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Bietigheim-Bissingen
Erst Innovation, dann Propagandamittel, heute das beliebteste Medium: 100 Jahre Radio
Mit dem Radio begann eine neue Medien-Ära. Eine Reise durch die Zeit – vom Berliner Vox-Haus bis zum Krankenhausfunk in Bietigheim.
Radio.jpeg       -  ARCHIV - 25.08.1967, Berlin: Hochbetrieb an einem Stand für tragbare Radiogeräte auf der 25. Großen Deutschen Funkausstellung am 25.08.1967 in Berlin. (zu dpa: «100 Jahre Radio in Deutschland: Von der Funk-Stunde zum Podcast») Foto: Konrad Giehr/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: Konrad Giehr | ARCHIV - 25.08.1967, Berlin: Hochbetrieb an einem Stand für tragbare Radiogeräte auf der 25. Großen Deutschen Funkausstellung am 25.08.1967 in Berlin.
Bianca Dimarsico
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:07 Uhr

Es ist eine technologische Innovation, die 1909 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wird. Gesendete Radiowellen werden in elektrische Signale und dann in Schallwellen umgewandelt. Es werde Ton! Am 29. Oktober 1923 klang das in Deutschland so: "Achtung, Achtung. Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter."

Es sind die ersten Worte, die im deutschen Radio zu hören sind. Der Klang körnig, die Stimme monoton, das "R" gerollt: Friedrich Georg Knöpfke, Direktor des Senders Funk-Stunde Berlin kündigt damit den Unterhaltungsrundfunkdienst an. Es ist ein Durchbruch – doch kaum jemand hört zu. Damals ist Radiohören Luxus. Die Jahresgebühr entsprach etwa einem Drittel des durchschnittlichen Monatsgehalts. Trotzdem stiegen die Zuhörerzahlen rapide. Nach zwei Jahren überschritt die Zahl der Rundfunkteilnehmer die Millionengrenze.

In diesen Tagen feiert der Hörfunk in Deutschland sein 100-jähriges Bestehen. Die Faszination Radio hält an – auch wenn es sich weiter wandelt. Inhaltlich wie technisch. In seinen Anfängen war Radio vor allem eins: unpolitisch. Zweck war die Unterhaltung, besonders durch Musik. Heute ist der Hörfunk auch zum Informationsmedium geworden. Und während die Digitalisierung das analoge Radio vor immer größere Herausforderungen stellt, gibt es eine Form, die sich noch ganz auf die Ursprünge beruft: der Krankenhausfunk.

Gut 40 Jahre nach der ersten Übertragung entstand das Krankenhausradio, das in kleinem Radius für Patienten und Angestellte sendet. 69 Kliniksender waren in Deutschland seit 1966 aktiv. Heute sind es weniger als die Hälfte – in Bayern gibt es keinen einzigen mehr. Einer ist der "Gesundfunk" in Bietigheim-Bissingen in Baden-Württemberg. 20 Ehrenamtliche senden dort dreimal die Woche für Patientinnen und Patienten, Krankenschwestern und alle anderen, die mithören wollen.

Krankenhausradio bietet kranken Menschen Ablenkung und Unterhaltung

Ein Dienstagabend, 18 Uhr, im Krankenhaus Bietigheim: Die Lichter sind aus, die Gänge sind leer. Nur am Ende des Flurs im Erdgeschoss, da hört man ein paar Stimmen und Musik. Vier Menschen sitzen in einem Radiostudio. Hunderte Schallplatten und CDs stapeln sich an den Wänden. Es gibt drei Mikrofone und zwei Radiomischpulte. Hinterm Mikro ist Harald Köhler. Kopfhörer auf, ein Regler wird nach oben geschoben, das "on air"-Zeichen leuchtet rot. Und dann, einmal Nobelpreis bitte! Radiowellen, elektrische Signale, Schallwellen. "Herzlich willkommen zu der heutigen Live-Sendung", begrüßt Köhler seine Zuhörerinnen und Zuhörer in einem 15 Kilometer-Radius. Nur Musik und Unterhaltung. Themen wie Politik, Religion und Tod sind tabu. Beim Krankenhausfunk geht es vor allem darum, gute Laune zu verbreiten. "The Power" von Snap! ist das erste Lied der Sendung.

Diese Leichtigkeit wissen die Hörerinnen und Hörer des Gesundfunks zu schätzen. Am besten weiß das Bettina Ruchay. Sie kam 1977 zum Gesundfunk, wenige Monate nach dessen Gründung. Damals ging sie mit Plattenspieler, Stativ und Mikrofon auf dem Flur der Klinik auf Sendung. Die 60-Jährige erinnert sich an einige rührende Geschichten. In den 90er Jahren war einer der treuesten Zuhörer ein älterer Herr, der wegen seiner Diabetes immer wieder im Krankenhaus war. "Er hat viele Wünsche geschickt. Wenn er im Zimmer war, hat er auch seine Nachbarn dazu motiviert, die Sendung anzuhören. Er war lange unser Begleiter und wir sind alle auf seine Beerdigung gegangen", erzählt Ruchay. Bei Besuchen in Altenheimen habe sie schon erlebt, wie gebrechliche Menschen beim Hören ihres Lieblingsliedes plötzlich wie ausgewechselt waren. "Da weiß man, wofür man es macht."

Im Nationalsozialismus diente das Radio als Propaganda-Mittel

Wie wichtig das Klinikradio für manche Patientinnen und Patienten ist, bekommen die Ehrenamtlichen auch über Zuschriften oder Anrufe mit. Eine Frau schrieb etwa: "Das normale Radioprogramm brachte nicht die Musik, die meinem Geschmack entsprach. Und der Moderator berichtete so über die Entstehung der Pizza Margherita, dass ich mich noch lange daran erinnern werde. Als dann noch einer meiner Enkel mir mit einem Musikwunsch gute Besserung wünschte, war ich froh, dass es das Klinikenradio gibt." Und wenn in einer Sendung wieder mal Liederwünsche erfüllt, Grüße ausgerichtet und Geschichten erzählt werden, kann man sich sicher sein, dass mindestens einer Person ein Lächeln ins Gesicht gezaubert wurde. Im Krankenbett, im Auto oder daheim. Radio wirkt, oft direkt.

Zur Geschichte des Radios in Deutschland gehört aber auch ein dunkles Kapitel. Ab 1930 wurde die Reichssendung der Regierung übertragen, das Radio wurde politisch. Mit dem Vormarsch des Nationalsozialismus wurde der Rundfunk zunehmend zum Propaganda-Instrument. Am 1. September 1939 wurde Adolf Hitlers Rede vor dem Reichstag übertragen: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", tönte es durch die Haushalte. Zu diesem Zeitpunkt besitzen mehr als zehn Millionen Deutsche ein Radioempfangsgerät. Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels stellte nach der Machtergreifung Hitlers den Volksempfänger vor. Ein Radioapparat, millionenfach verkauft, zur Verbreitung von NS-Propaganda. Kostenpunkt: 76 Reichsmark, was heute etwa 300 Euro entspricht. Am 8. Mai 1945 verkündete Großadmiral Karl Dönitz die bedingungslose Kapitulation Deutschlands – per Radio. 1950 wurde die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland gegründet, die ARD. Ein dezentral organisiertes, gebührenfinanziertes System, das verhindern soll, dass der Rundfunk erneut zum staatlichen Propaganda-Instrument wird.

UKW vor dem Aus: Ultrakurzwelle soll frühestens 2035 abgeschaltet werden

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Frequenzen für europäische Rundfunksender neu vergeben. Deutschland erhielt überwiegend Ultrakurzwellensender, besser bekannt als UKW-Sender, denn es gab nicht genügend Mittelwellen-Frequenzen. Der Unterschied: UKW hat den besseren Klang, ist jedoch aufwendiger in der Verbreitung. Der Empfang geht maximal 200 Kilometer weit. Mittelwellen senden bis zu 1000 Kilometer weit. Noch heute laufen viele Radiosender über UKW und haben ein großes Publikum. Pläne zur UKW-Abschaltung und der Umstellung auf Digitalradio sorgten zuletzt für Unmut bei bayerischen Lokal- und Regionalsendern, die in einem Brandbrief an die alte und neue Regierungskoalition eine Verlängerung forderten – mit Erfolg. Bis mindestens 2035 sollen die UKW-Frequenzen laut CSU und Freien Wählern nun weiter bestehen. Ein Abschalten von UKW werde es erst geben, wenn die wirtschaftliche Tragfähigkeit der privaten Radiobranche dies zulasse, heißt es im Koalitionsvertrag, der am Donnerstag unterzeichnet wurde. Sowie: Man setze sich "für eine Weiterentwicklung und dauerhaft auskömmliche Finanzierung regionaler und lokaler Rundfunkangebote ein. Wir möchten damit die flächendeckende Versorgung mit aktuellen und verlässlichen Informationen 'aus der Region für die Region' nachhaltig sicherstellen".

Ob analog oder digital: Das Radio, es ist eben immer dabei. Es schreibt Geschichte oder begleitet historische Ereignisse. Als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 erstmals Weltmeister wurde, schrie Reporter Herbert Zimmermann ins Mikro: "Rahn schießt. Tor! Tor! Tor! Tor!" Zimmermann wurde für seine Radioreportage berühmt. Oder der 9. November 1989, als die Mauer "fiel" – und Günter Schabowski per Rundfunk die Reisefreiheit für DDR-Bürger verkündete. Mit der Wiedervereinigung veränderte sich die Medienlandschaft. West- und ostdeutsche Radiosender fusionierten 1994 zum Deutschlandradio. Im selben Jahr ging der erste gewinnorientierte Internet-Provider online. Die Kommerzialisierung des World Wide Web begann.

Nach 100 Jahren: Radio ist in Deutschland mit das beliebteste Medium

Nun sind hundert Jahre vergangen. Und noch immer hören mehr als 50 Millionen Deutsche regelmäßig Radio. Mehr als 30 Millionen geben sogar an, täglich Radio zu hören. Es ist das Medium, dem die Deutschen am meisten vertrauen, so lautet zumindest das Ergebnis einer Studie der Europäischen Rundfunkunion von 2021.

Für Carsten Sauerwald vom Gesundfunk in Bietigheim-Bissingen gehört Radio, wie für Millionen andere Menschen, zum Alltag. "Bei uns zu Hause läuft immer Radio. Es fängt schon früh morgens an. Im Auto auch immer. Ich bin mit dem Radio groß geworden", sagt der 61-Jährige. Und auch der 21-jährige Tim Mohrbacher, Vorsitzender des Gesundfunks, ist mit Musik aus dem Hörfunk aufgewachsen. "Wenn ich die neuesten Titel hören wollte, musste ich das Radio nutzen. Musik war mir das Wichtigste", erzählt er. Das Radio, sagt er noch, sei ein Begleiter durch den Alltag. Deshalb heißt es in Deutschland Tag für Tag wieder aufs Neue: Es werde Ton!

 
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