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Kaufbeuren
Mit Gott an ihrer Seite: Warum sich eine 44-Jährige taufen lässt
In einer Zeit, in der viele Menschen aus der Kirche austreten, will Ewa Trettin sich taufen lassen. Über Wendepunkte im Leben und eine Pfarrerin, die zur Aperol-Andacht lädt.
Taufen auf dem Stuttgarter Fernsehturm.jpeg       -  Taufen auf dem Stuttgarter Fernsehturm Tauffest mit 44 Taeuflingen am Samstag (24.06.2023) am und auf dem Stuttgarter Fernsehturm.  Bis vom Bodensee waren die Tauffamilien nach Stuttgart gekommen, auf die stuendlichen Kurzgottesdienste folgten am Samstag, dem Johannistag, die Auffahrten in 36 Sekunden auf 144 Meter Hoehe. Drei Taeuflinge, darunter die zehnjaehrige Mathilda (Foto: wird von Pfarrer Michl Krimmer getauft), hatten sich fuer eine Taufe mit Untertauchen im Pool entschieden. Dazu war am Fusse des Fernsehturms der mobile Pool aufgestellt, der sonst in der 'KesselKirche Stuttgart' zum Einsatz kommt. (Siehe epd-Meldung vom 24.06.2023)
Foto: Thomas Niedermueller | Taufen auf dem Stuttgarter Fernsehturm Tauffest mit 44 Taeuflingen am Samstag (24.06.2023) am und auf dem Stuttgarter Fernsehturm.
Sonja Dürr, Daniel Wirsching
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:21 Uhr

Ewa Trettin drückt den Türgriff nach unten, zieht die schwere Holztür der Dreifaltigkeitskirche in Kaufbeuren auf und sagt dann: "Das ist meine Kirche." An manchen Tagen kommt Ewa Trettin hierher, in die evangelische Kirche, nimmt Platz und denkt nach. Für die 44-Jährige ist das Gotteshaus ein Rückzugsort, den sie immer ansteuern kann. "Ich weiß, dass ich hier meine Gedanken sortieren kann. Dass ich zur Ruhe kommen kann. Ich kann zu mir kommen."

An diesem Donnerstagmittag steht Ewa Trettin in Jeans, weißem Shirt und Turnschuhen in der Kirche und will ihre Geschichte erzählen, so kurz bevor es ernst wird. Sie spricht von den Eltern, daheim in Polen, die noch vor ihrer Geburt beschlossen haben, aus der Kirche auszutreten. Davon, dass ihre Familie trotzdem Weihnachten und Ostern gefeiert hat. Und dass der Glaube sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete. "An sich braucht man die Kirche ja nicht, um an Gott zu glauben", sagt sie.

Die Kirchen haben im vergangenen Jahr so viele Mitglieder verloren wie nie

Glaube ja, Kirche nein – es scheint, als sähen das immer mehr Menschen so. Und nicht wenige dürften auch mit dem Glauben nichts mehr anzufangen wissen. Allein im vergangenen Jahr sind mehr als eine halbe Million Katholiken ausgetreten. Die evangelische Kirche hat in dieser Zeit 380.000 Mitglieder durch Austritte verloren – in beiden Fällen so viele wie nie zuvor.

In einer Zeit also, in der Tausende sich von der Kirche abwenden, sagt Ewa Trettin: "An sich braucht man die Kirche ja nicht, um an Gott zu glauben." Trotzdem hat sie diesen Entschluss gefasst: Dass sie zu ihrem Glauben, zu Gott, auch diese Kirche braucht. So will sie es, so fühlt es sich richtig für sie an – nun, da sich so vieles in ihrem Leben gewendet hat. "Das ist es, was ich in dieser Situation brauche", sagt sie und aus ihren grünen Augen blickt Entschlossenheit.

Ewa Trettin wird sich taufen lassen. Und das Fest wird eine Nummer größer, als sie es sich ursprünglich gewünscht hätte, ungewöhnlicher, unkonventioneller. An diesem Samstag, diesem 1. Juli 2023, wird Trettin mit zehn anderen Täuflingen am Oggenrieder Weiher zusammenkommen. Dort, eine Viertelstunde von Kaufbeuren entfernt, breiten jetzt gerade Familien ihre Decken am Badestrand aus, ein Mann hat es sich auf einer Liege im Schatten gemütlich gemacht, zwei Buben buddeln im Sand.

Die Pfarrerin hatte zuletzt zur Aperol-Spritz-Andacht eingeladen

Wo nun eine Frau mit grauen Haaren aus dem Wasser steigt, werden an diesem Samstag die Pfarrerinnen Dorothée Stürzbecher-Schalück und Barbara Röhm stehen, bis zu den Knien im Wasser, und elf neue Gemeindemitglieder taufen. Babys und Kleinkinder, Grundschüler und eben auch Ewa Trettin. "Kann sein, dass dann jemand mit dem Schlauchboot vorbeifährt", sagt Stürzbecher-Schalück. Aber ungewöhnlicher, sagt sie, könne der Rahmen für eine Aufnahme in die Kirchengemeinde doch nicht sein – unter freiem Himmel, mit Wasser aus dem See, umgeben von Familien und Freunden. "Das ist schon ziemlich cool."

Bei schlechtem Wetter soll am Neptunbrunnen vor der Dreifaltigkeitskirche getauft werden. Oder in einem Planschbecken in der Kirche. Stürzbecher-Schalück ist überzeugt, dass die Gemeinden neue Wege gehen müssen, um Gläubige zu erreichen. Zuletzt hat sie in Kaufbeuren zur Aperol-Spritz-Andacht im Park eingeladen. Auf Instagram zeigt ein Foto die 33-Jährige im Blumenumhang, einen Hut auf den blonden Locken, ein Glas Aperol in der Hand. Dazu die Zeilen: "Sommer, kühles Getränk und der liebe Gott."

Cocktail und Kirche – ist das das Rezept für die Zukunft der Kirche? Stürzbecher-Schalück sagt: "Wenn wir mal ehrlich sind, dieser klassische Zehn-Uhr-Gottesdienst, der hat bestimmt seine Daseinsberechtigung, aber er haut auch niemanden mehr vom Hocker." Viele nähmen Kirche als altbacken wahr. Daher müsse man umdenken, für sich werben. "Wir haben eine großartige Botschaft, die es seit 2000 Jahren gibt, die muss man eben anders verkaufen und verpacken", sagt die Frau, die seit September in ihrer Heimatstadt wirkt.

Die Erkenntnis, dass man näher an den Menschen sein müsse, ist in beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland in den vergangenen Jahren gewachsen. Noch bevor etwa Axel Piper 2019 in sein Amt als evangelisch-lutherischer Regionalbischof im Kirchenkreis Augsburg und Schwaben eingeführt wurde, sagte er: "Wir müssen rausgehen." Er könne nicht erwarten, dass die Menschen in die Kirche kommen. "Wir müssen gerade für die Menschen, die nichts mehr von uns wissen wollen, interessant werden."

In München wird an der Isar getauft, in Kempten an der Iller

Seit kurzem hat Piper, hat seine Kirche etwas, worauf sich verweisen lässt. Ein Erfolgsbeispiel. Am 23.3.23 wurden in 13 Kirchengemeinden in Bayern spontane Segensfeiern und Trauungen angeboten, 220 Paare kamen. "Einfach Heiraten" hieß die Aktion, die die evangelische Kirche mal wieder ins Gespräch brachte, fast nur positiv. Piper erzählte danach von berührenden Szenen, fröhlichen Feiern und Freudentränen. Die deutschlandweite "Taufinitiative", in deren Rahmen auch Ewa TrettinsTaufe gefeiert wird, soll daran anschließen. Seit dem 24. Juni, dem 'Hochfest der Geburt Johannes des Täufers', wird in diesem Sommer an ungewöhnlichen Orten getauft. An Abenteuerspielplätzen, am Stuttgarter Fernsehturm oder am Wasser – in München an der Isar, in Nonnenhorn am Bodensee, in Kempten an der Iller oder am Oggenrieder Weiher in Irsee, Musik, Kuchen und Getränke inklusive.

Bei Ewa Trettin war es vor knapp zehn Jahren eine Hochzeit, die sie mit der evangelischen Kirche in Kontakt brachte – die Trauung von Freunden in Bad Reichenhall. "Das war so schön, so sehr den Menschen zugewandt", erinnert sie sich. Und dass der Pfarrer von der Ehe sprach und eben wusste, wovon er redete. Den Gedanken an die Taufe hatte sie schon, als sie als 20-Jährige von Polen nach Deutschland zog. Oder später als Soldatin. "Aber vielleicht war ich da noch nicht so weit."

Jetzt fühlt es sich anders an. Die 44-Jährige hat schlimme, kräftezehrende Zeiten hinter sich. Die Beziehung zu ihrem Mann ist nach 18 Jahren in die Brüche gegangen. "Sie ist von ihm beendet worden." Mehr Worte will sie darüber nicht verlieren, mehr braucht es nicht, um ihre Geschichte zu verstehen. Trettin stand auf einmal allein mit ihrer zwölfjährigen Tochter da. "Lena war meine Stütze", sagt sie. "Und der Glaube hat mir viel Kraft und Hoffnung gegeben." Und plötzlich passierte vieles, womit sie nicht gerechnet hatte. Da waren die vielen lieben Menschen, die sich kümmerten und ihr beim Umzug in die neue Wohnung halfen. Und da warBarbara Röhm, eine der Pfarrerinnen der Dreifaltigkeitskirche, die sie auffing. Ewa Trettin hatte in ihrer schwierigen Lage nach jemandem gesucht, mit dem sie reden konnte und einfach beim Pfarramt angerufen.

Nach ein paar Treffen sagte sie, dass sie gerne getauft werden möchte. "Für mich ist das wie eine Befreiung", erklärt sie. Auch, weil Taufe die Aufnahme in die Gemeinschaft der Christen bedeutet. "Ich möchte nicht allein durchs Leben gehen. Ich will Teil dieser Gemeinschaft sein." Und das in einer Zeit, in der so viele andere austreten? "Es ist mir bewusst, dass viele mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen", sagt Trettin, die als Justizfachwirtin arbeitet. "Aber das ist eine persönliche Entscheidung. Das muss jedem selbst überlassen bleiben."

Angesichts von Austrittsrekorden klammern sich Kirchenverantwortliche an derartige Geschichten – und an andere, bessere Zahlen. Als die Evangelische Kirche in Deutschland im März über ihren "anhaltend hohen Mitgliederverlust" informierte, wies sie auf den "deutlichen Anstieg um 37 Prozent" bei den Taufen hin. Diese seien im Jahr 2022 mit 165.000 "wieder auf dem Niveau der Vor-Corona-Jahre" gewesen. Mehr noch: Mit einem bundesweiten Tauftag wolle man den weiter sinkenden Mitgliederzahlen "begegnen". Es klang, als könne es ein Tauftag richten. Es klang unbeholfen und hilflos.

Ihre Tochter hat Ewa Trettin früh taufen lassen

Die Deutsche Bischofskonferenz erwähnte die Zahl der Austritte in ihrer Pressemitteilung zur "Kirchenstatistik" am Mittwoch als Letztes, so als sei sie eine Nebensächlichkeit. Zuvor wies sie auf die Taufen hin, deren Zahl bundesweit von knapp 142.000 im Jahr 2021 auf etwas mehr als 155.000 gestiegen war. Der Augsburger Bischof Bertram Meier wertete – optimistisch gestimmt, wie es hieß – den Anstieg um 296 auf 10.916 Taufen in seinem Bistum als Zeichen dafür, "dass eine stärkende katholische Gemeinschaft für viele Menschen eine große Rolle in ihrem Leben spielt".

Doch sind derartige Zahlen wirklich Zahlen der Hoffnung für die Kirchen? Ist es nicht eher so, dass in den meisten Fällen Eltern für ihr Kind entscheiden, ob es getauft wird? Sind unter den vielen Ausgetretenen nicht auch viele Eltern? Und: Ist es nicht wahrscheinlich, dass der überaus große Teil erwachsener Kirchenmitglieder, der Studien zufolge ernsthaft an Austritt denkt, Kindern kaum den christlichen Glauben weitergibt? Was berechtigt zur Hoffnung, dass diese Kinder einmal ihren eigenen Kindern vermitteln werden, was für eine Kirchenmitgliedschaft spricht? Werden sie ihre Kinder überhaupt noch taufen lassen?

Bei Ewa Trettin war es andersherum: Sie hat ihre Tochter katholisch taufen lassen, obwohl sie und ihr damaliger Mann konfessionslos waren. "Ich wollte, dass sie mit Gottes Segen durchs Leben geht." Doch die katholische Kirche habe sich für ihre Tochter zunehmend falsch angefühlt, Lena trat vor einem halben Jahr zur evangelischen Kirche über.

Nun also steht für Ewa Trettin die Taufe an. Die 44-Jährige lässt im hinteren Raum der Kirche ihre Sonnenbrille zwischen den Fingern hin- und herwippen. Aufgeregt? "Puuuuhhhh!" Sie stößt Luft aus. Zwischen 250 und 300 Leute dürften beim Tauffest am Oggenrieder Weiher dabei sein, ein bisschen viel Trubel für ihren Geschmack. Aber sie freut sich auf diesen Tag. Sie will weiß tragen, so, wie es bei Kindern bei der Taufeüblich ist. Und dann, wenn sie getauft ist, möchte sie Gottesdienste besuchen, nach und nach. Und auf jeden Fall an Weihnachten mit ihrer Tochter in die Kirche gehen.

Ewa Trettin blickt nach vorn. Dorthin, wo ein Netz in der Kirche hängt mit kleinen, bunten Papierfischen, die die Namen der Täuflinge tragen. Lotta und Linus, Eileen und Henry. Bald wird auch Ewa da stehen. Trettin sagt: "Ich habe zu mir gefunden. Für mich geht es in ein neues Leben." Ein Leben mit Gott an ihrer Seite.

 
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