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München
30 Jahre "Biss": Beim Verkauf der Straßenzeitung die große Liebe gefunden
Vor 30 Jahren wurde in München die erste deutsche Straßenzeitung gegründet. Bis heute hat die "Biss" mehr als 1000 Menschen in Not geholfen. Einer erzählt seine Geschichte.
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Irmengard Gnau
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:09 Uhr

Es brummt am Stachus in München. Mittagszeit. Menschen eilen die Rolltreppen zum Zwischengeschoss hinunter, auf der Suche nach der richtigen S-Bahnlinie oder einem Happen zu essen. Dirk Schuchardt lässt sich nicht stören von dem Getümmel. Mit geübten Griffen baut er seinen kleinen Stand auf, befestigt die aktuelle Ausgabe der "Biss" oben an seinem Rollwagen und den Verkäuferausweis gut sichtbar an der Seite. Seit 17 Jahren verkauft Schuchardt die Münchner Straßenzeitung schon hier. In diesem Jahr feiert die "Biss" ihr 30-jähriges Bestehen. Damit ist sie die älteste Straßenzeitung in Deutschland. 

Die allererste Ausgabe des Magazins erschien am 17. Oktober 1993, dem Welttag der Vereinten Nationen zur Überwindung der Armut; kurze Zeit später startete auch in Hamburg eine Straßenzeitung, die "Hinz und Kunzt". Den Grundstein für die "Biss" legte eine kleine Gruppe aus engagierten Sozialarbeiterinnen, Journalisten und Kirchenleuten 1991 bei einer Tagung zum Thema Obdachlosigkeit der Evangelischen Akademie Tutzing. Die Abkürzung "Biss" steht für "Bürger in sozialen Schwierigkeiten". Keine Wohnung zu haben, ist nur eine davon; vielfach treiben auch Krankheiten, Lebenskrisen oder psychische Erkrankungen Menschen in die Armut. Menschen in solchen Nöten zu helfen, nahm sich der Verein "Biss" vor 30 Jahren vor, und zwar als Stimme der Armen in der Stadt wie auch durch Hilfe zur Selbsthilfe: Bedürftige können durch den Verkauf der Zeitschrift, die von professionellen Journalisten gestaltet wird, ihr eigenes Geld verdienen. Wer es schafft, regelmäßig mehr als 400 Exemplare im Monat zu verkaufen, kann sich sogar fest anstellen lassen, zahlt dann Steuern und Sozialabgaben. 52 Verkäuferinnen und Verkäufer sind aktuell fest angestellt, weitere gut 50 verkaufen die Zeitschrift frei.

Die "Biss" bietet den obdachlosen Verkäufern vieles, was sie vorher nicht hatten

Der Weg zu "Biss" war und ist für viele der erste Schritt heraus aus ihrer Not. „Wir sehen, was es bewirken kann, wenn man jemandem einen festen Job gibt, wenn er mit seiner Krankenkarte zum Arzt gehen kann“, sagt Karin Lohr. Die Hotelfachfrau und Soziologin führt im zehnten Jahr die Geschäfte bei "Biss". Für die Verkäufer ist die Zeitschrift weit mehr als nur die Aussicht auf gutes Geld. Sie bietet Halt, eine regelmäßige und sinnvolle Beschäftigung – und Anerkennung, eine Erfahrung, die viele davor lange nicht machen durften. Nicht zuletzt bietet der Verein ein Netz an Beratung und Unterstützung, ob bei der Entschuldung, bei Suchtproblemen oder bei der in München so schwierigen Wohnungssuche.

Auch Dirk Schuchardt war obdachlos, als er im Sommer 2006 mit dem Zug am Münchner Hauptbahnhof ankam. Nach ständigem Streit mit dem Stiefvater war er mit 19 Jahren abgehauen aus seinem Zuhause im Ruhrgebiet, noch vor dem Abschluss seiner Lehre zum Bergmechaniker. In Hamburg schlug er sich als Türsteher auf der Reeperbahn durch, fand eine Anstellung und verlor sie wieder, arbeitete nach dem Wehrdienst als Lagerist bei einer Spedition, bildete sich fort zum Finanz- und Versicherungskaufmann. Doch als seine Ehe zerbrach, geriet Schuchardts Leben komplett aus dem Gleichgewicht. Er begann zu spielen, verlor Geld und Job, schließlich die Wohnung. Im Obdachlosenheim erzählte ihm ein Zimmergenosse von der Straßenzeitung "Hinz und Kunzt". Ob er es damit nicht auch einmal versuchen wolle? "Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich mir den Verkäuferausweis wirklich anheften soll", erinnert sich Schuchardt. Bedeutete das doch, seine Obdachlosigkeit offen zuzugeben. Im Moment des Haderns sprach ihn eine Frau an und kaufte ihm ein Heft ab samt großzügigem Trinkgeld. "Von da an war ich mit Leib und Seele Straßenzeitungsverkäufer", sagt Schuchardt und grinst.

Dank "Biss": Heute hat er eine Familie und eine Wohnung in Planegg

In München wollte er damals eigentlich nur ein paar Tage bleiben, etwas Geld verdienen, um dann nach Südtirol weiterzureisen, erinnert sich der heute 54-Jährige zurück. Mit Straßenzeitungen war er bekannt, warum es also nicht mit der "Biss" versuchen? Der Verkauf lief so gut, dass sich Schuchardt kurzerhand entschied, länger zu bleiben. Heute ist er fest als Zeitungsverkäufer angestellt, mit einem Monatspensum von 800 Exemplaren. Kurze Zeit nach Abschluss seines Arbeitsvertrags fand er seine erste kleine Wohnung. Beim Verkauf lernte er auch seine spätere Ehefrau kennen. Sie leben heute mit drei gemeinsamen Söhnen in Planegg, einer Gemeinde westlich von München.

Seine persönliche Lebensgeschichte und seine Sicht auf soziale Probleme schildert der 54-Jährige regelmäßig bei "Biss"-Stadtführungen wie auch im Heft. Die „Schreibwerkstatt“ ist seit 1993 ein fester und zentraler Bestandteil der Zeitung, betont Geschäftsführerin Lohr. In dieser Rubrik schreiben die Verkäuferinnen und Verkäufer selbst und zeigen so Perspektiven auf, die wohl in keinem anderen Medium vertreten sind. 

 
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