Schwester Scholastika, 78 Jahre alt, schaut mit wachem Blick in die bezaubernde Landschaft rund um Kloster Wonnenstein im schweizerischen Niederteufen. Wenn es stimmt, dass die Augen das Fenster zur Seele sind, dann kann man bei der Nonne gut sehen, was gerade in ihr vorgeht. Sie ist die letzte Schwester des katholischen Ordens der Kapuzinerinnen in dem 1379 gegründeten Kloster. Und das könnte sie für immer bleiben.
Denn es ist so: Ein Verein hat das Kloster übernommen, und Scholastika, so sieht nicht nur sie das, soll vertrieben werden. Der Verein jedenfalls plant Angebote, mit denen die Schwester nicht einverstanden ist. Wohnungen, Büros. Sie dagegen wünscht sich das Kloster unter anderem als Ort der Ruhe für all die gehetzten Menschen außerhalb von dessen Mauern.
Verein kassiert Handlungsmacht des Klosters
Die Vorgeschichte: Vor etwa zehn Jahren gründet sich der Verein "Kloster Wonnenstein" mit dem Zweck, sich um die weltlichen Angelegenheiten des Klosters zu kümmern, wenn die alternden Ordensschwestern das nicht mehr selbst können. Damals sind diese zu fünft und einverstanden mit der Unterstützung; die letzte Oberin wird 2020 sterben. Dem Verein, der den Erhalt von Kloster und Klosterkirche sowie die Wiederansiedlung einer neuen Gemeinschaft zum Ziel hat, treten etwa 150 Mitglieder der hauptsächlich katholischen Studentenverbindung Bodania bei. Auch der St. Galler Bischof Markus Büchel ist Mitglied der Bodania. Zugleich hat er im Verein in seiner kirchlichen Funktion dem Kloster gegenüber ein "allgemeines Aufsichtsrecht". So ist es im Schweizer Handelsamtsblatt festgehalten. Ein Interessenkonflikt?
Kurz nach der Vereinsgründung wird eine Änderung des Statuts im Handelsregister gemeldet: Das allgemeine Aufsichtsrecht des Bischofs entfällt. Aber auch weitere Passagen werden gestrichen. Der Satz "Gegenüber dem Kloster hat keine Instanz direkte oder indirekte Weisungsbefugnis" ist nicht länger Teil des Statuts. Und: Die Leitungsfunktion der Oberin entfällt. Wieso der Text derart angepasst wurde, will der Verein auf Anfrage offenbar nicht sagen: "Leider sind bei mir keine diesbezüglichen Informationen vorhanden", schreibt Andreas Brändle, der die Kommunikation des Vereins verantwortet, in einer E-Mail. Dabei waren wenige Tage nach der Änderung mehrere Namen von Bodanern im Vereinszweck aufgetaucht, unter ihnen der Brändles. Der war früher "Altherrenpräsident" der Verbindung.
Ursprünglich unterstand das Kloster dem Kapuzinerorden, den Frauen der Gemeinschaft. Dann kam der Verein, dem, so berichtete es das Portal Kath.ch, das Gesamtvermögen des Klosters überschrieben wurde. Auf der Internetseite von Kloster Wonnenstein heißt es, die Ordenskongregation in Rom, die stellvertretend für den Papst als oberste Verantwortliche für die Klöster die Oberaufsicht führe, "hat die Umwandlung als korrekt und im Einklang mit dem Kirchenrecht beurteilt". Auf der Seite des BistumsSt. Gallen steht: "Für den kirchlichen Bereich des Klosters ist der Bischof von St. Gallen gegenüber dem Vatikan verantwortlich."
Nonne soll sich einen anderen Ort für ihren Lebensabend suchen
Scholastika sitzt, wenn man will, zwischen allen Stühlen. Als Ordensschwester, die eigentlich nicht ignorieren kann, was Bischof und Ordenskongregation sagen – und als Vereinsmitglied, dem nicht gefällt, was der Verein vorhat.
Ob sie sich nicht eine schöne Bleibe für ihren Lebensabend suchen möchte, habe der Bischof sie mal gefragt, ganz freundlich, denn er wisse ja: Rausschmeißen könne er sie nicht. Das stünde einem Bischof auch schlecht zu Gesicht, soll er gesagt haben. So erzählt es eine mit dem Fall befasste Quelle. Die Versuche, Scholastika zum Auszug zu bewegen, werden später drängender: Nach einer Corona-Infektion und anschließender Reha Ende 2020 habe es geheißen, jetzt sei sie wirklich zu alt, um allein in der großen Anlage zu leben.
Bald darauf wird sie von der KESB kontaktiert, einer gerichtsähnlichen Schweizer Behörde, zuständig für den "Erwachsenenschutz". Bei der KESB ist eine Gefährdungsmeldung eingegangen. Sie könne sich nicht mehr ausreichend gut um sich kümmern. Ein Mitarbeiter kommt allerdings zu dem Schluss: Sie kann es. Das schreibt die Schweizer SonntagsZeitung. Von außen wirkt es, als gäbe es spätestens zu diesem Zeitpunkt kein Interesse mehr an einer Gesprächslösung.
Vatikan erteilt der Kapuzinerin ein Sprechverbot
All das darf die Nonne nicht selbst erläutern: Ihr wurde ein Sprechverbot vom Vatikan erteilt. Ihr Kampf gegen den Verein lässt sich anhand von Medienberichten und Erzählungen ihrer Unterstützer rekonstruieren.
Geschichten wie ihre sind kein Schweizer Phänomen. Allein in Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Ordensfrauen etwa halbiert. Rund 83 Prozent der fast 12.000 Ordensfrauen, Stand Ende 2021, sind nach Angaben der Deutschen Ordensobernkonferenz über 65 Jahre alt. 53 Novizinnen gab es im Jahr 2021. Die Frage nach der künftigen Nutzung von Klöstern ist unausweichlich, ihre Beantwortung schwierig. Schließlich geht es unter anderem um kulturell bedeutsame Orte, die für die jeweiligen Gemeinden auch weltlich eine Rolle spielen, zum Beispiel für den Tourismus.
Meldungen über das "Klostersterben" häufen sich. Im Februar teilten die verbliebenen acht Kapuzinerinnen von Kloster St. Klara in Stans im Schweizer Kanton Nidwalden mit, Ende 2023 ihre Niederlassung aufzugeben und an einen neuen Standort zu ziehen. Die Bewirtschaftung und der Unterhalt der Klosterräumlichkeiten sowie die Verwaltung der Pacht seien zunehmend zu einer Belastung geworden. Die Räume seien nicht barrierefrei. Pflegebedürftige Schwestern könnten von den wenigen Mitschwestern nicht mehr betreut werden. Eine Stiftung solle Unterhalt und Betrieb des Klosters, des Klostergartens und des Pachtbetriebs langfristig sicherstellen.
"Kloster-Besetzerin" von Altomünster machte deutschlandweit Schlagzeilen
Es häufen sich ebenso Nachrichten von "rebellischen" Ordensfrauen. Im Dezember 2022 ging eine fast zwei Jahrzehnte währende Auseinandersetzung um ein Kloster in der Eifel zu Ende– auch dort bezweifelte das Bistum dessen Funktionsfähigkeit, als nur noch vier Schwestern dort lebten. Diese fühlten sich unter Druck gesetzt und erteilten Bistumsvertretern Hausverbot. Ab 2006 lebte eine Nonne im Kloster, mittlerweile ist es an einen Privatinvestor verkauft.
Vor fünf Jahren machte eine junge Frau als "Kloster-Besetzerin" von Altomünster deutschlandweit Schlagzeilen. Das Erzbistum München und Freising hatte das teils marode frühere St.-Birgitta-Kloster im oberbayerischen Landkreis Dachau 2017 übernommen – nachdem es vom Vatikan 2015 per Dekret aufgelöst worden war. 2017 war ebenfalls die letzte im Kloster lebende Schwester ausgezogen. Die junge Frau, die Nonne werden wollte, blieb. Und kämpfte erfolglos auf zivil-, verwaltungsgerichtlicher und kirchenrechtlicher Ebene für ihren Wunsch.
2018 sagte ein Sprecher des Erzbistums, man wolle den Gebäudekomplex "auf jeden Fall als geistlichen Ort erhalten“. Es ist ein schwieriges und wahrscheinlich enorm kostspieliges Unterfangen. Vonseiten der Marktgemeinde ist zu hören, dass es keine fertigen Pläne für eine Nachnutzung gebe; entsprechend sei keine baurechtliche Nutzungsänderung beantragt worden. Und so steht der Gebäudekomplex, der Altomünster prägt, leer. Er werde geheizt, dass er nicht weiter verfalle. Mauern würden saniert, ist zu hören.
Scholastika, die Schweizer Nonne, fühlt sich vom BistumSt. Gallen getäuscht. "Über den Tisch gezogen, so würde ich es nennen", sagt Giuseppe Gracia, früher Sprecher der BistümerBasel und Chur und heute Autor. Er unterstützt mit einer im September 2022 gegründeten "Interessengemeinschaft" die Schwester. "Der damalige Kanzler des Bistums hat die Schwestern zu wenig auf die Auswirkungen der Verträge aufmerksam gemacht, das hat er mir gegenüber selber einmal gesagt. Die schriftlichen Verträge stimmen nicht mit den mündlichen Versprechungen überein", sagt Gracia.
Der damalige Kanzler, Claudius Luterbacher, ist seit einem Jahr Leiter des Amts für Soziales im Kanton St. Gallen und war Vorsitzender der Schweizer Caritas. Gracia hält ihn für denjenigen, der die KESB "instrumentalisiert hat, um mithilfe des Staats Schwester Scholastika loszuwerden". Ein schwerwiegender Vorwurf – schließlich obliegt Luterbacher als Sozialamtsleiter die Aufsicht über die Behörde. Mit den Vorwürfen konfrontiert, verweist er an das BistumSt. Gallen. Von dem kommt keine Antwort. Es erklärt jedoch auf seiner Internetseite: "Eine sogenannte Interessengemeinschaft" schüre derzeit "sehr bewusst Misstrauen gegen den Bischof" und den Verein Kloster Wonnenstein. Dass das Engagement von Vereinsmitgliedern oder des Bischofs mehr oder weniger deutlich mit "Geldgier" in Verbindung gebracht werde, sei für das Bistum unverständlich.
Nonne Scholastika darf vorerst im Kloster bleiben
Luterbacher, das ist unstrittig, kann als Experte für Klosterauflösungen gelten. Erst im vergangenen September hielt der Kirchenrechtler einen Vortrag über die Folgen schrumpfender Ordensgemeinschaften für die Handlungsfähigkeit von Klöstern. Eine Möglichkeit: die Umwandlung in einen privatrechtlichen Verein, dessen Mitglieder sich um die Belange des Klosters kümmern.
Ja, wie soll man mit all den einst prächtigen Bauten, den Ländereien umgehen, wenn es kaum mehr Ordensleute gibt? Was Schwester Scholastika betrifft: Der Vatikan hatte ihr aufgetragen, sich einen neuen Orden zu suchen und Kloster Wonnenstein bis zum 1. Oktober 2022 zu verlassen. Aufgrund der Vorwürfe, die sie gegen das Bistum erhebt, wurde die Frist aufgehoben. Bis zur Klärung des Sachverhalts darf sie im Kloster bleiben. Zudem wurde Bischof Büchel im vergangenen Sommer um eine Klarstellung gebeten. Ob diese erfolgt ist, haben bislang weder das Bistum noch die vatikanische Ordenskongregation beantwortet. Schwester Scholastika kümmert sich derweil mit ehrenamtlichen Helfern um das Kloster.