Direkt am Eingang des "Hope Hostel" hängt ein großes Plakat. Darauf steht: "Komme als Gast an, breche als Freund wieder auf." An den pathetischen Zeilen werden, vielleicht in wenigen Wochen, Asylbewerberinnen und Asylbewerber vorbeigehen. Sie werden aus Großbritannien nach Ruanda gebracht worden sein, im Rahmen eines höchst umstrittenen Abkommens.
Oder doch nicht? Die Farbe auf dem Plakat ist schon verblasst. Seit zwei Jahren ist das Gasthaus an einer lebhaften Straße der Hauptstadt Kigali für den Publikumsverkehr geschlossen: Damals sollten die ersten Abschiebungen nach Ruanda erfolgen. Britische Gerichte verhinderten dies – wegen Zweifeln am Asylverfahren in dem ostafrikanischen Land, an der Unabhängigkeit seiner Justiz, seines Umgangs mit Menschenrechten, seiner Sicherheit als Drittstaat. Im vergangenen April verabschiedete schließlich das britische Parlament ein Gesetz, um die Abschiebungen zu ermöglichen.
Massive Kritik daran kommt von der Opposition und Menschenrechtsorganisationen. Vertreter der Vereinten Nationen sprachen von einem "Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention" und einem "gefährlichen Präzedenzfall". Dennoch wird über das Ruanda-Abkommen in der Europäischen Union, aus der Großbritannien austrat, viel diskutiert. Für einige Politikerinnen und Politiker hat es eine Vorbildwirkung, Modellcharakter. Ganz gleich, wie umstritten es ist. Ganz gleich, ob es überhaupt in die Realität umgesetzt wird.
In Großbritannien macht man keinen Hehl daraus, dass es um Abschreckung geht
Die Idee: Irreguläre Asylsuchende, die Großbritannien etwa über den Ärmelkanal in Booten erreichen – 2023 waren es gut 30.000 – sollen dort nicht länger ihren Antrag stellen. Sie sollen das rund neun Flugstunden entfernt in Ruanda tun. Das britische Innenministerium bezifferte im vergangenen Jahr die Kosten für solche Abschiebungen auf umgerechnet 200.000 Euro – pro Person. In Großbritannien ist es inzwischen zu ersten Verhaftungen von Ausreisepflichtigen gekommen; einige flüchteten sich in benachbarte EU-Länder. Denn, das ist der Kern des Abkommens: Selbst bei einem erfolgreichen Antrag würde sich für sie lediglich ein Bleiberecht für Ruanda ergeben. Eine Rückkehr nach Großbritannien: ausgeschlossen. Auf der Insel macht man keinen Hehl daraus, dass es um Abschreckung geht.
Kürzlich zitierte der Fernsehsender Sky News aus Regierungsdokumenten, denen zufolge London zwischenzeitlich sogar den Irak für ein Modell im Stile des Ruanda-Abkommens in Erwägung gezogen habe. Für den schwer angeschlagenen, überaus unbeliebten britischen Premierminister Rishi Sunak ist der Ruanda-Deal so etwas wie die letzte Chance auf einen Verbleib im Amt. Es ist sein Trumpf im Ärmel. Der wohl einzig verbliebene.
Der Vergleich mit einem Glückspiel drängt sich förmlich auf. Zumal Sunak, wie ein Spieler, am vergangenen Mittwoch völlig überraschend den Termin für die anstehende Parlamentswahl bekannt gab. Es war ein merk- und denkwürdiger Auftritt, in Großbritannien machte man Witze darüber. Sunak stand im Regen und ein Aktivist ließ unüberhörbar "Things Can Only Get Better" aus einer Lautsprecherbox erschallen. Das war nicht nur ein Kampagnen-Song von Labour, es war reinster Spott: Dinge können bloß besser werden.
"Wenn ich gewählt werde, werden die Flüge abheben", sagt der britische Premier Sunak
Sunak jedenfalls scheint jetzt alles auf eine Karte setzen zu wollen, alles oder nichts. Umfragen zufolge sieht es eher nach nichts aus. Seine Conservative Party liegt in Umfragen um die 20 Prozentpunkte hinter Labour. Der Druck auf ihn steigt, auch der Zeitdruck: Der Wahltermin ist am 4. Juli. Am Donnerstag also sagte Sunak in einem Radio-Interview: "Wenn ich gewählt werde, werden die Flüge abheben." "Noch vor der Wahl?", wurde er gefragt. "Nach der Wahl", antwortete er und ergänzte: Die Vorbereitungen seien getroffen, im Sommer werde es Schlag auf Schlag gehen. Wird sich die harte Rhetorik, der harte Asylkurs für ihn auszahlen? Wird das Abkommen mit Ruanda funktionieren? Wird es weiterverfolgt werden, wenn er die Wahl verliert? Der Spiegel schrieb, es sei – so scheine es – "faktisch tot". Labour habe bereits angekündigt, das Abkommen nicht weiterführen zu wollen, sei man an der Macht.
In Ruanda wartet man derweil ab. Mehrere Hotels wurden hergerichtet, insgesamt schuf man Kapazitäten für rund 5000 Asylbewerberinnen und -bewerber. Eine feste Obergrenze für Aufnahmen hat das Land, zumindest offiziell, nicht zugesagt. Vor einigen Tagen gab es einen Asylsuchenden, der nach Kigali geflogen wurde – allerdings im Rahmen eines Freiwilligenprogramms und nicht auf Grundlage des neuen britischen Gesetzes. Wo er in Kigali wohnt, verriet die Regierung von Paul Kagame bislang nicht. Im "Hope Hostel" betrachtet man das alles ganz im Stile Kagames: technokratisch. Es laufen letzte Vorbereitungen. Verantwortet werden sie von Ismael Bakina, der im eleganten Anzug zum Rundgang bittet. Dem Manager stehen 40 Mitarbeitende zur Verfügung, von denen er gerade einige zum Unkrautzupfen abgestellt hat. "Wir rechnen in rund sechs Wochen mit den ersten Ankünften", sagt er über die Asylsuchenden aus London. "Wir werden dafür sorgen, dass sie Trost und Sicherheit vorfinden." Das "Hope Hostel" hat die Hoffnung im Namen. Einst waren darin Überlebende des Genozids in Ruanda im Jahr 1994 beherbergt.
Nun gibt es neue Gebetsräume, Bakina kalkuliert mit vielen muslimischen Gästen. In den 50 Zimmern liegen Gebetsteppiche bereit, im Restaurant hängt ein Schild mit der Aufschrift "Halal". Auf dem Weg zu einem Sportfeld deutet Bakina auf ein Veranstaltungszelt. Es werde als Drehscheibe für Mitarbeitende und Übersetzer dienen, die alle bei der effizienten Bearbeitung der Einwanderer behilflich sein wollten, sagt er. In Ruanda weiß man, dass die Umsetzung des Abkommens weltweit mit Argusaugen beobachtet wird.
Kann ein Abkommen wie der Ruanda-Deal tatsächlich eine abschreckende Wirkung entfalten?
Es geht um viel Geld: Großbritannien überwies umgerechnet 339 Millionen Euro, innerhalb der kommenden drei Jahre könnten nach Angaben des britischen Rechnungshofes bis zu 245 Millionen Euro hinzukommen. Und es geht, mehr noch, darum, die Zuwanderung nach Europa zu begrenzen und zu steuern.
Viele Länder Europas hätten ein Migrationsproblem oder nähmen es so wahr, sagte der Würzburger Extremismus-Experte Peter Neumann, der am King’s College in London forscht und lehrt, kürzlich im Gespräch. Er betonte, dass die etablierten Parteien noch keine Lösung hinbekommen hätten. "Beim Thema Migration Handlungsfähigkeit zu beweisen, das wäre das Wichtigste, um der AfD und ähnlichen Parteien die Wähler abspenstig zu machen", meinte er und sprach damit ein ernsthaftes Problem an: Massenhafte Zuwanderung stellt Politik wie Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Eine davon ist ein sogenannter Rechtsruck, der den europäischen Demokratien zusetzt. Neumann geht nicht nur davon aus, dass nach der Europawahl am 9. Juni ein Rechtsruck "sicher" kommen werde – er sei schon da.
Die Frage ist: Kann eine "Drittstaatenlösung", können Abkommen wie der Ruanda-Deal, eine abschreckende Wirkung entfalten?
In Deutschland haben sich vor allem CDU und CSU des Themas angenommen. Die Christdemokraten verabschiedeten auf ihrem Bundesparteitag Anfang Mai ein Grundsatzprogramm, das explizit fordert: "Wir wollen das Konzept der sicheren Drittstaaten realisieren." Ein jeder, der in Europa Asyl beantrage, "soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen", heißt es. Im Falle eines positiven Verfahrens soll der "sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren". Die CSU argumentiert, die illegale Migration könne nur nachhaltig gestoppt werden, wenn die Schleuser-Systeme durchbrochen würden. "Wenn die Asylverfahren und das Gewähren von Schutz außerhalb Europas stattfinden, erreichen Migranten schlichtweg unsere Sozialsysteme nicht mehr", sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt unserer Redaktion. Denn das zerstöre die Logik des Schleusergeschäfts, "weil es damit keinen Sinn mehr macht, für eine kriminelle Schleusung Tausende von Euro zu bezahlen".
Auch in Deutschland befasst sich die Politik mit dem Thema "Asylverfahren in Drittstaaten"
Experten sind skeptisch, Hunderte Pfarrer übten Kritik an den Unions-Plänen zur Drittstaatenlösung. Die CDU/CSU-Fraktion scheiterte vor Kurzem im Bundestag mit einem Antrag zur Migrationspolitik, der ebenfalls den Aspekt der Drittstaatenlösung beinhaltet. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP wiesen ihn zurück und warfen der Union unter anderem einen Rückfall in alte Zeiten vor. Vom Tisch ist das Thema für die Regierungsparteien damit jedoch nicht. Die Ministerpräsidentenkonferenz der Regierungschefinnen und -chefs der Länder hat sie aufgefordert, bis zum 20. Juni eine Position zur Frage von Asylverfahren in Drittstaaten vorzulegen. An diesem Tag wird das nächste Treffen der Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzler Olaf Scholz in Berlin stattfinden.
Im Nachbarland Italien befassen sich mit dem britischen Ruanda-Deal insbesondere Fachleute. In der italienischen Öffentlichkeit liegt der Fokus auf Ministerpräsidentin Giorgia Meloni – und deren Vorhaben. Die Chefin der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia war dabei, als die EU einen Migrationsdeal mit Tunesien schloss. Tunesien verpflichtete sich, Migranten von der Überfahrt nach Italien abzuhalten. Im Gegenzug sollte das Land 105 Millionen Euro zur Verbesserung seiner Grenzkontrollen bekommen. Das Abkommen, heißt es, funktioniere kaum.
Vielversprechender aus Sicht der Regierung ist der Pakt, den Meloni und Albaniens sozialdemokratischer Premier Edi Rama im November 2023 schlossen. Danach sollen im Mittelmeer von der Marine aufgelesene Migranten mit geringen Aussichten auf Asyl nicht mehr auf das italienische Festland verschifft werden, sondern nach Albanien – eines der ärmsten Länder Europas. Die von Italien geführten albanischen Zentren sollen jährlich 30.000 Migranten durchlaufen. Meloni hoffte, sie im Mai zu eröffnen. Doch die Bauarbeiten haben erst begonnen. Zu hören ist, sie könnten im November ihren Betrieb aufnehmen.
Die Regierung Rama stellt Italien zwei Grundstücke zur Verfügung, ein ehemaliges Kasernengelände in Gjadër sowie ein Areal in der Nähe der Hafenstadt Shëngjin. In Shëngjin soll die Identität der Ankommenden festgestellt werden. In Gjadër handelt es sich um ein Abschiebelager, von dem aus Migranten in ihre Heimatländer oder in sichere Drittstaaten abgeschoben werden sollen. In beiden Arealen soll italienisches Recht zur Anwendung kommen. Anwälte oder Sicherheitspersonal stammen aus Italien, Menschenrechtsorganisationen erhalten zumindest über Video Zugang. Albanien sorgt einzig für die Sicherheit der Lager. So der Plan.
In Ruanda rechnen nur wenige damit, dass die Asylsuchenden lange bleiben werden
Auch hier gibt es Bedenken und Einwände. Dass das Abkommen zwischen Italien und Albanien EU-Recht verletze, wies die EU-Kommission zurück. Innenkommissarin Ylva Johannson erklärte, das Abkommen verletze kein EU-Recht, "weil es außerhalb dieses Rechts" liege. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nannte es ein Vorbild für Europa.
Zurück in Ruanda bleibt die Frage, was das ostafrikanische Land eigentlich von dem Deal mit Großbritannien hat? Aus Sicht von Gonzaga Muganwa, politischer Analyst und ehemaliger Exekutivsekretär des Journalistenverbands "Rwanda Journalists Association", verfolgt Ruanda strategische Ziele. "Das Hauptaugenmerk liegt auf der Aufrechterhaltung enger diplomatischer Beziehungen zu Politikern in England", sagt er. "Diese Beziehungen gehen oft mit diplomatischer Unterstützung einher. Wenn man beispielsweise einflussreiche Verbündete hat, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, mit Sanktionen konfrontiert zu werden, etwa im Zusammenhang mit dem Kongo." Das riesige Nachbarland wirft Ruanda vor, im Ost-Kongo die Rebellenbewegung M23 zu unterstützen und fordert internationale Sanktionen. Das trotz seiner überschaubaren Größe von 14 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in der Region äußerst einflussreiche Ruanda versucht, derartigen Vorwürfen die Erzählung eines Zufluchtsortes entgegenzustellen.
Tatsächlich leben aktuell 127.000 Geflüchtete in Ruanda. Nur wenige in dem Land rechnen gleichwohl damit, dass die aus Großbritannien ausgewiesenen Asylsuchenden lange bleiben werden – selbst bei einer Anerkennung ihrer Anträge. Zu den vielen Zweifelnden zählt Taxifahrer Abdul Latif Mupenzi. Er begrüßt die Willkommenskultur seiner Heimat, verweist aber auf die hohe Arbeitslosenquote. Allein die werde die Integration behindern. "In Ruanda seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist hart, sehr hart", sagt er. Erst recht, wenn es an den nötigen Sprachkenntnissen fehle. Vielleicht, sinniert er, sei es für diejenigen aus friedlichen Ländern dann doch das Beste, nach Hause zurückzukehren.