Es ist viel passiert im Leben von Hubert Aiwanger, seit er mit seinen Freien Wählern im Herbst 2008 erstmals in den Landtag einzog. Aber die vergangenen beiden Wochen waren die vermutlich härtesten seines politischen Lebens. Die steile Karriere des politischen Einzelkämpfers aus Niederbayern drohte in der Affäre um ein übles antisemitisches Flugblatt aus seiner Schulzeit ein jähes Ende zu nehmen. „Das bin ich nicht“, hat er beteuert. Und das darf man ihm auch glauben. Aiwanger ist kein Antisemit. Dafür konnte aus den vergangenen zwei Jahrzehnten kein einziges Indiz beigebracht werden.
Nicht glauben aber muss man ihm, dass er sich an die Ereignisse vor 35 Jahren nicht genauer erinnert, als man die Flugblätter in seiner Schultasche gefunden und ihm mit der Polizei gedroht hatte. Er selbst sagt, er sei „erschrocken“ gewesen und beschreibt den Vorfall als „einschneidend“. Kann man da fast alles vergessen? Oder vielleicht verdrängen? So oder so steht fest: Der Hubert Aiwanger, der sich am 8. Oktober zur Wahl stellt und Bayern erneut für weitere fünf Jahre mitregieren will, ist nicht mehr derselbe, der er noch vor gut zwei Wochen war. Er ist angeschlagen. Aber er gibt nicht auf.
Hubert Aiwangers Kritiker werfen ihm "AfD-Sprech" vor
Im politischen Kreuzfeuer stand Aiwanger schon, seit er sich bei der Anti-Heizungsgesetz-Demo in Erding zu diesen Sätzen hat hinreißen lassen: „Wir werden jeden Tag mehr, weil wir die Mehrheit sind. Es ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss und denen in Berlin sagen: Ihr habt wohl den Arsch offen da oben.“ Der letzte Halbsatz ist unflätig. Der erste Teil der Aussage aber ist höchst problematisch, weil hier ein Mitglied einer demokratisch gewählten Regierung so tut, als gäbe es in Deutschland keine Demokratie mehr. Seine Kritiker haben Aiwanger „AfD-Sprech“ vorgehalten. Er betreibe mit dieser Redeweise das Geschäft der Rechtsaußenpartei, die „das System“ insgesamt, also die parlamentarische Demokratie bekämpfe.
Auch aus der CSU gab es heftige Kritik. CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer verglich die Wortwahl mit der von Rechtsradikalen. Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) kommentierte Aiwangers Auftritt als „Populismus am rechten Rand“, der „brandgefährlich“ sei und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde.
CSU und Freie Wähler: Es geht um den Zusammenhalt der Regierungskoalition
Es war nicht das erste Mal, dass der Chef der Freien Wähler von der CSU hart angegangen wurde. Das war auch im Landtagswahlkampf vor fünf Jahren so. Damals waren die Freien noch in der Opposition und die CSU redete so über Aiwanger, wie viele führende Christsoziale am liebsten heute noch über ihn reden würden, aber eben nicht mehr dürfen, um den Zusammenhalt der Regierungskoalition nicht zu gefährden. Damals twitterte Florian Herrmann: „Wer wie Aiwanger seine Sprache nicht im Griff hat, bei dem muss auch im Kopf Unordnung herrschen. Für mich ist klar: Dieser Politprolet ist persönlich nicht koalitionsfähig, er ist Lichtjahre vom Niveau eines bayerischen Ministers entfernt.“
Aiwanger hat derlei Kommentare wahrscheinlich nicht vergessen. Er weiß, wie sie in der CSU über ihn denken. Er sah sich nach seinem Auftritt in Erding sofort von Feinden umzingelt und ging zum Gegenangriff über. Dass an der Kritik in diesem Fall etwas dran sein könnte, dass er sich im Eifer des Protests mindestens missverständlich und unpräzise ausgedrückt hat, kam ihm offenkundig nicht in den Sinn.
Hubert Aiwangers Sprache ist für ihn sein Markenzeichen
Aiwanger warf der CSU vor, sie wolle ihn einbremsen und verunsichern, damit er nicht mehr so „bürgernah“ auftrete. Seine Sprache ist für ihn sein Markenzeichen. Er spricht für den Stammtisch. Sein Gegner ist der Zeitgeist. Im Normalfall schreckt Kritik ihn nicht. Diesmal aber musste er sich erklären. In einem Interview rechtfertigte er sich mit den Worten: „Ich habe nicht gesagt, die parlamentarische Demokratie funktioniert nicht.“ Er habe nur ausdrücken wollen, „dass die Meinung und die Lebensrealität der Mehrheit der Bevölkerung wieder mehr im Mittelpunkt der Politik und der Medien stehen muss und von einer Minderheit nicht immer mehr Themen gespielt werden dürfen, die der breiten Bevölkerung auf die Nerven gehen.“
„Die Minderheit“, das sind für Aiwanger Linke, Sozialdemokraten und Grüne. Moderne Stadtgesellschaften und neuartige Lebensentwürfe sind ihm suspekt. Seine Welt, seine „Lebensrealität“, ist das Land. Hier lebt seine „Mehrheit“. Hier leben die „normalen“ Leute, von denen er spricht: Handwerker, Wirte, Bauern, Hauseigentümer. Diese Lebenswelt soll so bleiben, wie sie war. Junge Frauen und Männer sollen heiraten, ein Haus bauen, Kinder haben. Leistung soll sich lohnen. Eigentum soll geschützt, die Steuern für Arbeitnehmer wie Unternehmer sollen gesenkt, die Erbschaftssteuer komplett abgeschafft werden. So erzählt es Aiwanger in seinen Wahlkampfreden.
Inhaltlich unterscheidet er sich damit im Kern nicht groß von der CSU, wie sie einmal war, nur eben ohne „diese Modernität“. Die propagierten Ziele sind ähnlich. Einzig bei der Erbschaftssteuer geht Aiwanger noch weiter. Die CSU fordert nur die Abschaffung der Erbschaftssteuer aufs Elternhaus und verweist darauf, dass mehr laut Verfassung nicht möglich sei. Er will sie völlig streichen, Verfassung hin oder her.
Aiwanger sei zu stark auf alles Negative fixiert
Die größten Unterschiede zwischen Aiwanger und Söder liegen in der Redeweise im Wahlkampf und in der Stoßrichtung. Die CSU sagt, sie wolle nach wie vor als Volkspartei für alle da sein. Sie stellt die Erfolge der Staatsregierung, die echten wie die vermeintlichen, nach vorne und verspricht, dass es in Zukunft so weitergehen soll: „Unser Land in guter Hand.“
Aiwanger dagegen redet mehr über Missstände und spricht ganz gezielt die Unzufriedenen an. Er ist, wie die früheren CSU-Vorsitzenden Erwin Huber und Theo Waigel es in einer Erklärung formulieren, „stark in der Negation und schwach im Positiven“. Mit seinen „Tiraden“ befördere er eine „gefährliche Stimmungsdemokratie“.
Aiwanger zeichnet ein Bild von einem Land, das gerade an die Wand gefahren wird. Seine Kronzeugen sind wahlweise ein junger Metzger, der nach Kanada auswandert, „weil er für sich in Deutschland keine Zukunft sieht“, oder ein Landwirt, der seinem Sohn sagt, er solle den Betrieb besser nicht übernehmen, weil ihm die Landwirtschaft kein Auskommen mehr verspricht. Dass gut ausgebildete junge Leute auswandern, darf aus seiner Sicht nicht sein. Deutschland soll wieder dahin zurück, wo es in besseren Zeiten einmal war – vor Corona, vor Krieg, vor Inflation.
Das klingt tatsächlich manchmal so wie bei der AfD. Doch Aiwanger vertritt weder völkische noch fremdenfeindliche noch rechtsradikale Positionen. Mit Ideologien, wie er den Begriff versteht, will er erklärtermaßen nichts zu tun haben. Seine Ideologie ist der Pragmatismus. Er würde sagen: der gesunde Menschenverstand. Zuwanderer sind ihm „herzlich willkommen“, wenn sie „anständig“ sind und eigenes Geld verdienen. Langwierige Deutschkurse brauche es dafür nicht. Die Sprache, so sagt er, lernt man bei der Arbeit und in der Brotzeitpause – so wie einst die Gastarbeiter. Nur geordnet müsse die Zuwanderung sein und eben kein „Chaos“.
Aiwanger sieht sich selbst in der politischen Mitte
Aiwanger sieht sich selbst „in der politischen Mitte“. Wenn „die Randparteien“ wie in einigen Teilen Ostdeutschlands über 50 Prozent Zustimmung haben, so sagt er, „dann ist die Demokratie in höchster Gefahr“. Er wolle den Wählerinnen und Wählern „ein vernünftiges Angebot machen“ und „verhindern, dass Menschen an die radikalen Ränder gehen“.
Diese Zitate stammen aus seiner Rede beim Gillamoos-Volksfest in Abensberg am Montag vergangener Woche. Er hielt sie einen Tag, nachdem Söder erklärt hatte, ihn als Minister nicht zu entlassen. Immer wieder war in der Rede spürbar, dass er auf keinen Fall einen Fehler machen wollte. Er sagte kein Wort mehr zu der Affäre, sprach nicht mehr von einer „Schmutzkampagne“ und unterließ es auch, sich selbst als Opfer zu stilisieren.
Was ist da geschehen? Ist er eingeschüchtert? Oder hat er sich die Kritik zu Herzen genommen? Hat er vielleicht sogar verstanden, dass er Fehler gemacht hat – nicht nur vor 35 Jahren, sondern jetzt? So ganz genau lässt sich das nicht sagen. Er selbst sagt dazu nichts.
Auch die Reden bei der Sondersitzung des Zwischenausschusses des Landtags am Donnerstag ließ Aiwanger wortlos über sich ergehen – phasenweise mit geschlossenen Augen oder einem starr ins Leere gerichteten Blick. Die Schmerzen, die ihm die Urteile bereiteten, waren ihm anzusehen. Das war so, als Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann ruhig und sachlich eine lange Liste unbeantworteter Fragen zu seinem Verhalten in der Flugblatt-Affäre vortrug. Das war aber vor allem so, als auch die Redner der Regierungsfraktionen klarmachten, welche Bedeutung die Aussöhnung mit Israel und der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung für Bayern habe und worum es in der Konsequenz jetzt gehen müsse.
Antisemitismus-Vorwürfe wiegen in Deutschland schwer
Tobias Reiß, der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Fraktion sagte: „Antisemitismus-Vorwürfe wiegen aufgrund unserer geschichtlichen Verantwortung schwer. Deshalb kann und darf die Devise nicht heißen „Schwamm drüber“. Auch wir als Fraktion erwarten, dass Hubert Aiwanger alles tut, verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen – insbesondere bei unseren jüdischen Geschwistern.“ Florian Streibl, der Fraktionschef der Freien Wähler, wurde noch etwas persönlicher. Er sieht Aiwangers Glaubwürdigkeit „sehr belastet“ und sagte: „Diese Glaubwürdigkeit hat, das muss man so klar sagen, durch den Umgang mit den Vorwürfen und auch durch das Krisenmanagement weiteren Schaden genommen.“
Kann einer nach so einem Tribunal noch derselbe sein? Vermutlich nicht. Ob er nachdenkt und sich ändert? Wer weiß.
Am 8. Oktober ist Landtagswahl. In einer Porträtserie stellen wir die Spitzenkandidaten der wichtigsten Parteien vor.