Es war nicht immer einfach, aber wenn sie von ihren Brüdern erzählt, lächelt sie. Christiane ist das jüngste von drei Kindern – und sie ist gesund. Ihre beiden Brüder sind geistig beeinträchtigt. Doch damit ist sie nicht allein. Sie ist eines von schätzungsweise drei Millionen Geschwisterkindern in Deutschland. Das sind Menschen, deren Geschwister chronisch krank sind oder eine Behinderung haben. Die 33-Jährige ist das jüngste von drei Kindern. Bei ihrem acht Jahre älteren Bruder Michael wurde eine ausgeprägte Lernschwäche während der Schulzeit festgestellt, der mittlere Bruder Wolfgang, der zwei Jahre älter ist als Christiane, hat eine geistige Behinderung. Für sie war der Alltag mit zwei beeinträchtigten Geschwistern Normalität. Heute leben die erwachsenen Männer in betreuten Wohngruppen. Christiane hat ihre Brüder immer begleitet und auch beschützt.
Ihre gemeinsame Kindheit beschreibt Christiane als fröhlich. "Ich habe eigentlich immer alles bekommen, was ich wollte", sagte sie. Sie hatte etwa ein eigenes Zimmer, während sich ihre Brüder eins teilten. Christiane bekam damit einen Rückzugsort.
Gesellschaftsspiele wie "Mensch ärgere dich nicht" prägten ihren gemeinsamen Alltag. Und auch heute spielt die Familie immer, wenn sie zusammenkommt. Christiane erzählt, dass sie oft mit Wolfgang unterwegs gewesen und es mit anderen Kindern zu schwierigen Situationen gekommen sei. "Wenn sie meinen Bruder gehänselt haben, habe ich ihn immer verteidigt", erzählt Christiane.
Morgendliches Gezanke und Therapiestunden prägten den Familienalltag
Der Alltag war oft von Stress geprägt. Vor allem an das morgendliche Gezanke erinnern sich Christiane und ihre Mutter Agnes, die neben ihr am Küchentisch sitzt, gut. "Der Wolfgang ist sehr stur. Und wenn er nicht in die Schule wollte, war das manchmal ein echtes Theater", erzählt die dreifache Mutter. Christiane musste in solchen Momenten einfach funktionieren. Auch die wöchentlichen Therapiestunden der Brüder nahmen im Familienleben viel Zeit in Anspruch. Zeit, die für Christiane nicht mehr da war.
Dass die gesunden Kinder im Alltag weniger Zuwendung als die kranken erfahren, ist der Normalfall. "Es kann eine große Belastung sein, denn die Geschwisterkinder bekommen oft nicht die elterliche Aufmerksamkeit, die sie bräuchten", sagt Marlen Förderer, Leiterin des Bereichs "Geschwisterkinder" im Institut für Sozialmedizin in der Pädiatrie in Augsburg (ISPA). Häufig sei der Familienalltag sehr eng getaktet, sodass für die Hobbys, Freunde und auch banale Anliegen der Geschwisterkinder wenig Zeit bleibe. Manch eine Familie habe zudem zu hohe Erwartungen. "Das gesunde Kind muss perfekt laufen – ein Anspruchsdenken, welches seitens der Eltern, aber auch seitens der Geschwisterkinder selbst entstehen kann", sagt Förderer. Hinzu kommt, dass sich viele gesunde Kinder nicht trauen, ihren Unmut über solche Situationen auszusprechen.
GeschwisterCLUB: Präventionsangebote für Geschwisterkinder
Um diesen Kindern eine Hilfestellung geben zu können, bilden Förderer und ihr Team Fachkräfte aus und bieten Präventionsangebote an. Das deutschlandweite Projekt "GeschwisterCLUB" beinhaltet Fortbildungen für Fachpersonal, um Geschwisterkinder im jugendlichen und im Kindergarten-Alter optimal betreuen zu können. Und das Angebot für psychosoziale Betreuung und Beratung für Geschwisterkinder wächst. So bieten etwa Lebenshilfe, Caritas und Diakonie Hilfe an, ebenso Kinderkliniken und Frühförderstellen. Förderer empfiehlt zudem die Website der Stiftung Familienbande, diese sammle alle Hilfsangebote für gesunde – auch bereits erwachsene – Geschwisterkinder.
Christiane nahm als Kind einmal an einem solchen Seminar teil, doch wirklich geholfen habe ihr das nicht, erzählt sie. Damals sei es vor allem darum gegangen, Verständnis für die Lage der Eltern zu erlernen. In den Seminaren heute wird laut Förderer den Geschwisterkindern hingegen vermittelt, dass alle Gefühle in Ordnung sind. Doch auch abseits von Programmen können die gesunden Kinder unterstützt werden. Eltern sollten mit ihren Kindern offen kommunizieren und über Ängste und Sorgen sprechen, betont Förderer. Zudem sei es wichtig, diesen Kindern eigene Hobbys und soziale Kontakte zu ermöglichen.
Die Beziehung zu Geschwistern prägt das eigene Leben stark
"Die Beziehung zu den Geschwistern ist die längste Beziehung im Leben eines Menschen", erklärt Förderer. Diese sei dadurch stark prägend für das eigene Leben. Daher ergreifen viele Geschwisterkinder laut Förderer soziale Berufe. So auch Christiane. Sie machte eine Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation beim KjF Berufsbildungs- und Jugendhilfezentrum Sankt Elisabeth und hatte dort mit lernbehinderten Jugendlichen zu tun. An den Wochenenden arbeitete sie eine Zeit lang gemeinsam mit ihrem Vater Horst in einem Café am Milchberg, das sowohl Menschen mit Behinderung als auch ohne beschäftigte. Heute ist sie in der Verwaltung der Schulberatungsstelle Schwaben angestellt.
Geschwister mit einer Behinderung zu haben, kann auch eine enorme Bereicherung für das eigene Leben sein. Laut Förderer entwickeln Geschwisterkinder häufig ein besonderes Verständnis für den Wert des Lebens. Christiane hat das auch früh erkannt. "Viele Menschen nutzen ja das Wort 'behindert' als Schimpfwort. Sie wissen gar nicht, was das wirklich bedeutet", sagt sie. Die Beziehung zwischen den Geschwistern ist auch heute immer noch sehr eng. Die gesamte Familie fährt einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Dort nehmen sich die Geschwister und ihre Eltern Zeit für das, was sie immer schon gerne gemacht haben: Gesellschaftsspiele spielen.