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„Lesen ist das Nadelöhr in die Gesellschaft“
Das Gespräch führte Birgit Müller-Bardorff
 |  aktualisiert: 04.02.2020 02:10 Uhr

Die Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie fordert in einer Internet-Petition: „Jedes Kind soll lesen lernen.“ Sie spricht darüber, warum Kinder Sprachförderung benötigen und wie ein Pakt für das Lesen aussehen könnte.

Frage: Frau Boie, was ist das Besondere am Lesen, was macht das Lesen mit einem Menschen?

Kirsten Boie: Lesen gibt Spaß, Spannung, Trost, oft auch Hoffnung, das ist bekannt. Es erzeugt individuelle innere Bilder und löst eine Fülle von Gedanken und Gefühlen aus. Untersuchungen zeigen aber auch, dass das Lesen die Empathie, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzudenken, steigert, weil man sich beim Lesen mit anderen identifiziert und – im Unterschied zu allen anderen Medien – ständig in deren Köpfen unterwegs ist. Der Film etwa zeigt Menschen von außen. Nur die Literatur beschäftigt sich mit den Gefühlen und Gedanken einer Person.

Im vergangenen Jahr haben Sie unter dem Eindruck der Iglu-Studie den Aufruf „Jedes Kind soll lesen lernen“ initiiert, in dem Sie mehr Investitionen für die Bildung fordern und den viele Menschen unterschrieben haben.

Boie: Es geht darum, dass in der letzten Iglu-Studie festgestellt wurde, dass fast 20 Prozent der Grundschüler nicht mehr sinnentnehmend lesen können, in der jüngsten Pisa-Studie waren es jetzt 21 Prozent der 15-Jährigen. Das heißt, sie lesen einen Text und verstehen ihn nicht. Sie kennen zwar die Buchstaben und können sie auch zusammenziehen, wissen aber am Ende nicht, was im Text steht. Im Prinzip sind das Analphabeten, die später keine Zeitung, kein Buch, keine Gebrauchsanweisung lesen können. Sie werden keine Ausbildung durchlaufen können und haben deshalb keinen Zugang zur Arbeitswelt, außer zu unqualifizierten Jobs, die aber immer weniger werden. Diese Menschen stehen außerhalb der Gesellschaft. Lesen ist das Nadelöhr in die Gesellschaft.

Woran fehlt es, wenn Kinder nicht sinnentnehmend lesen können?

Boie: Das beginnt schon sehr früh. Viele Kinder sind nicht schulfähig, sie können sich nicht konzentrieren, ihnen fehlt die nötige Frustrationstoleranz, vor allem aber fehlt ihnen die Sprachfähigkeit, um einen Text auch zu verstehen. Dafür benötigt man einen relativ großen Wortschatz und die Kenntnis der Syntax. Das bekommt man zum Beispiel durch Vorlesen schon von klein an vermittelt. Aber ein Drittel der Eltern gab bei einer Befragung an, niemals vorzulesen. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder aus bildungsfernen Familien und solche mit Migrationshintergrund schon deutlich vor der Einschulung Sprachförderung bekommen.

In Ihrer Heimatstadt Hamburg ist das schon so.

Boie: Zwei Jahre vor der Einschulung gibt es einen Sprachtest. Die Kinder, die sprachlich auffällig sind, müssen verpflichtend eine Vorschule oder qualifizierte Kita besuchen. Das hat sich bewährt, denn Hamburg hat in der Iglu-Studie fünf Prozent besser abgeschnitten als der Bundesdurchschnitt.

Sie schlagen in Analogie zum Digitalpakt einen Lesepakt vor. Wie sollte der aussehen?

Boie: Beim Digitalpakt hat sich gezeigt, dass es möglich ist, dieses sogenannte Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern zu umgehen. Wenn das für die Digitalisierung der Schulen möglich ist, gegen die ich mich überhaupt nicht ausspreche, dann müsste das doch auch in diesem Bereich möglich sein. Der Bund müsste Mittel zur Verfügung stellen, die Länder und Kommunen abgreifen könnten für bestimmte, festgelegte Zwecke. Festgelegt werden könnten förderfähige Maßnahmen von einem Gremium, das zusammengesetzt ist aus Bund, Ländern, Kommunen und freien Trägern.

Sie haben vor etwas über einem Jahr Ihre Internet-Petition, die sogenannte „Hamburger Erklärung“, an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und den Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz übergeben. Haben Sie schon eine Reaktion erhalten?

Boie: Nein, vor den Kameras der Tagesschau wurde gesagt, wie sehr man sich darüber freue. Ich weiß aber, dass das Thema bei der Kultusministerkonferenz eine Rolle gespielt hat. Und ich weiß, dass in einzelnen Bundesländern auch schon einiges passiert. In Bayern zum Beispiel gibt es ja das Filby-Projekt, das von der Universität Regensburg entwickelt wurde und an dem 40 000 Schüler teilnehmen. Offenbar sehr erfolgreich.

Wie erklären Sie sich, dass es offenbar so schwer ist, für das Thema Leseförderung zu mobilisieren?

Boie: Es ist einmal die Komplexität des Themas, von dem auf politischer Ebene mehrere Ministerien betroffen sind. Und dann wird in der Politik immer auf die Anforderung reagiert, bei der die Bevölkerung am lautesten ist. Dass dies jetzt beim Thema Klimawandel so ist, ist sehr schön. Aber die Parteien machen sich immer erst an die Arbeit, wenn sie glauben, dass es sie Wählerstimmen kosten könnte.

Aber ist das nicht erstaunlich, denn die Folgen für die Gesellschaft und Wirtschaft sind ja enorm.

Boie: Wenn sich Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und andere Gruppierungen zusammenschlössen zu einem Bündnis für das Lesen und Lobbyarbeit betrieben, ließe sich im Bundestag ein Lesepakt durchsetzen, und dann hätten wir eine Chance, dieses Thema stärker ins Bewusstsein zu bringen. Das Problem ist, dass Ursachen und Wirkung einfach zu weit auseinanderliegen: Dass die Kinder lesen lernen oder nicht, passiert heute. Dass sie dann Hartz IV beziehen, passiert Jahrzehnte später.

 
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  • L. W.
    Es geht nichts

    über das Vorlesen der Eltern für ihre Kinder. Das ist der Schlüssel um bei Kindern das spätere Interesse am selber lesen zu wecken. Generell gibt es genug Möglichkeiten die Kinder mit gutem Lesestoff zu versorgen. Öffentliche Büchereien bieten eine große Auswahl für alle Altersgruppen. Wenn das Vorbild der Eltern vorhanden ist, dann kommen auch die Kinder auf den Spaß am Lesen und damit lernen sie auch fast spielerisch richtige Orthographie, was ja durch die Grundschule in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde.
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