Der Wartebereich hinter der Glastür ist die nächste Station auf ihrer Reise. Die Männer, die hier sitzen, tragen dicke Daunenjacken, ihr Hab und Gut haben sie in Rollkoffern, Sporttaschen und Einkaufstüten verstaut. Es ist Mittwochvormittag im Landratsamt in Donauwörth, der Tag, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier „Zuweisungstag“ nennen. Vor ein paar Wochen noch fuhren mittwochs Busse mit Ukrainerinnen und Ukrainern vor, die sich in den Gängen des Amts drängten. Inzwischen kommen keine Busse mehr. Für heute sind 20 Flüchtlinge aus der Türkei und dem Irak angekündigt.
Johann Stark, der sein Büro hinter dem Security-Bereich und der versperrten Zwischentür hat, kann erklären, warum das so ist. Weil nicht mehr Schwaben, sondern Unterfranken zuletzt im Vergleich zu wenig Schutzsuchende aus dem Kriegsland aufgenommen hat und damit nun erste Anlaufstelle für ukrainische Flüchtlinge ist. Stark, der die Ausländerbehörde im Landkreis Donau-Ries leitet, sitzt zwischen Bildschirm und Aktenstapeln und sagt: „Entspannt hat sich die Situation deswegen nicht. Dafür ist der Zustrom viel zu groß.“ Die Zahl der Flüchtlinge, die im Ankerzentrum Schwaben landeten, hat sich seit Juni mehr als verdreifacht. Von dieser zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge werden die Asylbewerber auf die Landkreise weiterverteilt. Die Hälfte der Menschen kommt aus der Türkei, gefolgt von Afghanistan und Irak.
Jede Woche kommen 30 Geflüchtete in den Landkreis Donau-Ries
Natürlich kennt Stark die Diskussionen, die jetzt vor dem Bund-Länder-Gipfel am Montag geführt werden. Die Frage, wie sich die Zuwanderung begrenzen lässt. Die Pläne von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Abschiebungen zu beschleunigen. Aber Stark kennt auch die Realität. Dass man im Landkreis Donau-Ries längst die geforderten Quoten erfüllt und mehr Schutzsuchende aus der Ukraine und anderen Ländern aufgenommen hat, als zunächst gefordert war. „Aber das hilft uns alles nichts“, sagt Stark. Trotzdem werden dem Landkreis jede Woche 30 Flüchtlinge zugewiesen. 30 Männer und Frauen, die hier ankommen, die Dokumente und Geld benötigen, 30 Menschen, die ein Dach über dem Kopf brauchen, Kinder, für die Plätze in Schulen oder Kitas nötig sind. Ausländeramtschef Stark sagt: „Die Taktung ist einfach zu hoch. Wir haben zu viele Asylbewerber, die wir unterbringen müssen.“
Der Mann mit der dicken Daunenjacke, der jetzt im Wartebereich aufgerufen wird, ist vor einem Monat nach Deutschland eingereist. Zuletzt war er im Ankerzentrum Schwaben, heute Morgen kam er mit dem Zug nach Donauwörth. Bevor er seine Papiere vorzeigen kann, geht es zur Kontrolle. „Der Sicherheitsdienst ist für uns das A und O“, sagt Michael Dinkelmeier, Teamleiter für Asylangelegenheiten. Weil er und seine Mitarbeiter schon vieles erlebt haben: Asylbewerber, die mit einem Messer vor der Tür warteten, betrunkene Antragsteller morgens um halb zehn. Oder, erst letzte Woche, 20 Flüchtlinge, die im Ausländeramt einen Sitzstreik durchführten, weil sie, entgegen der Hausordnung, ihren eigenen Wasserkocher in der Unterkunft benutzen wollten.
Die Sprache ist eine große Hürde – und Dolmetscher fehlen
In Zimmer 022 fragt Sachbearbeiter Julian Neubauer: „Which nationality?“ Der Asylbewerber sieht ihn stumm an, er versteht nicht. Neubauer nimmt dem Mann den Ankunftsnachweis ab. Yasin S. aus der Türkei, 20 Jahre alt, eingereist am 26. September. Dann deutet der Sachbearbeiter auf die Landkarte und erklärt, dass der Mann drei Monate in der Region bleiben muss. Er legt Dokumente auf den Tresen, auf Deutsch und Türkisch. Der Asylbewerber starrt auf das Papier vor ihm. Irgendwann greift er zum Handy, spricht los und hält es dann dem Sachbearbeiter unter die Nase. Das, was die Übersetzungs-App ausspuckt, ist unverständlich. Es geht hin und her. Deutsch, Englisch, Türkisch – die Sache zieht sich. „Sign here“, sagt Neubauer dann. Es braucht eine Unterschrift für die Aufenthaltsgestattung, die dem Mann den rechtmäßigen Aufenthalt für die Dauer des Asylverfahrens bescheinigt. Dinkelmeier sagt: „Die Sprachbarriere ist für uns oft die größte Hürde.“
Einen Stock höher, in Zimmer 120, soll ein Laiendolmetscher Bewegung in den Fall bringen. Der Türke steht vor dem Tresen, neben ihm der Dolmetscher. Doch das Gespräch stockt. Es wird klar: Die beiden verstehen sich nicht. Sachbearbeiterin Luisa Anderl sitzt auf der anderen Seite der Glasscheibe, wartet, dass sie Antworten in ihr Protokoll tippen kann. Sie stimmt zu, dass ein Freund des Asylbewerbers dazukommt, um zu übersetzen. Also stellt er die notwendigen Fragen: Wann und auf welchem Weg ist der Mann nach Deutschland gekommen? Was besitzt er? Hat er im Ankerzentrum bereits Geld bekommen?
Geld, lässt der junge Türke über seinen Freund sagen und den Dolmetscher übersetzen, habe er keins. Auch kein Vermögen in der Heimat. Den Ausweis habe er verloren. Luisa Anderl gibt die Antworten ein. Es muss schnell gehen. Der junge Mann ist nicht der Einzige, der an diesem Tag Leistungen beantragen will – 410 Euro sind das in seinem Fall.
Das Geld, das Flüchtlingen zusteht, ist eines der großen Streitthemen in der Migrationspolitik. Längst wird darüber diskutiert, ob Asylbewerber Sachleistungen statt Bargeld bekommen sollen. Gerade erst hat Bayerns Innenminister Joachim Herrmann in einer Videokonferenz mit Landräten und Oberbürgermeistern versichert, dass mit Hochdruck an einem Bezahlkartensystem gearbeitet werde.
Landrat Stefan Rößle verärgert, dass Migrationsproblem AfD stark macht
Der Donau-Rieser Landrat Stefan Rößle macht keinen Hehl daraus, dass es auch an der Attraktivität des deutschen Sozialstaats liegen dürfte, dass Menschen auf Flucht explizit Deutschland als Ziel wählen. Im Sommer hat der CSU-Mann vorgerechnet, dass einer ukrainischen Familie mit zwei Kindern 2538 Euro Bürger- und Kindergeld im Monat zusteht. Das liegt daran, dass Ukrainer – im Unterschied zu Flüchtlingen aus anderen Ländern – kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern in Deutschland als anerkannte Asylbewerber behandelt werden. Damit steht ihnen Bürgergeld zu. Andere Länder wie Frankreich handhabten das anders.
Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten, „Brandstiftung“ wurde dem Landrat daraufhin vorgeworfen, er führe einen „populistischen Wahlkampf“. Rößle bereut seine Aussagen nicht, im Gegenteil. „Ich sage das ja nicht, um zu hetzen. Das sind einfach nur Fakten.“ Er berichtet von Bürgerinnen und Bürgern, die sich fragen, warum sie für weniger Geld 40 Stunden die Woche arbeiten sollten. Er erzählt die Geschichte von Mitarbeitern im Jobcenter, die frustriert sind, weil ukrainische Flüchtlinge mitunter so fordernd aufträten. „Die Leistungen sind viel zu hoch. Das ist ein Fehler im System“, sagt Rößle. „Das führt dazu, dass sich Flüchtlinge speziell Deutschland als Ziel aussuchen."
Und es ist ja nicht die einzige Sache, bei der die Dinge für den Landrat nicht mehr zusammengehen. 1634 Schutzsuchende aus der Ukraine hat der Landkreis aktuell aufgenommen, hinzu kommen noch einmal 736 Asylbewerber aus anderen Ländern und rund 1100 Anerkannte. Dass sich die Lage in den Landkreisen immer weiter zugespitzt hat, dass viele Kommunen einfach keine Menschen mehr aufnehmen können, sei in Berlin nicht durchgedrungen, bemängelt Rößle. Dass die Ampel jetzt mehr Tempo bei den Abschiebungen verspricht, dass man nun auch auf den verschärften Schutz der europäischen Außengrenzen und eine Begrenzung der Zuwanderung drängt, das hält er für dringend nötig. „Nur schade, dass es dafür solcher Wahlergebnisse bedurft hat.“ Es wurmt den Landrat, dass das ungelöste Migrationsproblem die AfD so stark hat werden lassen.
Ein paar Meter weiter, in Zimmer 008, müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Lösungen suchen und Wohnraum finden. An einem weißen Brett hängen Schlüssel. Hunderte, ein jeder von ihnen mit einem Etikett beschriftet, gebündelt an Schlüsselringen. Schlüssel für jede Unterkunft, die der Landkreis angemietet hat. In Donauwörth, Nördlingen und Oettingen. In Wallerstein, Harburg und Otting. Und für die neue Unterkunft in Rain am Lech, in die die jungen Männer einziehen, die an diesem Vormittag im Landratsamt registriert werden. 32 Personen können dort unterkommen. Etwa so viele, wie dem Landkreis jede Woche zugewiesen werden.
Im Donau-Ries sind 92 Prozent der dezentralen Unterkünfte für Geflüchtete belegt
Und das ist ja schon die Schwierigkeit, erklärt Rolf Bergdolt, der hier für die Akquise neuer Unterkünfte zuständig ist. Weil der Landkreis theoretisch jede Woche eine neue Unterkunft in dieser Größe bräuchte. Denn, auch das ist Teil des Problems: Es zieht kaum jemand aus. Etwa die Hälfte der Schutzsuchenden aus der Ukraine wohnen in Landkreis-Unterkünften, außerdem viele anerkannte Asylbewerber. „Wir bringen diese Fehlbeleger einfach nicht in den regulären Wohnungsmarkt."
1550 Plätze in 71 dezentralen Unterkünften hat der Landkreis Donau-Ries, 92 Prozent davon sind belegt. „Faktisch sind wir voll“, sagt Dinkelmeier. Weil man gar nicht jede Unterkunft komplett belegen kann – etwa, weil allein reisende Männer sich kein Zimmer mit allein reisenden Frauen teilen.
Also machen Rolf Bergdolt und seine Kollegen weiter. Sie sprechen Vermieter an, besichtigen Räume, führen Verhandlungen. „Das ist mühsam.“ Manchmal dauert es ein dreiviertel Jahr, bis eine Unterkunft bezugsfertig ist. Manchmal ein Jahr, wie im Fall Mertingen. Dort will ein Investor zwei Häuser für 56 Menschen bauen. „Erstmals in Holzständerbauweise“, sagt Bergdolt und breitet die Pläne dafür auf dem Schreibtisch aus. Auf acht Jahre hat der Landkreis den Mietvertrag unterschrieben. Die Mieten sind stark nach oben gegangen.
Landrat Rößle nickt und sagt: „Wir können nicht jeden Preis zahlen, sonst investieren alle nur noch in den Asylwohnungsbau.“ Andererseits brauche es genau diese Wohnungen und diese Investoren. „Wir wollen ja nicht wieder in die Turnhallen gehen.“ Die Kinder hätten in der Pandemie genug mitgemacht, sie sollten nicht noch einmal auf Sport verzichten müssen. Viele seiner Landratskollegen argumentieren genauso, trotzdem mussten sie zuletzt vielerorts in Schwaben Schulturnhallen umfunktionieren.
Wo Geflüchete wohnen, müssen auch Kita-Plätze und Schulplätze entstehen
In Harburg war die Wörnitzhalle, die von Schule und Vereinen rege genutzt wird, als Notunterkunft im Gespräch. Stattdessen hat man nun die alte, nicht für Schulsport genutzte Turnhalle umfunktioniert und damit 80 Plätze geschaffen. Die Menschen in der Stadt aber stören sich an den Absperrungen, an den Dusch- und Müllcontainern, fürchten Lärmbelästigung. Bergdolt kennt die Beschwerden. Wenn er und seine Kollegen eine potenzielle Unterkunft besichtigen, lassen die ersten Anrufe nicht lange auf sich warten. „Sobald wir vom Hof fahren, geht das los.“
Im Gewerbegebiet in Donauwörth, zwischen Baumarkt und Kfz-Werkstatt, erzählt Rößle, wie schwierig das alles ist. Im Großen wie im Kleinen. Weil im Donau-Ries manche Kommunen, die viele Flüchtlinge aufnehmen, über die Maßen belastet sind, während andere keine Unterkünfte bereitgestellt haben. Dort, wo viele Geflüchtete unterkommen, braucht es Plätze in den Kitas und Grundschulen. Doch Kindergartenplätze sind ohnehin begehrt und Lehrer für zusätzliche Klassen gibt es nicht.
Hier, im Gewerbegebiet in Donauwörth, ist Platz für 150 Ukrainerinnen und Ukrainer. An langen Tischreihen sitzen viele Frauen mit Kindern und einige wenige Männer. Es ist Essenszeit, Reis mit Erbsen und Würstchengulasch hat der Caterer geliefert. Eine Frau kommt, um stolz ihren Enkel zu zeigen – Richard, vor zwei Tagen im Donauwörther Krankenhaus geboren. Die Tochter brauche einen Ort, wo sie in Ruhe stillen könne.
Rößle sieht sich in der Halle um, es ist hell und warm, die Fenster sind dicht, die Schlafräume nebenan sind mit Paravents abgetrennt. Es ist eine der besseren Notunterkünfte, „ein Glücksfall für uns“. Aber trotzdem nur eine Lösung auf Zeit. „Die Menschen hier haben ein Dach über dem Kopf, aber mehr auch nicht. Für einen gewissen Zeitraum ist das okay, aber sicher keine Dauerlösung.“