Die alten Hasen unter den Schlossführern wundern sich über gar nichts mehr: Auf der Suche nach einem einzigartigen Neuschwanstein-Souvenir schreckt mancher Tourist nicht einmal vor Gewalt zurück. Da werden Borten von kitschig-blauen Brokatdecken geschnitten, dienen Taschenmesser und Nagelfeilen als Werkzeug, um Schmucksteine herauszubrechen oder Beschläge von mannshohen Schränken zu schrauben. Nicht einmal die Stalaktiten in der künstlichen Tropfsteinhöhle Ludwigs II. sind vor Vandalismus sicher: „Die werden in einem unbeobachteten Moment einfach abgerissen und eingesteckt“, sagt Heiko Oehme von der Bayerischen Schlösserverwaltung. Und der Frust in seiner Stimme ist klar zu hören.
Täglich bis zu 6000 Besucher
Schlimmer noch als das Raubrittertum auf Neuschwanstein sind die Hinterlassenschaften der 1,5 Millionen Besucher pro Jahr: Kleidungsfasern, Hautschuppen und Schuhabrieb verbinden sich mit aufgewirbeltem Staub und Teppichfusseln zu einem klebrigen Gemisch, das Böden, Wandtäfer und Textilien großflächig überzieht. Zudem macht die Atemluft der Gäste dem Touristenmagneten zu schaffen. Sie bleibt mangels Klimaanlage in den Räumen und legt sich als feuchter Film auf Mauerwerk und Inventar, lässt den Putz bröckeln und historische Stoffe schimmeln.
„Täglich bis zu 6000 Menschen hinterlassen einfach ihre Spuren“, sagt Oehme.
Doch nun soll das prunkvolle Gemäuer, das sich der menschenscheue Monarch als Scheinwelt und letzte Zuflucht im südlichen Ostallgäu nahe Hohenschwangau erbauen ließ, grundlegend restauriert werden. 20 Millionen Euro steckt der Freistaat Bayern bis 2020 in seine Vorzeige-Immobilie und knüpft damit an frühere Einzelsanierungen an. Von 2000 bis 2016 wurden bereits 15 Millionen in das Erbe des prunkliebenden Königs investiert – Geld, mit dem beispielsweise Fassaden saniert und Mängel an Dach und Mauerwerk behoben wurden. So wie aktuell am Torbau, den seit Monaten ein Gerüst ziert.
Dabei ist die Trutzburg Ludwigs, die zuletzt wegen schwarzer Kassen und Querelen zwischen Personal und Führung in die Schlagzeilen geraten war, streng genommen eine Mogelpackung. „Der Großteil der Mauern besteht aus Ziegeln, die im Innern einfach nur verputzt sind“, verrät Projektleiter Ralf Gehrke vom Staatlichen Bauamt in Kempten. Die Quader aus weißlich glänzendem Muschelkalk, die dem Schloss von außen seine majestätische Wirkung verleihen, sind nur vorgeblendet.
Der Schlossbau verschlang Unsummen
Im Kern ließ man vor 140 Jahren aus Kostengründen bis zum Dach Stahlträger hochziehen, fast wie bei amerikanischen Wolkenkratzern. Dennoch verschlang der Schlossbau Unsummen und ließ den ohnehin schon gewaltigen Schuldenberg Ludwigs auf über 14 Millionen Reichsmark steigen – umgerechnet etwa 140 Millionen Euro. Den drohenden Ruin vor Augen, schmiedete der König abstruse Rettungspläne – bis hin zum Banküberfall in Paris oder der Idee, den Sultan von Konstantinopel um eine Finanzspritze zu bitten. Das tragische Ende des Regenten ist bekannt: Ein Fangkommando brachte den angeblich „unheilbar Verrückten“ noch vor Fertigstellung der Bauarbeiten von Neuschwanstein aus ins Schloss Berg. Im nahen Starnberger See kam er am 13. Juni 1886 unter ungeklärten Umständen ums Leben.
Schon kurze Zeit danach ließ der bayerische Staat Besucher durch das halbfertige Schloss lotsen. Schon damals spülten sie heiß ersehntes Geld in die Kassen, wenngleich diese Einnahmen weit entfernt sind von den Millionen, die das Schloss dem Freistaat heute einbringt. Erst 1892, 23 Jahre nach der Grundsteinlegung, wurde der letzte Gebäudetrakt hoch über der Pöllatschlucht fertiggestellt.
„Seitdem gab es nie eine zusammenhängende Restaurierung“, erläutert Oehme. Der Vorteil dieses konservatorischen Dämmerschlafs: Neuschwanstein blieben die haarsträubenden Sanierungen früherer Jahrzehnte erspart, in denen historische Bauwerke gnadenlos mit Betonpfeilern, Isolierfenstern und braun gefliesten Besuchertoiletten malträtiert wurden.
„Die Stalaktiten werden in einem unbeobachteten Moment einfach abgerissen und eingesteckt.“Heiko Oehme von der Bayerischen Schlösserverwaltung
Restaurierung bis 2020
In 29 „Arbeitspaketen“ sollen die 93 Prunkräume im Herzen des Schlosses bis 2020 auf Vordermann gebracht werden. „Insgesamt geht es um über 2000 Einzelobjekte, vom Kerzenleuchter bis zur Farbfassung an Wänden und Decken“, erklärt Thomas Kieschke vom Staatlichen Bauamt. Jedes Detail wurde zuvor akribisch dokumentiert. Die Liste umfasst allein 65 Gemälde sowie 184 Wandbilder und Farbfassungen mit mittelalterlichen Heldensagen – allen voran Szenen aus den von Ludwig abgöttisch verehrten Opern Richard Wagners. Hinzu kommen 355 Möbel, 228 Textilien und Lederobjekte, 322 kunsthandwerkliche Inventarstücke, 315 Holzelemente sowie 664 Fenster und Türen.
Jedes einzelne Stück besteht aus edlem Material und wurde von den besten Handwerkern und Künstlern der damaligen Zeit gefertigt.
Denn für seine Gralsburg, die die Vision vom absolutistischen Königtum verkörperte, war Ludwig das Allerfeinste gerade gut genug. „Ansonsten wäre die Substanz nach über 60 Millionen Besuchern nicht so gut beieinander“, sagt die stellvertretende Bauamtsleiterin Cornelia Bodenstab. Besondere Herausforderung für die Handwerker und Restauratoren, die Hand an die royalen Schätze legen müssen, ist der Thronsaal, den Ludwig in einem goldgeschwängerten Stilmix aus Antike und Mittelalter ausstatten ließ. In dem 15 Meter hohen Raum klafft ein großer Riss in der Wand. Stellenweise bröckelt der Putz, die Korrosion nagt an den vergoldeten Kandelabern und dem riesigen Kronleuchter, der allein eine ganze Tonne auf die Waage bringt.
Um die wertvollen Wandtapisserien, Samtvorhänge und anderen Prunktextilien restaurieren zu können, wird laut Projektleiter Gehrke im Ritterbau des Schlosses ein Textildepot eingerichtet. Im Fokus steht zudem die Tragwerkssicherung in Räumen wie dem Sängersaal, in dem Ludwig ganze Orchester aufmarschieren ließ, um voller Weltschmerz Wagners Opern zu lauschen. Zu guter Letzt kommen auch die Kuriositäten unters „Messer“, die der Monarch auf der Suche nach höchstem Komfort installieren ließ: eine Hausrufanlage als direkter Draht zur Dienerschaft, einer der ersten Fernsprecher Bayerns, ein Speiseaufzug und – man staune – ein automatischer Türschließer fürs königliche Wasserklosett.
Doch was hilft die beste Restaurierung, wenn die Besuchermassen nach einigen Jahren zu den altbekannten Problemen führen? „Hier wollen wir gezielt gegensteuern“, erläutert Ralf Gehrke vom Bauamt. So sollen alle sensiblen Bereiche des Schlossrundgangs eine Tastsicherung erhalten. Glasähnliche Kunststoff-Trennwände werden künftig dafür sorgen, dass Touristen Mauern und Inventar nicht mehr betatschen können. „Das reduziert Abnutzung und Vandalismus erheblich“, glaubt Heiko Oehme.
Eine echte Mammutaufgabe für die Verantwortlichen
Noch wichtiger ist aus Sicht der Fachleute der Einbau einer leistungsfähigen Entlüftung. Dabei macht sich das Staatliche Bauamt die Technikbegeisterung des Regenten zunutze: Ludwig ließ von den Heizräumen in den Schlosskatakomben aus ein ausgeklügeltes Rohrsystem in die Wände einbauen, das Warmluft in alle Räume des Hauptbaus (Palas) blies. Die stillgelegten Kanäle sollen nun geöffnet werden, um Atemluft abzusaugen und trockene Frischluft zuzuführen. Der eigentliche Clou aber ist eine Klimaschleuse, die künftig im Eingangs- und Ausgangsbereich der Prunkräume Feuchtigkeit absorbieren soll. „Das funktioniert wie eine Art Föhn, der bei schlechtem Wetter die Nässe von Jacken, Schirmen und Rucksäcken bläst“, erläutert Bauamtsvertreter Kiekisch. Die Methode habe sich in Schloss Schönbrunn in Wien bestens bewährt. Alles in allem eine echte Mammutaufgabe auch für das Team des neuen Schlossverwalters Johann Hensel, der nach den Turbulenzen der Vorjahre nun einen kompletten Neuanfang auf Neuschwanstein eingeläutet hat.
Eines versprechen Bauamt und Schlösserverwaltung: Man werde alles tun, um die Einschränkungen für Besucher möglichst gering zu halten. 2020 soll Neuschwanstein dann rundum saniert sein – „ein Meilenstein“, findet Heiko Oehme. Wobei allen klar ist: Dieses Gemäuer ist eine ewige Baustelle.