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Neuburg an der Donau
Die dunkle Nazi-Vergangenheit des Neuburger Komponisten Paul Winter
Der Neuburger Paul Winter war erfolgreicher Komponist – und die rechte Hand eines Kriegsverbrechers. Nun hat ein früherer Heimatpfleger das Kapitel erforscht.
Reinhard Köchl
 |  aktualisiert: 27.04.2024 02:45 Uhr

Wie lassen sich zwei Leben, die ein und demselben Menschen gehören, miteinander synchronisieren? Kann das funktionieren, wenn die Inhalte so weit auseinanderliegen, dass eine Übereinstimmung eigentlich ausgeschlossen scheint? Auf einem Grabstein an der Westmauer des alten Friedhofs an der Franziskanerstraße im oberbayerischen Neuburg an der Donau geht das tatsächlich. Da steht auf einer schlichten schwarzen Marmortafel: „Paul Winter, Generalleutnant a. D., Komponist“. Die beiden Leben des bekannten Musikwissenschaftlers und hochrangigen Offiziers im Dritten Reich, in wenigen Buchstaben gleichberechtigt zusammengeführt. Soldat und Musiker. Oder nach neuen Erkenntnissen: ein wichtiges Rädchen im verbrecherischen NS-System und der Schöngeist. Wie kann das zusammenpassen? 

Bislang kaum. In Neuburg, dem Geburtsort Winters, und in Höchstädt (Kreis Dillingen), der Heimat seines Vaters, schätzen sie den auf Fotos stets freundlich lächelnden älteren Herrn bislang vor allem als Schöpfer erhabener Orchesterwerke wie die Festmusik zum Steckenreitertanz, der seit 1955 das Herzstück des alle zwei Jahre stattfindenden Neuburger Schlossfestes darstellt, die Fanfare zum Eucharistischen Weltkongress in München oder das Festspiel „Rendezvous bei Höchstädt 1704“ zum Gedenken an die dortige Schlacht im Spanischen Erbfolgekrieg, aber auch für die offizielle Olympia-Fanfare 1936 in Berlin. Dafür wurde Winter in beiden Städten zum Ehrenbürger ernannt, in Neuburg tragen eine Realschule und eine Straße seinen Namen. 

Im Oberkommando der Wehrmacht stand Paul Winter an der Seite von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel

Vom anderen Leben schien bislang kaum etwas bekannt zu sein. Denn Paul Winter (1894 bis 1970) war nicht nur ein hochdekorierter Soldat, der in der Nachkriegszeit von seinen Anhängern teilweise als willfähriges Opfer stilisiert wurde, sondern vielmehr aktiver Täter. Im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Berlin fungierte er als Chef des Zentralamts und damit quasi als rechte Hand von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, einem der Hauptkriegsverbrecher, der bei den Nürnberger Prozessen zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Winter, der nie auf einer Anklagebank saß, wurde von Keitel in den Beurteilungen als „Nationalsozialist im Denken und Handeln“ bezeichnet. Zudem sollen sämtliche verbrecherische Wehrmachtsbefehle über Winters Schreibtisch gegangen sein.

Dies alles steht in einer jetzt veröffentlichten Dokumentation von Manfred Veit, von 2002 bis 2021 Heimatpfleger im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen und promovierter Historiker (Volkskunde sowie Kunst- und Landesgeschichte). Doch der 83-Jährige bringt noch eine andere Expertise mit, um die Laufbahn Paul Winters fachkundig beurteilen zu können: Er war selbst Offizier. Über die Dienststelle General Flugsicherheit in der Bundeswehr in Köln und das Taktische Luftwaffengeschwader in Neuburg kam der Oberstleutnant nach dem Mauerfall 1991 nach Neuhardenberg, wo er als Kommandeur das dort stationierte ehemalige Regierungsgeschwader der DDR bis 1993 und damit bis zu seiner Auflösung führte. „Ich bin aber nie aus Neuburg weggezogen“, betont Veit, der im Ortsteil Bittenbrunn mit seiner Frau ein Haus bewohnt und sich keine Woche nach seiner Pensionierung für das Studium an der Katholischen Universität Eichstätt einschrieb. Seine Heimat liege ihm am Herzen, sagt er; die historische Altstadt, die Donauauen und auch der Steckenreitertanz, den er nie infrage habe stellen wollen. 

Manfred Veit gilt als kritischer Geist, als akribischer Forscher. Und er ist gerechtigkeitsliebend. Dass der Schriftsteller Otfried Preußler, Autor so bekannter Kinderbücher wie „Die kleine Hexe“ oder „Der Räuber Hotzenplotz“, wegen seiner Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend als Namensgeber des Pullacher Gymnasiums getilgt werden soll, steht für ihn in keinem Verhältnis zur Causa Winter, „denn viele junge Leute sind damals aus opportunistischen Gründen in die HJ gegangen“. 

Wie konnte es sein, dass niemand in Neuburg vom anderen Leben des Paul Winter wusste?

Zum ersten Mal sei er auf mögliche dunkle Stellen in der Biografie Winters gestoßen, als es galt, 2012 ein Buch anlässlich des 40. Geburtstages des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen herauszubringen. „Da sollte auch ein Beitrag zu Winter erscheinen. Doch der damalige Landrat Roland Weigert hat alles kurz vor der Drucklegung abgeblasen“, erzählt Veit. Als die ehemalige Stadtarchivarin Barbara Zeitelhack – ebenfalls eine promovierte Historikerin – 2016 in einer Fachzeitschrift „Kritische Anmerkungen zur Biographie Paul Winters“ schrieb und seine musikalische Vita unter die Lupe nahm, ihm eine starke Nähe zum Nationalsozialismus attestierte und empfahl, sich näher mit der militärischen Laufbahn des gefeierten Komponisten auseinanderzusetzen, fühlte sich Manfred Veit unmittelbar angesprochen. In zweijährigen Recherchen sichtete er Akten im Bundesarchiv Berlin, im Militärarchiv Freiburg, im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Kriegsarchiv) sowie beim Historischen Verein Neuburg. Die Ergebnisse bestätigten seine Vermutungen und warfen gleichzeitig neue Fragen auf. 

Wie konnte es sein, dass niemand in seiner Heimatstadt vom anderen Leben des Paul Winter wusste (oder vielleicht wissen wollte), bei allen Würdigungen wie etwa der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes (1966) und des Bayerischen Verdienstordens (1969) die Zeit vor 1945 außer Acht gelassen wurde? Zu jedem runden Geburtstag ehrte die Stadt ihren großen Sohn und hob fast trotzig seinen vermeintlich untadeligen Leumund hervor, sein Geburtshaus am Schrannenplatz erhielt eine Hinweistafel. 

Natürlich gab es immer wieder hartnäckige Gerüchte, aber geschickte Weglassungen oder geschönte Interpretationen erstickten jeden Verdacht im Keim. Bei der Namensgebung der Paul-Winter-Realschule 1984 beispielsweise erklärten die Laudatoren Winter als „Vorbild für die lernende Jugend“, der Musikhistoriker Harald Johannes Mann behauptete, er habe vielen angeklagten Soldaten das Leben gerettet, indem er mildernde Umstände hervorhob. Und er habe den baltischen Schriftsteller Siegfried von Vegesack im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat in der Wolfsschanze vom 20. Juli 1944 vor Unheil bewahrt. Mann verstieg sich gar in der Behauptung, Paul Winter sei unfreiwillig Soldat gewesen, habe mehrere Male seinen Abschied nehmen wollen und wäre gegen seinen Willen befördert worden. „Das ist hanebüchen“, sagt Manfred Veit, und „eine kontrafaktische Sicht, die trotz haarsträubender Unglaubwürdigkeit nicht hinterfragt wurde. Kein Soldat wird befördert, wenn er das nicht will. Und wenn jemand Generalleutnant wird, immerhin einer der höchsten militärischen Ränge überhaupt, dann hat er auch einiges dafür getan.“ 

Winter musste Hitlers Anordnungen in militärische Weisungen umformulieren

Was genau, enthüllen die Historiker Veit und Zeitelhack in ihren Arbeiten. Etwa, dass sich Paul Winter nach dem Abitur am Neuburger Gymnasium freiwillig zum Militärdienst beim 8. Königlich Bayerischen Feld-Artillerie-Regiment in Nürnberg und nach dem Ersten Weltkrieg beim Freikorps gemeldet hatte. Später öffnete ihm vor allem seine Hymne „Großdeutschland“ aus dem Jahr 1938, mit der er dem „Anschluss“ von Hitlers Heimat Österreich ein musikalisches Denkmal setzte, die Tür zum OKW. In all den Jahren stach immer wieder die Dienstbeflissenheit des Bayern hervor. Winter galt schlicht als die Idealbesetzung auf dem Posten als Büroleiter und Chef der Wehrmacht-Zentralabteilung (WZ): hochintelligent, von schneller Auffassungsgabe, sicherem, gewinnendem Auftreten und in der Lage, komplexe Zusammenhänge schnell zu erfassen und richtig einzuordnen. Paul Winter und Wilhelm Keitel entwickelten rasch ein Vertrauensverhältnis, das auch die missglückte Versetzung an die Front 1943 überdauerte und dem musisch begabten General danach die sofortige Rückkehr ins OKW ermöglichte. Keitel schrieb unter anderem, sein Stellvertreter Winter sei ein „selten vornehmer Charakter, uneigennützig, bescheiden, hilfsbereit bis zur Selbstaufopferung“. Und: „Unbeirrbarer Nationalsozialist“. 

Im OKW, der obersten Verwaltungs- und Kommandobehörde der deutschen Streitkräfte, bestand Paul Winters Hauptaufgabe darin, Hitlers Anordnungen, Befehle und Wünsche redaktionell in militärische Weisungen umzuformulieren und für deren Umsetzung zu sorgen. Mehrere dieser Schriftstücke bildeten 1946 die Grundlagen für die Todesurteile gegen Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Etwa der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass Barbarossa“, der bestimmte, dass alle Straftaten von Wehrmachtsangehörigen gegen Zivilisten in der Sowjetunion straffrei blieben – quasi ein Freibrief für Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung. Oder der „Kommissarbefehl“, in dem geschrieben stand, dass Rotarmisten nicht den völkerrechtlichen Schutz eines Kriegsgefangenen genießen sollten. Wörtlich: „Sie sind grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen“. Mehr als 3500 Kommissare wurden deshalb exekutiert. 

Noch weitere völker- und kriegsvölkerrechtswidrige Befehle verließen das OKW während der Zeit, als Winter Chef der WZ war. Der „Sühnebefehl“ vom 16. September 1941 bestimmte, dass für jeden deutschen Soldaten, der aus dem Hinterhalt getötet wurde, 100 Geiseln und für jeden Verwundeten 50 erschossen werden sollten. Der „Nacht- und Nebelerlass“ vom 7. Dezember 1941 ordnete an, dass mögliche Gegner in Frankreich oder den Beneluxstaaten festgenommen und heimlich an einen unbekannten Ort im Reichsgebiet verschleppt werden sollten. Der „Kommandobefehl“ vom 18. Oktober 1942 verfügte, dass Angehörige von Kommandoeinheiten der Alliierten bei Gefangennahme zu erschießen seien. Schließlich befahl der „Kugel-Erlass“ vom März 1944, dass aus der Kriegsgefangenschaft geflohene osteuropäische Offiziere und Unteroffiziere nach der Wiederergreifung der SS zu überstellen seien, die sie dann nach Mauthausen zur Exekution bringen sollte. 

Noch 2014 hieß es, Paul Winter sei als „nicht NS-belastet einzustufen“

Dass Paul Winter nach Kriegsende beim Entnazifizierungsverfahren von der Spruchkammer Miesbach als „unbelastet“ eingestuft wurde, hatte für Manfred Veit vor allem einen Grund: „Das sogenannte Befreiungsgesetz war nur auf Mitglieder der NSDAP oder einer ihrer Organisationen anwendbar. Deshalb konnte Winter, der der NSDAP nie angehört hatte und als Offizier auch nicht anzugehören brauchte, juristisch als 'vom Gesetz nicht betroffen' eingestuft werden. Das wertete er schließlich als Entlastung von der schuldhaften Teilhabe an einem verbrecherischen System.“ 

In den letzten Kriegstagen bekam Paul Winter den Auftrag, zusammen mit den Ehefrauen von Keitel und Jodl nach Prag zu fliegen. Von dort aus machte er sich mit dem Auto auf den Weg nach Berchtesgaden – mit einem klaren Plan. Auf halber Strecke in Neumarkt-St. Veit veranlasste er seine sofortige Entlassung aus der Wehrmacht. Später stand er den Alliierten als wertvoller Zeuge über das Innenleben im Oberkommando der Wehrmacht zur Verfügung. Der Beginn seines zweiten Lebens. 

Manfred Veit hat Landrat Peter von der Grün (parteilos) und Neuburgs Oberbürgermeister Bernhard Gmehling (CSU) bereits im November 2023 seine Recherchen überreicht. Nach gut einem halben Jahr und den Anfragen unserer Redaktion zu dem Fall haben beide jetzt eine Überprüfung und Konsequenzen angekündigt. „Wir werden gemeinsam eine Anfrage an Kultusministerin Anna Stolz vorbereiten, in der wir um eine Neubewertung des Falles Winter bitten“, sagte Landrat von der Grün unserer Redaktion. Noch 2014 hatte das Kultusministerium anlässlich des 120. Geburtstages von Paul Winter erklärt, dass es keinerlei Anlass gebe, an dessen Integrität zu zweifeln. Er sei als „nicht NS-belastet einzustufen“, hieß es damals.

 
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