlassung hat sie nichts mehr von der Jugendlichen gehört. An der Schule für Kranke ist das meistens ein gutes Zeichen.