Bevor sich an diesem Abend die Frage stellt, ob Weißwein- oder Rotweinpunsch, wer wann das vegane Chili für den Weihnachtsmarkt kocht und wer am Stand mithilft, geht es erst einmal in die Niederungen. Auf den harten Boden der Tatsachen. Und um die Frage, warum die SPD bei der Landtagswahl in Bayern so desaströs abgeschnitten hat. Also eröffnet Daniel König, der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Rain am Lech, an diesem Abend die Vorstandssitzung und sagt: "Wir alle wissen, wir können mit diesem katastrophalen Ergebnis nicht zufrieden sein."
Ein Monat ist seit der Landtagswahl in Bayern vergangen. Ein Monat Zeit, um den Schock dieses 8. Oktobers zu verdauen und zu verarbeiten, wie sich die Kräfteverhältnisse im Freistaat verschoben haben. Dieser Rechtsruck in Bayern. Dass die AfD nun zweitstärkste Kraft im bayerischen Landtag ist. Und die SPD wieder nur die Nummer fünf. Oder, besser gesagt, die kleinste Oppositionspartei im Maximilianeum mit einer auf nunmehr 17 Abgeordneten geschmolzenen Landtagsfraktion – und mit Simone Strohmayr und Anna Rasehorn nur zwei Parlamentarierinnen aus Schwaben.
Die Krise sieht man vor allem dort, wo die SPD einst stark war
Natürlich, mag man sagen, hat es die SPD im Freistaat traditionell schwer. Doch wie stark die Sozialdemokraten in der Krise stecken, sieht man dort, wo sie einst Erfolge feierten. In Füssen etwa oder in Lauingen, wo die Stimmanteile, verglichen mit 2013, auf ein Drittel geschrumpft sind. In Rain ist es nur noch ein Viertel.
Im Gasthaus zum Boarn in Rain scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Helle Holztische, die typischen Wirtshausstühle mit der geschwungenen Lehne, Hirschgeweihe und ausgestopfte Vögel an den holzvertäfelten Wänden. Auf der Karte wird die halbe Bauernente mit zwei Knödeln und Blaukraut für 17,90 Euro beworben und das Kesselfleisch, das es heute wieder gibt, wie an jedem ersten und dritten Montag im Monat. Den SPD-Mitgliedern, die sich an diesem Abend im Jägerstüberl treffen, steht der Sinn nicht nach Schlachtplatte. Zu ernst ist die Lage, zu bitter sind die Ergebnisse. Also spricht Daniel König noch einmal die Zahlen aus, die die sechs Männer und zwei Frauen am Tisch nur zu gut kennen: Die 8,4 Prozent, die die SPD bei der Landtagswahl in Bayern eingefahren hat – eine historische Pleite. Die 6,2 Prozent an Gesamtstimmen, die es für die Sozialdemokraten im Landkreis Donau-Ries waren. Und hier, in Rain am Lech, gerade einmal 4,9 Prozent.
Dabei haben die Genossen in der 9000-Einwohner-Stadt schon ganz andere Zeiten erlebt. Zeiten, in denen die Partei hier mal wer war. In denen ein SPD-Mann die Stadt regiert hat, drei Jahrzehnte lang. Zeiten, in denen die Roten bei Wahlen 30 Prozent und mehr eingefahren haben – klar, das waren andere Zeiten, eine ganz andere Parteienlandschaft. Doch selbst bei der Landtagswahl vor zehn Jahren holten die Sozialdemokraten in Rain noch 19,1 Prozent. Fünf Jahre später waren es 7,5 Prozent. Und jetzt ein Ergebnis, das, wenn man so will, sogar unter der Fünf-Prozent-Hürde liegt.
Es ist kurz nach 19 Uhr, als Marion Segnitzer-König aufhört, auf ihrem iPad zu tippen, und in die Runde blickt. Die 40-Jährige ist die Schriftführerin des Ortsvereins. Und eine Frau, die mit der Partei aufgewachsen ist. Für die die SPD immer auch Familie war. Ihr Vater Siegfried, der an diesem Abend neben ihr sitzt, ist wohl das, was man ein Urgestein nennt – seit Jahrzehnten in der Partei, heute noch Schatzmeister im Ortsverein und im Unterbezirk Donau-Ries. Und auch unter den Beisitzern sind drei Segnitzers. Ihr Mann Daniel König wiederum ist der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, kennengelernt haben sie sich vor Jahren auf der Landeskonferenz der Jusos in Bamberg – er war damals Bezirksvorsitzender in Niederbayern, sie in Schwaben.
Marion Segnitzer-König ist ein bekanntes Gesicht der "Roten" in Nordschwaben. Auch, weil sie bei der Landtagswahl 2013 als Direktkandidatin für die SPD im Landkreis angetreten war. Damals wagte die Partei mit der jungen, selbstbewussten Lehrerin einen Neubeginn, vom Generationenwechsel war die Rede. Es war die Zeit, als die CSU in die Verwandtenaffäre geschlittert war und der damalige Fraktionschef Georg Schmid aus Donauwörth nicht mehr antreten konnte. Trotz der CSU-Krise reichte es für Segnitzer nicht. Wieder sicherte sich die CSU mit Wolfgang Fackler im traditionell schwarzen Landkreis das Direktmandat. Die SPD-Kandidatin holte damals nur 17 Prozent der Stimmen. Eine klare Niederlage. Und doch waren die Zeiten, verglichen mit heute, andere, bessere.
An diesem Abend also sagt Segnitzer-König in die Runde: "Ich bin etwas ratlos." Weil die Themen, für die die SPD stehe, ja nicht weit weg von dem seien, was die Menschen bewege – bezahlbares Wohnen etwa, wie die Energiewende vor Ort gelingen könne. "Bloß, es nimmt uns niemand mehr ab." Einer am Tisch sagt: "Wir schaffen es nicht, die Erfolge auch entsprechend zu verkaufen." Ein anderer meint: "Wir müssen gesehen werden und unsere Inhalte transparent machen." Segnitzer-König meint: "Es war auch ein Wahlkampf, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Es ging nicht um Themen, es ging nicht um Inhalte. Sonst dürfte die AfD nicht diese Ergebnisse haben."
Mindestlohn, Energiepreisbremse, Kindergelderhöhung – warum zählt das nicht?
Ja, die AfD, die gibt den zwei Frauen und sechs Männern in dieser Runde Rätsel auf. Genauso wie die Frage, warum so viele junge Menschen die Rechtspopulisten gewählt haben. Oder, auf welchen Wegen man eigentlich noch die jungen Wähler erreicht. Oder warum sich die Meinung in der Bevölkerung so gedreht hat, warum so wenig von der Hilfsbereitschaft geblieben ist, die den Ukraine-Flüchtlingen noch vor einem Jahr entgegengebracht wurde. Und dann ist da natürlich Berlin. Die Ampel, die, so sagen sie es hier, immer mit der SPD gleichgesetzt würde – selbst wenn es um das Heizungsgesetz ging, das aus dem Haus von Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck stammte. Und dann, sagen sie, ist da noch der bayerische Ministerpräsident, der gebetsmühlenartig betone, dass alles Schlechte aus Berlin komme.
Auf Berlin schimpfen, das wäre für Marion Segnitzer-König zu einfach. Weil es in ihren Augen so auch nicht stimmt. "Scholz macht die Arbeit nicht schlecht", sagt sie. Zwischen Johannisbeerschorle und dunklem Weizen ertönt ein zustimmend gemurmeltes "Mh" in der Runde. Sie sagt: "Der Output in Berlin ist ganz gut, die Performance ist eine Katastrophe." Ihr Mann, Daniel König, hat es ein paar Minuten vorher ganz ähnlich formuliert: Dass doch in Berlin viel umgesetzt worden sei nach der Wahl. Der Mindestlohn wurde auf zwölf Euro angehoben. Und außerdem: Energiepreisbremse, Zuschüsse, Kindergelderhöhung – alles Maßnahmen, die im Geldbeutel der Menschen ankommen. Dann zitiert König noch die Bertelsmann-Studie, die der Ampelregierung eine positive Halbzeitbilanz ausstellt, weil 38 Prozent der Ziele des Koalitionsvertrags umgesetzt und 26 Prozent in Arbeit seien. König will den Genossen in der Runde Mut zusprechen, er bemüht eine Fußballfloskel. "Das Leben geht weiter, egal ob man gewinnt oder verliert."
Doch so einfach ist die Sache nicht. Nicht, wenn man wie Bayerns SPD am Boden liegt. Nicht, wenn man droht, in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen, gerade hier auf dem Land. Wie also soll man da noch zu den Menschen durchdringen? Wie soll man für die eigenen Inhalte werben, wenn man kaum mehr wahrgenommen wird? Schlechtere Wahlergebnisse bedeuten letztlich weniger Abgeordnete. Und das heißt weniger Geld aus der Parteienfinanzierung. Einer in der Runde sagt: "Wenn man auf dem Wahlschein nur noch an fünfter Stelle ist, dann fehlen halt auch die Kreuze ..." Es ist der Moment, in dem Gerhard Martin nickt. "Ein Prozentpunkt hin oder her ... Na ja, wenn man so nah an der Fünf-Prozent-Hürde ist, ist ein Prozentpunkt mehr oder weniger schon entscheidend."
Martin ist mehr als 40 Jahre SPD-Mitglied, seit 27 Jahren sitzt er für die SPD im Kreistag. Vor drei Jahren trat er als einer der dienstältesten Rathauschefs im Landkreis ab – 30 Jahre Bürgermeister, und das als SPD-Mann. Dass er damals als junger Sozi an die Stadtspitze gewählt wurde, war damals so etwas wie eine Sensation. Martin ist einer, den die Menschen schätzen. Ein Typ, für den mancher sein Kreuz bei der SPD machte, obwohl er mit den Roten eigentlich nichts am Hut hatte. Gerhard Martin, 67, ist keiner, der poltert, auch nicht nach diesem Wahldebakel. Er will stattdessen über Sichtbarkeit sprechen, darüber, warum die SPD mit den eigenen Themen nicht bei den Menschen ankomme. "Das ist schon ein Problem auf Landesebene." Weil es darum gehe, dass man vom ersten Tag an etwas tue und versuche, gesehen zu werden. "Und nicht bezogen auf ein paar Wochen." Die Wochen vor der Wahl.
Es dauert lange, bis an diesem Abend der Name des Mannes fällt, um den es nun geht. Bis sich der Erste an Florian von Brunn abarbeitet. Dem Mann, der angekündigt hatte, die SPD nach der 9,7-Prozent-Pleite bei der Landtagswahl 2018 mit einem lauteren und offensiveren Stil aus ihrem Tief herausholen zu wollen. "Den kennt doch kein Mensch in Bayern", sagt ein Genosse am Tisch. Gemurmel. "Er ist halt auch sehr leise." Dann: "Von Brunn ist doch erst sichtbar geworden, als er gegen Aiwanger geschossen hat", meint Christian Martin, der zweite Vorsitzende des Ortsvereins. "15+x hat er als Wahlziel ausgegeben und es gnadenlos verfehlt."
Trotzdem will an diesem Abend niemand den SPD-Chef infrage stellen. Weil, wer soll es stattdessen machen? "Es wäre ein Fehler, wenn man jetzt schon wieder in Personaldebatten geht", findet Segnitzer-König. "Und es ist auch ein Fehler, wenn man die wenige Arbeitskraft, die man noch hat, schon wieder in Arbeitskreise steckt."
Genau das hat die Bayern-SPD beim Parteitag vor einer Woche in Nürnberg beschlossen: Eine Kommission soll das schlechte Abschneiden bei der Wahl aufarbeiten. Der Frust bei den Genossen sitzt tief, das wurde klar bei all dem, was sich die beiden Landesvorsitzenden von Brunn und Ronja Endres anhören mussten. Zu verkopft und abgehoben sei man, es gebe zu wenig Mitsprache. Vor allem sei die Partei aber seit Jahren tief gespalten. Das sieht auch von Brunn so. Und er räumt ein, dass es derzeit keinen Spaß mache, in der Partei zu arbeiten.
Aufhören ist ja keine Alternative, sagen sie hier
Und jetzt? Beim "Boarn" in Rain bringt der Kellner die zweite Runde Getränke, man redet sich Mut zu, langsam macht sich eine Jetzt-erst-recht-Stimmung breit. Weil das Leben ja weitergehe, weil aufzuhören ja keine Alternative sei. "Das Rezept kann nur sein, die Ärmel hochzukrempeln und dorthin zu gehen, wo die Menschen sind", sagt Gerhard Martin, der Altbürgermeister. "Wir müssen es auch schaffen, dass wir am Land wieder bekannt werden. Dafür müssen wir uns alle die Hacken ablaufen", meint Christian Martin, sein Sohn. Also wollen sie weiter vor Ort für die Menschen Politik machen, im Rainer Stadtrat, wo die SPD mit drei Sitzen vertreten ist. Versammlungen abhalten, zur Not auch vor einer Handvoll Leuten. Und mit den Menschen reden, diskutieren, überzeugen. Auch am Weihnachtsmarkt Mitte Dezember. Am SPD-Stand gibt es veganes Chili. Und Weißweinpunsch. Der war immer ein Erfolg.