Noch vor etwa 20 Jahren war die Sache klar. Wer in Bayern die Stimmungslage für einen politischen Redner erkunden wollte, musste in ein Bierzelt gehen und – ganz entscheidend! – sich in die Mitte des Zelts setzen. Der Grund: Ganz vorne sitzen die Parteimitglieder, Unterstützer und geladenen Gäste. Da wird immer applaudiert. Dahinter sitzen die Interessierten. Die klatschen nur, wenn sie wollen. Aber ganz hinten im Zelt hocken die, die nur zufällig da sind und denen es eigentlich ziemlich wurscht ist, was der da vorne zu sagen hat.
Dringt ein Redner bis nach ganz hinten durch und bringt vielleicht sogar die Kartenspieler am letzten Tisch dazu, das Spiel zu unterbrechen und zuzuhören, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er bei der nächsten Wahl gut abschneidet. Einzige Einschränkung: Der Beobachter musste sich darüber im Klaren sein, dass das Ergebnis seiner Recherche nur für das Bierzeltpublikum gilt, das überwiegend aus biertrinkenden, traditionsverbundenen und tendenziell konservativ gesinnten Männern besteht. Verlässliche Prognosen über das zu erwartende Wahlverhalten von Frauen oder Intellektuellen ließen sich aus diesen Beobachtungen kaum ableiten.
Für die CSU war das Bierzelt schon immer ein Wohnzimmer
Für die CSU waren Auftritte im Bierzelt von Anfang an ein Heimspiel. Ihre Frontmänner – von Josef Müller („Ochsensepp“) über Franz Josef Strauß bis Edmund Stoiber– sicherten der Partei über Jahrzehnte hinweg die „Lufthoheit über die Stammtische“. Zwar gab es dort auch Konkurrenz – zu Beginn von der Bayernpartei mit ihrem wortgewaltigen Haudrauf Josef Baumgartner und über die Jahre hinweg auch von dem ein oder anderen Sozialdemokraten wie zum Beispiel dem schneidend scharf argumentierenden früheren Münchner Oberbürgermeister und SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Und auch der ehemalige bayerische Grünen-Chef Sepp Daxenberger konnte mit seiner authentischen Art ein Bierzelt-Publikum beeindrucken. Kraftmeierei und markige Sprüche aber blieben zumeist Alleinstellungsmerkmal der CSU.
Erst mit dem Internet erwuchs dem Bierzelt als dominierende Wahlkampfarena in Bayern ernsthafte Konkurrenz. Die Strategen in den Parteizentralen entdeckten die digitalen Stammtischbrüder in den sozialen Netzwerken als wichtige Zielgruppe. Das Bierzelt verlor an Bedeutung.
Allein Markus Söder will über 100 Mal im Bierzelt reden
Auf den ersten Blick umso erstaunlicher ist die Renaissance, die es in diesem Landtagswahlkampf erfährt. CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder, der sehr genau weiß, worauf es bei der direkten persönlichen Ansprache des Publikums ankommt und welche Register er da ziehen muss, wird nach eigenen Angaben allein dieses Jahr bis zum Wahltag am 8. Oktober rund 110 Bierzeltreden halten. Sein schärfster Wettbewerber um die Gunst bürgerlich-konservativer Wählerinnen und Wähler, der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler), dürfte ihm bei der Zahl seiner Auftritte in den Festzelten kreuz und quer im Freistaat nicht groß nachstehen.
Beide Herren setzen auf persönliche Präsenz. Für beide ist das Bierzelt ein Ort, wo sie sich wohlfühlen, wo sie Stimmungen aufnehmen und zu ihren Zwecken verstärken können. Beide müssen dort, anders als in Landtagsdebatten oder bei Podiumsdiskussionen nicht mit Nachfragen oder Widerspruch rechnen. Sie werben vorrangig um die biertrinkenden, traditionsverbundenen und tendenziell konservativ gesinnten Männer. Das kann funktionieren – oder auch nicht.