Heute hat er es geschafft! Heute hat er endlich angerufen. 0800/655 3000. Denn er weiß selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Dass er so nicht weitermachen will. Dass er Hilfe braucht. Professionelle Hilfe. Lange belastet ihn schon sein Problem. Lange schon hortet er alles in seiner Wohnung, findet kaum noch Platz, kann aber nichts weggeben. Lange schon kann er niemanden mehr in seine Wohnung bitten – und vereinsamt zunehmend.
Krisendienst Schwaben: Mann vereinsamt in viel zu voller Wohnung
Ragna Liedtke freut sich über seinen Anruf. Das spürt man gleich in ihrer Stimme. Denn sie kann sich gut vorstellen, wie viel Überwindung es den Mann gekostet haben muss, heute wirklich anzurufen. Doch nun kann er endlich sprechen. Über die Enge, die sein Leben so beherrscht. Niemand kann mithören. Ganz anonym kann er ihr seine bedrückende Lage schildern. Die Psychologin wird nur für diese Berichterstattung im Anschluss an das Gespräch seine Geschichte erzählen. Sie sitzt in einem kleinen, schlichten Büro, hat ein Headset auf und ist nur auf eines konzentriert: auf das, was dieser ältere Herr ihr erzählt. Behutsam fragt sie immer wieder nach, um sich ein möglichst umfassendes Bild von seiner Lebenssituation zu machen. Schließlich will sie ihn so schnell und so gut wie möglich unterstützen.
Ragna Liedtke arbeitet in der Leitstelle beim Krisendienst Schwaben in Augsburg. Es ist ein psychosoziales Beratungs- und Hilfsangebot, das 2021 gestartet und Teil einer in Bayern flächendeckenden seelischen Akutversorgung ist, die vom jeweiligen Bezirk und dem Freistaat finanziert wird. Rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche sind Fachleute aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie, Sozialpädagogik und Fachkrankenpflege erreichbar.
Ein Rettungsdienst für die Seele also. Noch dazu ein unkomplizierter: ohne Terminabsprache, ohne Anmeldung. Einfach anrufen und die Probleme schildern, die einem so sehr zusetzen. Denn was eine Krise ist, definiert der Anrufende.
Immer mehr Anrufe beim Krisendienst Schwaben – fast doppelt so viele wie 2021
Und immer mehr Menschen in der Region haben das Gefühl, in einer Krise zu stecken, fachkundige Hilfe zu brauchen: Über 7500 Anrufe zählte der Krisendienst Schwaben 2022. Das sind fast doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor. Doch mit welchen Problemen kommen die Menschen? Und wer wählt die Nummer?
Das 21-köpfige Team des Krisendienstes Schwaben bekommt die ganze Problem-Bandbreite des Lebens ab, berichten die beiden ärztlichen Leiterinnen, Dr. Ingrid Bauer und Dr. Lena Grüber, Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie an den Bezirkskliniken Schwaben. So komme es zwar mal vor, dass einer nachts nur anruft, weil er nicht schlafen kann und ein wenig menschlichen Zuspruch will oder weil sich einer eine Grippe eingefangen hat. Das sei aber die absolute Ausnahme. Die weit überwiegende Mehrheit, die den Krisendienst anruft, steckt tatsächlich in einer schwierigen, ernst zu nehmenden Situation. Das könnenungelöste Probleme in der Beziehung, in der Familie, im Beruf sein. Oft muss der Verlust eines geliebten Menschen verkraftet werdenoder eine schwere Diagnose. Immer wieder ist es auch nicht die Sorge um sich selbst, sondern um einen Angehörigen, der Anrufende so umtreibt, dass sie um Rat bitten. Und sehr häufig sind es psychische Probleme. Depressive Zustände vor allem, aber auch Ängste, Panikattacken.
Vielen könne am Telefon ausreichend geholfen werden, erklären die beiden Ärztinnen. Denn für viele sei es schon eine Erleichterung, einem in Krisen geschulten und ausgebildeten Zuhörer das Herz auszuschütten, die Lage gemeinsam zu sortieren, Auswege aufgezeigt und gegebenenfalls Informationen über eine passende Beratungsstelle vor Ort zu bekommen.
Viele Anrufende sind psychisch ernsthaft krank
Allerdings wird bei sehr vielen Menschen, die anrufen, auch schnell klar, dass sie mehr brauchen. Weil sie psychisch ernsthaft krank sind. Doch gerade bei schweren Erkrankungen geraten die Fachleute vom Krisendienst auch an ihre Grenzen: „Denn wir können keine Therapie anbieten“, betont Ingrid Bauer. „Gleichzeitig sind die Kapazitäten in unserem psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsnetz seit langem völlig ausgeschöpft.“ Sprich: Es fehlen Plätze. Und zwar überall. In stationären Kliniken. In Tageskliniken. Bei niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern. Bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. „Selbst die Notaufnahmen der psychiatrischen Kliniken sind überfüllt und auch dort muss man warten“, sagt Lena Grüber. Und diese Lücken im stationären und ambulanten Versorgungsnetz könne der Krisendienst nicht schließen. So gebe es psychisch Erkrankte, die in ihrer Not immer wieder den Krisendienst kontaktieren, weil sie beispielsweise seit langem zwar auf einer Warteliste für eine Klinik oder einen Therapeuten stehen, es ihnen an diesem Tag aber eben so schlecht geht, dass sie dringend jemanden brauchen.
Und noch während die beiden Ärztinnen den besorgniserregenden Engpass erläutern, kommt an diesem Vormittag im Nebenzimmer schon der nächste Anruf rein: Eine Seniorin ist am Telefon. Bedroht fühlt sie sich. Mit den Nerven am Ende ist sie. Auch ihr Mann habe Angst. Denn ein Familienangehöriger tyrannisiere sie beide, will sie aus dem Haus vertreiben. Der Streit gehe zwar schon ein paar Jahre, doch spitze er sich immer stärker zu. Könne der Krisendienst nicht jemanden vorbeischicken, um diese Person endlich in ihre Grenzen zu weisen?
Ja, grundsätzlich kann der Krisendienst sogar jemanden zu dem Anrufenden nach Hause schicken – auch diese Einsätze nehmen zu. Allerdings wird die Psychologin Vivien Grünrock, die den Anruf der Seniorin entgegennimmt, an diesem Vormittag keine Kollegen zu der streitenden Familie schicken. Gleichwohl nimmt sie die Sorgen der Frau sehr ernst. „Fest steht: Es darf sie niemand bedrohen, das geht eindeutig zu weit“, betont sie und empfiehlt der älteren Dame, dass sie und ihr Mann sich rechtlich beraten lassen sollen. Allerdings sagt sie auch: „Wenn sich die Situation nicht entschärfen lässt und Sie weiter belastet, dann rufen Sie bitte wieder bei uns an.“
Zwischen Leben und Tod: Mobiles Team des Krisendienstes fährt raus
Doch woher weiß sie, dass sich dort jetzt kein Drama abspielt? Dass noch niemand von den mobilen Teams ausrücken muss?
Vivien Grünrock hat schon oft die Kollegen losgeschickt. Sie stehen stets bereit. Sind in der Regel binnen einer Stunde in einem Notfall bei dem Anrufenden oder dessen Angehörigen. „Doch die Frau wirkte emotional stabil“, beginnt die 35-Jährige zu erklären. Sie sei nicht weinerlich gewesen, sondern konnte sachlich die Lage beschreiben und es sei klar geworden, dass die Lebenssituation des Ehepaars zwar sehr belastend ist, aber zumindest aktuell keine Gefahr droht. Das war bei anderen Anrufenden schon ganz anders.
Da habe beispielsweise einer schon vom offenen Fenster stehend aus angerufen und ihr erklärt, er sehe wirklich keinen anderen Ausweg mehr, als nun zu springen. Vivien Grünrock kann sich noch gut an dieses Telefonat erinnern. Wie sie, während sie mit dem jungen Mann geredet hat, sofort ins Nebenzimmer geeilt ist, um in diesem Fall Polizei und ihre Kollegen von den mobilen Teams zu alarmieren. Gleichzeitig aber wusste sie, dass dies ein Gespräch im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ist, denn nur, wenn es ihr gelingen wird, den Mann so lange wie möglich an der Leitung zu halten, haben die Kollegen genug Zeit, vor Ort zu fahren. Was in diesem Fall auch gelungen ist. Der Mann war psychisch sehr krank. Er ließ sich aber dann doch dazu bringen, in eine psychiatrische Klinik gefahren zu werden.
Dass Menschen anrufen, die erklären, sich das Leben nehmen zu wollen, komme immer wieder vor, berichten die beiden Ärztinnen. Einer, der dann raus fährt und persönlich zur Stelle ist, ist Martin Rüster. Er gehört zum mobilen Team des Krisendienstes Schwaben. Der erfahrene Sozialpädagoge arbeitet im sozialpsychiatrischen Dienst in Immenstadt, dessen Träger die Diakonie Allgäu ist. Die sozialpsychiatrischen Dienste sind ebenfalls wichtige Anlaufstellen für Menschen, die psychische Erkrankungen haben oder sich in Krisen befinden. Während der Krisendienst aber für die akute Versorgung zuständig ist und die Anrufenden am Telefon zu stützen versucht, bieten die sozialpsychiatrischen Dienste persönliche Beratungen. Daher empfehlen die Fachleute am Telefon oft die sozialpsychiatrischen Dienste – doch der steigende Bedarf führe auch dort immer häufiger zu Wartezeiten.
Allerdings gibt es eben auch Menschen, die diesen Weg nicht mehr schaffen. Weil die psychische Erkrankung zu schwer ist. Weil sie in ein so tiefes seelisches Loch gerutscht sind, dass sie selbst nicht mehr herausfinden. Dann sind Martin Rüster und seine Kolleginnen und Kollegen gefragt. Er kann sich beispielsweise noch gut an den älteren Mann erinnern, bei dem die Kollegin an der Leitstelle fürchtete, er könne sich etwas antun. „Das ist überhaupt ein großes Problem, das viel zu wenig thematisiert wird: Es sind nicht nur junge, sondern oft ältere Menschen, die den Lebensmut verlieren, weil sie keine Perspektive mehr für sich sehen. Oft sind sie krank und Angehörige und Freunde gestorben“, berichtet Rüster. Der Senior, an den er sich so gut erinnern kann, musste den Tod seiner Frau und seiner Schwester verkraften und erklärte ihm immer wieder: Ich bin jetzt total allein! Natürlich brauche so jemand mehr Unterstützung als einen einmaligen Besuch von erfahrenen Fachkräften, und er bekam dann auch Hilfe von einer Beratungsstelle. Denn Rüster weiß, dass es gerade auch im Alter, auch bei Krankheit und auch bei großer Einsamkeit Wege aus dieser Isolation gibt: „Hier gilt es beispielsweise Schritt für Schritt sich für andere Menschen zu öffnen, die in der gleichen Lebenslage sind. Es gibt ja viele Menschen, die auch allein sind. Man kann sich hier wirklich gut gegenseitig stützen.“
Wege aus der Krise aufzeigen, Menschen stärken, mit ihnen gemeinsam Ängste und Sorgen bis auf den Grund ausleuchten, ihnen Mut machen, auch zunächst als unangenehm empfundene Schritte wie die Behandlung in einer psychiatrischen Klinik anzugehen – darin sieht Martin Rüster seine Hauptaufgabe beim Krisendienst.
Zu telefonieren bietet eine besonders geschützte Atmosphäre
Und so sieht es auch Gero Smolinsky. Der 55-Jährige ist von Anfang an mit dabei und bringt viel Erfahrung als Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie mit. Wer mit ihm spricht, spürt sofort seine große Ruhe und die Konzentration auf sein Gegenüber. Gero Smolinsky sitzt in der Leitstelle am Telefon und fährt am Wochenende regelmäßig als ein Partner im mobilen Team zu Krisenfällen. Immer wieder erlebt er es aber, dass gerade beim Telefonieren „sich Menschen sehr schnell öffnen, das funktioniert oft besser, als wenn wir persönlich vor Ort sind“. Denn bei Expertinnen und Experten ohne Anmeldung auch anonym anrufen zu können, „bietet eine besonders geschützte Atmosphäre“. Schließlich dürfe man nicht vergessen, dass die Scham bei psychischen Problemen bei vielen Menschen noch immer groß sei. „Gerade auf dem Land habe ich das Gefühl, dass oft vor allem die Fassade aufrechterhalten werden muss“, sagt Gero Smolinsky.
Wünschen würde sich das Team vom Krisendienst, dass viele früher anrufen. Denn gerade bei psychischen Erkrankungen ist eine frühe Behandlung wichtig, damit sie nicht chronisch werden. Der ältere Mann, der offensichtlich an einem krankhaften Horten leidet, bekannt auch als Messie-Syndrom, will sich nun spezielle Hilfe holen: Ragna Liedtke hat ihm die Telefonnummer einer Messie-Hotline gegeben. Der erste wichtige Schritt aus seiner Krise ist damit getan.
Wie finden Betroffene einen Therapieplatz in der Region?
Die folgende Übersicht zeigt, wie Sie bei psychischen Problemen in der Region Hilfe finden. Klicken Sie auf die roten Icons. Dort finden Sie Telefonnummern und E-Mail-Adressen