Früher war mehr Fototapete. Zumindest in der Kantine von Rational. Es gibt da ein Foto aus dem Jahr 1983. Es schlummert in den Tiefen des Unternehmensarchivs und zeigt, wie die Belegschaft des Landsberger Herstellers für Industrieküchengeräte damals – ja darf man sagen – speiste? Unter terracottafarbenen Trichterlampen. Auf klobigen Holzstühlen, die an Kommunionsfreizeiten erinnern. An Tischen mit matschbraunen Decken und Aschenbechern darauf. Vor dieser tapezierten Flusslandschaft. Mahlzeit, allerseits.
39 Jahre später. Ein Raum wie eine Einladung. Die Fenster sind bodentief, das Parkett glänzt, aus der Decke leuchten Lichtspots. An den Wänden stehen Loungemöbel. Die Rational-Kantine heißt inzwischen „Betriebsrestaurant“ und eigentlich fehlt jetzt nur noch, dass da ein Chefkoch aus der Küche geflitzt kommt und irgendetwas von Poularde, Thymian und selbst gemachtem Gewürz-Öl erzählt.
Andreas Deyerler, Rational-Küchenchef, wartet schon zu Tisch. Er sagt: „Heute gibt es Poularde mit Zucchini und Thymian unter der Haut. Die benetzen wir mit unserem eigens hergestelltem Gewürz-Öl. Dazu Gemüse und frische Bandnudeln.“
Die Kantine: früher viel zu grell und trist
Ein gastronomischer Betrieb lebt immer von seinem Ruf, von Internetbewertungen und dem „Hast-du-da-schon-mal-gegessen?“ der Bekannten. Und ist man ehrlich, dann hatte die deutsche Kantine immer schon einen schlechten Ruf. Ein trister, viel zu grell beleuchteter Mittagspausen-Verabredungsraum, in dem gegessen wurde, was mit der Schöpfkelle auf den Teller flatschte. Bezahlbar sollte es sein, allen wenigstens ein bisschen schmecken, heraus kam der Currywurst-Dienstag.
Es gab ohnehin schon einmal leichtere Zeiten für Kantinen: Während der Lockdowns mussten sie schließen, wegen der Preisexplosionen auf dem Lebensmittel- und Energiemarkt müssen sie jetzt anders haushalten. Doch wer sich umhört, erfährt auch: Viele Unternehmensküchen haben ihren Mief verloren. Da tut sich etwas in Deutschlands Kantinen. Nur was? Und warum?
„Wenn man heute die Betriebsgastronomie betrachtet, hat man sehr häufig eher das Gefühl, in einem Restaurant zu sein– sowohl was das Ambiente als auch die Speisen angeht“, sagt Nicole Graf. Die Rektorin der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn muss es wissen. Sie ist quasi Kantinentesterin im Nebenberuf, sitzt in der Jury des Vereins „Food & Health“, der jährlich die besten Betriebsrestaurants Deutschlands kürt. Im Jahr 2018 auf dem ersten Platz: die Rational-Küche von Andreas Deyerler.
Fleisch wird auf Wunsch auch durchgebraten
Also, was macht sie aus, die gute, neue Kantine? Der 47-Jährige hat nichts dagegen, wenn man dieses vorbelastete Wort noch benutzt – „Kan-ti-ne“ – aber ein paar Unterschiede zu seinem Betriebsrestaurant will er dann schon aufzählen: die Qualität der Produkte, die persönliche Ausgabe, dass das Fleisch auf Wunsch auch durchgebraten werden kann und nicht medium bleibt. Deyerler, dickberahmte Brille, blaubeknopfte Kochjacke, kommt aus der gehobenen Hotellerie am Spitzingsee. Er sagt: „Der schlimmste Fehler, den man machen kann, ist, dass Gleichgültigkeit einzieht. Dass sie den Kontakt zu Ihrem Gast verlieren.“
Er sagt „Gast“, nicht „Belegschaft“. Nur kommen die Gäste eben oft fünfmal die Woche. „Wie oft sind Sie fünfmal die Woche beim Italiener?“, fragt Deyerler, ein Gegenfragen-Liebhaber. „Wir müssen jeden Tag aufs Neue präsent sein.“ Für den Küchenchef heißt das: überraschen, aber kulinarisch auch nicht zu sehr durchdrehen. „Wir versuchen schon, der ganzen Zielgruppe gerecht zu werden.“ Vom Produktionsmitarbeiter zum Vorstand, vom Azubi zum Bald-Rentner. „Da landen wir nicht bei jedem mit Enoki-Pilzen und eingefärbten Burger-Buns. Wir probieren viel aus und entscheiden dann, ob es nochmal auf die Karte kommt.“
Ein Blick in ebenjene Karte, in einer Woche im Dezember. Montag: Ferkelkrone mit geschmortem Ackergemüse und Kräuterspätzle. Mittwoch: Bowl mit Edamame, Ebly, Mango und Kimchi. Freitag: Thai-Kokos-Gemüsecurry mit Basmati-Reis und tranchiertem Strohschwein.
Ein Kantinenessen ohne Garnierung? Geht gar nicht!
Nicole Graf ist aktuell wieder unterwegs, um die beste Kantine Deutschlands zu küren. Sie wertet Fragebögen aus, schlemmt sich durch deutsche Betriebe. Ein Unternehmen habe ihr letztens erzählt: „Ein No-Go ist, dass bei uns ein Teller ohne Garnierung rausgeht. Daran erkennt man: Wir spielen mittlerweile in einer ganz anderen Liga. So eine richtig schlechte Kantine habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“
Dabei gäbe es gerade ja einen guten Grund, an der Qualität zu sparen: Wie überall hören auch die Preise auf dem Lebensmittelmarkt nicht auf zu steigen – „im Schnitt um zehn bis 20 Prozent“, sagt Graf, „zum Teil um 40 Prozent“, sagt Deyerler. Der Koch hat deshalb seine Einkaufsstrategie verändert: „Früher haben wir Speisekarten gestaltet und dann bei Lieferanten bestellt. Jetzt versuche ich, diese Idee umzudrehen und frage eine gewisse Verfügbarkeit ab.“ Gibt es keine Schwarzwurzel mehr? Dann eben gelbe Rübe oder Kaiserschote. Aus dem Nachfrage- ist ein Angebotsmarkt geworden. Kantinen sind fast schon gezwungen, regionaler und saisonaler einzukaufen.
„Es gibt Unternehmen, die diese Preissteigerungen anteilig beim Mitarbeiter anlanden lassen“, sagt Graf. Audi zum Beispiel. Gerade die Einkaufspreise für Molkereiprodukte, Fette und Öle seien so deutlich gestiegen, teilt eine Unternehmenssprecherin mit, „dass wir uns gezwungen sahen, unsere Verkaufspreise in der Gastronomie zu erhöhen.“ Die Preisanpassungen sollen moderat gehalten werden. Wie moderat genau, sagt sie nicht.
Wer bei Rational einkehrt, hat gewissermaßen Glück. Die Geschäftsführung bezuschusst das Essen seiner Angestellten stärker als andere Unternehmen. Jede Mahlzeit kostet 3,70 Euro – egal ob Rind oder Ramen. Oder eben Poularde, wie an diesem Vorweihnachtstag. Die Rational-Küche hat keine Pfannen, keine Kessel, keine Fritteuse, keinen Ofen. Nur zwei kleine Induktionsfelder, auf der ab und an Saucenansätze köcheln, und zehn Kombigarer aus der hauseigenen Produktion. Sie kommen überall auf der Welt zum Einsatz, wo viel gekocht werden muss: im Londoner Wembley-Stadion zum Beispiel, im Catering von Lufthansa, oder eben bei Rational selbst, wo 650 Essen täglich diese glänzend-futuristische Edelstahlküche verlassen. In einer großen Wanne gart der Tafelspitz zehn Stunden lang für den nächsten Tag. Direkt hinter der Ausgabe schiebt ein Koch vier Bleche Hähnchen in den Ofen. In 20 Minuten, um halb zwölf, wird der erste Ansturm erwartet.
Noch nicht ganz die Hälfte - doch Vegetarisches Esse wird immer mehr nachgefragt
Bevor der Trubel beginnt also noch kurz auf ein Wort mit Andreas Deyerler zum zweiten Küchenkampfwort, gleich nach „Kantine“: „Veggie“. „Es wird ein stetig größeres Thema“, sagt er und rattert zur Demonstration die Grundzutaten grüner Küche herunter, als müsse er gerade vor seinem ehemaligen Lateinlehrer Vokabeln deklinieren: Vollkorn, Hirse, Bulgur, Quinoa, Seitan, Tofu. Noch nicht ganz die Hälfte würden vegetarische und vegane Gerichte ausmachen. Damit liegt Rational genau in der Spanne, die auch Nicole Graf genannt hat: 40 bis 60 Prozent der Kantinenessen, je nach Alter und Bildungsgrad. Die Uni-Mensa in Augsburg verkauft inzwischen drei von fünf Essen fleischlos. Auch bei Audi sollen ab 2025 mindestens die Hälfte der Gerichte veggie sein.
Wenn Andreas Deyerler sein Lieblingsessen macht, Cordon bleu, „dann ist das Verhältnis aber 80:20“. Macht er natürlich nicht zu oft. Doch es ist ein Beweis dafür, dass die alten Klassiker immer noch ziehen. Schwer darf es schon manchmal sein, schwer verdaulich eher nicht. Schlechte Gerüche gleich schlechtes Arbeitsklima, deshalb: wenig rohe Zwiebeln, junger Lauch und Knoblauch.
11.45 Uhr, Mittagspause, Betriebsamkeit im Betriebsrestaurant, Stimmengewusel, an der Ausgabe fragen die Servicekräfte: „Darf es etwas weniger sein?“ Wegen der Abfallreduktion. Der Nachschlag ist hier kostenlos. Zeit genug für ein Tischgespräch zur Poularde mit Zucchini und Thymian. Nebenan sitzt Rudi aus der Luftleitblechmontage im blauen Overall neben Herrn Haustein vom Finanzmanagement im blauen Anzug. Am Tisch mit den harten Reporterfragen sitzen jetzt: Roman Peischer, 31, internationale Projektentwicklung, Sakko mit Struktur. Und Daniel Holstegge, 35, Produktionsleiter Werk 2, hochgekrempeltes Hemd.
Roman Peischer schätzt, er hat die Kantine schon über 1000 Mal besucht
Peischer, der überschlagen hat, dass er schon über 1000-mal in diesem Betriebsrestaurant war: „Ich erlebe immer wieder, wie Kollegen ihre Homeoffice-Tage davon abhängig machen, was es hier zu Essen gibt.“ Holstegge, der erst seit März im Unternehmen ist und davor in eine Kantine ging, in der sich das Menü alle vier Wochen wiederholte: „Bei uns in der Produktion haben viele am Freitagmittag Feierabend. Aber bei manchen Gerichten bleiben sie extra noch zum Essen.“
Während der Lockdowns hatte es hier nur Mittagspause aus der Take-Away-Box gegeben. Das Küchenpersonal musste in Kurzarbeit. Der Essensbereich war mit Trassierband abgesperrt, keine Blumen, keine Menagen, kein gewickeltes Besteck. „Es war kein schöner Anblick“, sagt Restaurantleiter Andreas Deyerler. Jetzt rückt die Belegschaft wieder die Stühle zusammen, aus zwei Vierertischen wird ein Achtertisch. Der Fremdsprachenstammtisch trifft sich. Das Betriebsrestaurant von Rational ist wieder der soziale Schmelzpunkt des Unternehmens, ein Zufluchtsort, an dem sich die Poularde an diesem Tag übrigens 401-mal verkaufte und der Salat mit Ziegenkäse 188-mal über die Theke ging. „Die Unternehmen sehen eine Kantine nicht mehr nur als Notwendigkeit, sondern als Element, um der Belegschaft etwas zu bieten“, sagt Kantinen-Expertin Nicole Graf.
Im Mai will Rational ein weiteres Restaurant an seinem Hauptstandort eröffnen. „Wir wollen es noch ruhiger haben. Damit die Pause auch einen gewissen Wert und ein Wohlempfinden hat“, sagt Andreas Deyerler. Bis dahin sollen seine Gäste mit einer App auch sein Essen bewerten können: ein roter, ein grüner, ein gelber Punkt, darunter ein verpflichtender Kommentar. Eine der besten Kantinen Deutschlands will noch besser werden.