
"Willkürlich", "intransparent", ein "Witz" sind drei der noch freundlicheren Worte, die Missbrauchsbetroffenen zu den Zahlungen einfallen, die sie von der katholischen Kirche erhalten können. Auf Antrag hin und nach einem für sie oft aufwühlenden und belastenden Verfahren "zur Anerkennung des Leids". Das ist in den vergangenen Jahren vielfach kritisiert worden: zu niedrig die Summen, zu undurchschaubar ihr Zustandekommen. Seit diesem Mittwoch können Betroffene zumindest einmalig Widerspruch einlegen gegen die Festsetzung der Höhe der "Anerkennungsleistungen", die ihnen – regelmäßig ohne Nennung von Gründen – von der "Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen" zugesprochen wurden.
Der Sohn einer Betroffenen sagt vor wenigen Tagen unserer Redaktion: "Wir warten schon sehnlichst darauf. Meine Mutter und ich bereiten gerade den Widerspruch vor." Sie sind nicht die Einzigen. Weitere Betroffene aus Bayern, mit denen unsere Redaktion in Kontakt steht, wollen ebenfalls Widerspruch einlegen. Sie erhoffen sich einen angemesseneren Betrag. Vor allem jedoch wollen sie erfahren, mit welcher Begründung der bisherige festgelegt wurde. Betroffenenvertreter rechnen mit einer hohen Zahl an Widersprüchen.
Beträge bis zu 10.000 Euro bei "Anerkennungsleistung" der katholischen Kirche
Seine Mutter, heute Mitte 60, sei von einem Priester über mehrere Jahre schwer sexuell missbraucht worden, erstmals im Alter von vier Jahren, berichtet der Sohn der Betroffenen. Seit ihrem 20. Lebensjahr habe sie massive psychische Probleme, hinzu gekommen seien starke körperliche Beschwerden. Sie lebe von einer schmalen Rente. Alles Langzeitfolgen des Missbrauchs, sagt er. Die Schilderungen ähneln denen anderer Betroffener. Insgesamt habe seine Mutter etwas mehr als 50.000 Euro erhalten. Geld, das sie auch für Behandlungen verwenden müsse.
Die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA), zu deren Mitgliedern – ehemalige – Richter, Rechtsanwälte und Psychologen gehören, orientiert sich in ihren Entscheidungen nach eigenen Angaben "am oberen Bereich der durch staatliche Gerichte in vergleichbaren Fällen zuerkannten Schmerzensgelder". Die Taten sind in zahlreichen Fällen verjährt, die Kirche zahlt daher "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" freiwillig.
Dazu müssen Betroffene die Übergriffe in ihrem Antrag kurz schildern. Es genügt anschließend – im Unterschied zu einem Prozess vor einem staatlichen Gericht– eine Plausibilitätsprüfung. Im vergangenen Jahr hat die UKA, die es seit zwei Jahren gibt, lediglich in 96 Fällen mehr als 50.000 Euro beschieden, 2021 waren es 47 Fälle. In den mit Abstand meisten Fällen wurden Beträge von bis zu 10.000 Euro gezahlt. Zuvor waren es über einen längeren Zeitraum hinweg um die 5000 Euro.
Laut ihrem Tätigkeitsbericht 2022, der Anfang Februar vorgestellt wurde, betrug die Gesamtsumme an Anerkennungsleistungen in jenem Jahr rund 28 Millionen Euro. Zum Jahresende 2022 seien von den seit 2021 eingegangenen 2112 Anträgen 1839 bearbeitet gewesen. Das Geld versuchen die Bistümer von den jeweiligen Tätern zu holen. Sind diese gestorben, zahlen die Bistümer und sind darauf bedacht, möglichst keine Kirchensteuermittel zu verwenden.
Missbrauch in der Kirche: Expertenrat soll den Bischöfen "dringliche Empfehlungen" geben
Der Aachener Bischof Helmut Dieser, Vorsitzender der bischöflichen Fachgruppe für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen, betont am Mittwochnachmittag, die Belange der Betroffenen müssten konsequent berücksichtigt werden. Über die Möglichkeit des Widerspruchs sagt er: "Ich hoffe, dass diese neue Lösung auch zu einer noch weiteren Zufriedenheit in diesem Feld führen wird." Auf die Kritik von Wissenschaftlern, die Kirche handele hier nicht wie ein "ehrbarer Kaufmann", antwortet Dieser: Man habe die UKA bewusst als unabhängige Kommission eingerichtet. Er überlasse das Urteil darüber, wie sie agiere, der Öffentlichkeit. "Ich kann dafür die Verantwortung nicht auch wieder übernehmen wollen."
Bei einer Pressekonferenz in Dresden, wo sich die deutschen Bischöfe gerade zu ihrer Frühjahrs-Vollversammlung treffen, kündigt er zudem die Einrichtung eines Expertenrates bis zum 1. Januar 2024 an. Er soll aus bis zu zehn Mitgliedern bestehen, die von einer Auswahlkommission ohne kirchlichen Vertreter bestimmt werden. Er sei "keine Gruppe der Kirche", sondern ein "Gegenüber" für die Bischöfe. Der Expertenrat soll jährlich über Maßnahmen und Strukturen zu Aufarbeitung und Prävention in allen Diözesen berichten und einzelne von ihnen wie ein "TÜV" genauer ansehen. Verbesserungen, die er anmahnt, sollen als "dringliche Empfehlung" gehandhabt werden. Handelt ein Bischof dem zuwider, müsse er sich, so Dieser, auch öffentlich dafür rechtfertigen. Der Expertenrat könne überdies eine Schnittstelle zu staatlich eingesetzten Stellen, zum Beispiel einer "Wahrheitskommission", sein. Eine solche begrüße man, der Staat sei allerdings noch nicht so weit, höre er.
Kritik: Der Kampf um "Anerkennungsleistungen" wird für Betroffene selbst zur Belastung
Was das System der Anerkennungsleistungen betrifft, lässt die Kritik von Betroffenen nicht nach. Und nicht nur ihre. Auch aus Sicht des früheren Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Köln, Lothar Jaeger, ist unter anderem die Bemessung der bisher gezahlten Gelder intransparent, materielle Schäden oder Zinsen blieben unberücksichtigt. Er fordert, dass die UKA jedem Opfer einen "bis ins Einzelne begründeten Vorschlag" zur Höhe der Anerkennungsleistungen macht und rät ihnen dringend dazu, sich anwaltlich vertreten zu lassen.
Das ist auch der Rat eines inzwischen 70-jährigen Betroffenen aus Bayern an andere Opfer. Seinen ersten und einen zweiten Antrag habe er ohne fremde Hilfe ausgefüllt, das würde er heute nicht mehr tun, erzählt er. Er sieht sich ungerecht behandelt. Nachdem er endlich Akteneinsicht erhalten habe, habe er feststellen müssen, dass man in seinem Fall von einem "einmaligen Missbrauch" ausgegangen sei. Dabei habe er dargelegt, dass die sexuellen Übergriffe durch einen Ordensmann in seiner Kindheit über mehrere Jahre andauerten. Bei ihm wurde eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, der Kampf um angemessenere Anerkennungsleistungensetzt ihm seit Jahren schwer zu, immer wieder wird er mit dem Grauen aus seiner Vergangenheit konfrontiert. 5000 Euro hatte er bekommen. Für Taten, unter denen er sein Leben lang leidet. "Die 5000 Euro sind mittlerweile für Anwaltskosten aufgebraucht", sagt er. Und dass er ohne anwaltliche Vertretung nicht gegen die Institution Kirche ankomme. Aufgeben, ergänzt er, werde er nicht.