Es gibt alltägliche Dinge, über die viele nicht nachdenken müssen. Jemandem eine Tasse Kaffee einzuschütten beispielsweise. Für Kerstin Rathgeb aus Dattenhausen im Landkreis Dillingen sieht die Sache aber ganz anders aus. „Noch vor einem halben Jahr wäre das unmöglich für mich gewesen“, sagt die 41-Jährige – und reicht noch etwas weihnachtliches Gebäck. Kerstin Rathgeb leidet an einer schweren Form der Multiplen Sklerose (MS).
Diese hatte sich in den vergangenen Jahren so zugespitzt, dass die Frau „schon jede Hoffnung verloren hatte“. Doch diese ist nun zurückgekehrt. „Gerade jetzt zu Weihnachten tut das so gut“, sagt die gelernte Erzieherin. Und sie ist sich sicher, dass sie bald Anlass hat zu noch mehr Hoffnung. Was ihr geholfen hat: ein sogenannter Neuromodulationsanzug. „Seitdem ich diesen benutze, geht es aufwärts. Und Medikamente brauche ich inzwischen gar keine mehr zu nehmen“, sagt sie.
Das Nervensystem wird angegriffen
Kerstin Rathgeb hat schon lange mit dem Thema MS zu tun. MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Nervenfasern des Zentralen Nervensystems angegriffen werden. Mit oft fatalen Folgen. So etwa kann der Sehnerv zerstört werden. Viele Betroffene schildern Sensibilitätseinbußen. Manche Patienten werden inkontinent, klagen über Lähmungen, heftige Spastiken, Schmerzen und können nicht mehr laufen. Die Erkrankung ist bis heute nicht heilbar. Allerdings sprechen manche Betroffene gut auf Medikamente an, die den Verlauf verzögern können.
„Bei mir ging das Ganze schon mit 17 los, da war ich noch in der Schule“, erinnert sich Kerstin Rathgeb. „Zunächst bemerkte ich Sehstörungen und Missempfindungen, die sich wie Stromschläge durch den Körper anfühlten.“ Es habe ungefähr eineinhalb Jahre gedauert, bis die Diagnose MS feststand. „Ich war dann froh, als ich endlich wusste, was mit mir los war.“ Zuvor mussten alle möglichen anderen Ursachen ausgeschlossen werden – etwa eine Tumorerkrankung im Gehirn.
Lange konnte Kerstin Rathgeb ganz normal ihr Leben führen
Doch zunächst konnte Kerstin Rathgeb ihr Leben weiterführen, als wäre sie nicht erkrankt. „Ich machte eine Ausbildung zur Erzieherin, arbeitete zudem nebenbei noch drei Nächte pro Woche in einer Disco.“ Zweimal im Jahr, meist im April und im Oktober, gab es dann einen Schub, bei dem die Symptome etwas schwerer wurden. „Warum die Krankheit in solchen Schüben verläuft, weiß man nicht. Aber ich konnte mich darauf einstellen.“ Die Beine wurden für sie wie Blei und immer kürzer die Wegstrecken, die sie zu Fuß gehen konnte. 2011 und 2012 war sie dann schwanger mit ihrem Sohn Leo. „Schon damals habe ich dauerhaft mein linkes Bein nachgezogen. Aber es war eine schöne Schwangerschaft“, erinnert sie sich. Nach der Geburt wurde es aber noch schwieriger. Die Symptome wurden erneut schwerer. Doch mit der Hilfe ihres Ehemannes Michael und ihrer Schwiegermutter Elisabeth, 79, die ebenfalls im gleichen Haus wohnt, konnte sie die Herausforderungen als junge Mutter bewältigen. „Ohne diese Hilfe wäre es aber nicht gegangen“, sagt sie.
Im November 2016 kam dann ihre Tochter Magdalena zur Welt. „Ab da konnte ich dann nicht mehr arbeiten gehen.“ Sie musste sich berenten lassen. „Es entstanden schlimmste Spastiken, begleitet von Schmerzen und erheblichen Schlafstörungen.“ Seit November 2021 saß Kerstin Rathgeb dann dauerhaft im Rollstuhl. Fast ein halbes Jahr konnte sie das Haus nicht verlassen. „Die Spastiken wurden so stark, dass mich selbst zwei Männer nicht ins Auto setzen konnten. Ich musste meinem eigenen Verfall zuschauen“, sagt Kerstin Rathgeb und dann kommen ihr die Tränen. Vor allem, dass ihre Erkrankung ihre Familie, ihre Kinder so belastet, macht ihr zu schaffen. „Ich bin eigentlich jemand, der es hasst, um Hilfe zu bitten.“ Doch es ging nicht mehr ohne fremde Hilfe. Auch ihre Kinder gehen der Mutter zur Hand.
"Ich hatte keinerlei Hoffnung mehr"
„Ich war austherapiert und hatte wirklich keinerlei Hoffnung mehr. Das war der tiefste Tiefpunkt.“ Doch Ende Mai dieses Jahres zeigte sich im Leben von Kerstin Rathgeb ein Hoffnungsschimmer. „Ich sah auf Instagram eine Frau, der es durch den Neuromodulationsanzug immer besser ging. Sie konnte sogar wieder tanzen gehen.“ Kerstin Rathgeb kann sich noch genau erinnern: „Am 22. Juni kam der Mitarbeiter der Firma Ottobock, die den Anzug herstellt, zu uns – und passte den Anzug bei mir an.“ Und: „Schon nach zehn Minuten wusste ich: Das ist es.“ Der Anzug gibt über die Dauer von einer Stunde leichte Stromstöße, die die Muskeln entspannen.
„Das klingt unspektakulär, hat aber die Konsequenz, dass es mir seitdem von Tag zu Tag besser geht.“ Inzwischen kann sie – wie beschrieben – wieder Kaffee einschenken. „Und ich kann mich beispielsweise umsetzen – vom Rollstuhl in einen normalen Stuhl.“ Das sagt sie – und demonstriert es im nächsten Augenblick. „Früher wäre das aufgrund der Spastiken nicht gegangen.“ Wichtig ist neben der Wirkung auch die Physiotherapie. „Meine Physiotherapeutin Moni ackert zweimal wöchentlich eine Stunde mit mir.“ Dieses Zusammenspiel aus Training und der Wirkung des Anzugs helfe sehr.
Jetzt geht Kerstin Rathgeb voller Hoffnung in das Weihnachtsfest. „Das Blatt hat sich gewendet, ich bin voller Zuversicht und kann mich richtig auf Weihnachten freuen.“ Und sie ist sich sicher: Der Weg der Besserung geht weiter. „Ich glaube, im Jahr 2023 kann ich wieder ein paar Schritte gehen. Mal sehen, wo ich Weihnachten 2023 stehe.“