Wenn man eine Razzia im Knast plant, sollte man sich auch als Staatsanwalt etwas einfallen lassen, sonst kann es leicht passieren, dass man mit seinem Durchsuchungsbeschluss eine halbe Stunde vor der Gefängnispforte steht und das Gefühl bekommt, drinnen verschwindet gerade Beweismaterial. Die Augsburger Staatsanwaltschaft hat sich für ihre Razzia in der JVA Augsburg-Gablingen offenbar etwas einfallen lassen.Nach Informationen unserer Redaktion wurde am vergangenen Donnerstag offiziell eine Dienstbesprechung für die beschuldigten JVA-Bediensteten angesetzt. Der Plan ging auf. Die Ermittler erhielten ohne Verzögerung Zutritt zu dem Gefängnis. Drinnen präsentierten sie den verdutzten Beschuldigten dann den Durchsuchungsbeschluss und eröffneten ihnen, dass ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt gegen sie läuft. Und ihre Handys wurden auch gleich beschlagnahmt. Das berichten mehrere Quellen unserer Redaktion.Die Durchsuchungsaktion in der JVA Gablingen läutete einen der womöglich größten Gefängnisskandale der vergangenen Jahrzehnte in Bayern ein. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft richtet sich gegen fast ein Dutzend Bedienstete des Gefängnisses. Darunter ist auch die stellvertretende Leiterin der JVA, eine 37 Jahre alte Juristin. Die Vorwürfe sind gravierend. Gefangene sollen über einen langen Zeitraum hinweg misshandelt worden sein. Das betrifft vor allem die Unterbringung in den sogenannten besonders gesicherten Hafträumen (BgH) im Keller der JVA, wo Häftlinge teils über Tage oder sogar Wochen nackt, ohne Matratze und teils ohne genügend Essen eingesperrt gewesen sein sollen. Die ehemalige Anstaltsärztin Katharina Baur erhebt schwere Vorwürfe und spricht von „Folter“. Und sie ist nicht die Einzige, die jetzt das jahrelange Schweigen bricht.
Seit Anfang 2023 hat sich das Klima in der JVA Gablingen zum Schlechteren gewendet, heißt es
Etliche ehemalige Gefangene, frühere und aktuelle JVA-Bedienstete und andere Gefängnis-Insider haben sich nach den ersten Berichten über die Misshandlungsvorwürfe bei unserer Redaktion gemeldet. Sie alle zeichnen praktisch unisono dasselbe Bild: Die Vorwürfe gegen die rund zehn JVA-Bediensteten seien alles andere als aus der Luft gegriffen. Das Klima in Gablingen habe sich grundsätzlich mit dem Dienstantritt der neuen stellvertretenden JVA-Leiterin Anfang 2023 massiv zum Schlechteren gewendet – für die Häftlinge und auch für jene Bediensteten, die nicht zu einer Truppe von ausgewählten, jüngeren Mitarbeitern gehörten.
Wenn man Ermittlungen im Knast durchführt, sollte man auch als Staatsanwalt mit Widerständen rechnen. Ein Gefängnis ist ein abgeschlossenes System mit strengen Hierarchien, vielen Abhängigkeitsverhältnissen und teils undurchsichtigen Machtstrukturen. Die Ermittler stehen jetzt vor einer großen Herausforderung. Sie müssen die beschlagnahmten Dokumente auswerten und umfangreiche Vernehmungen durchführen. Nicht nur die Beschuldigten werden befragt, sondern auch viele andere JVA-Bedienstete und selbstverständlich eine große Zahl von Häftlingen, die möglicherweise von den mutmaßlichen Misshandlungen betroffen sind oder etwas darüber wissen. Nicht alle Zeugen werden voraussichtlich die pure Wahrheit sagen.
Da hilft es, dass die Ermittler offenbar bereits rasch fündig geworden sind. Nach Recherchen unserer Redaktion wurden auf den beschlagnahmten Handys der Beschuldigten bereits erste Hinweise auf gewalttätige Übergriffe an Gefangenen gefunden. Das Verfahren richtet sich ausschließlich gegen Mitglieder der sogenannten Sicherungsgruppe (SIG), einer speziell ausgebildeten und ausgerüsteten Spezialtruppe, die für Ordnung in der JVA sorgen soll. Und die spielte in Gablingen offenbar eine ganz besondere Rolle.
JVA Gablingen: Die Vizechefin soll mit den Männern der Spezialtruppe „geschäkert“ haben
Die stellvertretende Anstaltsleiterin soll sich diese SIG fast als eine Art „Leibgarde“ herangezogen haben und mit deren Mitgliedern einen sehr engen, auch privaten Kontakt gepflegt haben. Nicht nur die ehemalige Anstaltsärztin Katharina Baur, sondern auch aktuelle Beschäftigte der JVA berichten, dass sich die Vizechefin fast immer von der SIG habe begleiten lassen, mit den Leuten oft beim Mittagessen war und mit ihnen „geschäkert hat wie auf einer Party“. Ärztin Baur nennt die Auftritte eine „Machtdemonstration“. Ein JVA-Bediensteter berichtet – übereinstimmend mit anderen Quellen –, dass die stellvertretende Anstaltsleiterin sich eine eigene Truppe geschaffen habe, die sie bevorzugt und mit besonderen Privilegien ausgestattet habe. Die Mitglieder dieser Truppe sollen von der 37-jährigen Juristin sogar als „Spione“ eingesetzt worden sein, die angeblich Meldungen gegen Kollegen geschrieben hätte, die auf einer „Abschussliste“ der Vize-Chefin standen. Die Truppe und ihre Chefin sollen teils auch privat befreundet gewesen sein. Die Beschuldigten sind allesamt vorläufig suspendiert und dürfen die JVA nicht mehr betreten. Die Generalstaatsanwaltschaft München führt parallel zu den strafrechtlichen Ermittlungen ein dienstrechtliches Disziplinarverfahren gegen die Beschuldigten.
In dieser „Vetternwirtschaft“ haben sich möglicherweise unhaltbare Zustände entwickelt, die über einen längeren Zeitraum nicht ans Licht kamen. Im Fokus stehen die besonders gesicherten Hafträume, in denen Häftlinge nicht nur unter teils menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt sondern auch geschlagen worden sein sollen. Und offenbar nicht nur dort. Ein ehemaliger Häftling hat gegenüber dem BR geschildert, wie er in einer anderen Räumlichkeit gefesselt am Boden lag und ihm ins Gesicht getreten worden sei.
JVA Gablingen: Ein Ex-Häftling habe Schreie gehört
Gesehen hat Robert Faber (Name geändert) nichts. Aber gehört. Die Schreie von Häftlingen, die riefen, man solle aufhören, sie zu schlagen, habe er heute noch im Ohr. „Meistens hörte man die Schreie bis in den ersten Stock hoch.“ Einmal habe er gesehen, wie vier SIG-Leute einen Häftling nackt in einen besonders gesicherten Haftraum gebracht haben. Faber saß rund ein Jahr in Gablingen. Er war schwarzgefahren, hatte gestohlen, betrogen und gegen Bewährungsauflagen verstoßen, wie der 28-Jährige unumwunden zugibt. In der JVA war er als Reinigungskraft eingeteilt. Dreimal pro Woche musste Faber im Keller der JVA Gablingen putzen. Dort befinden sich die sogenannten besonders gesicherten Hafträume, in denen die Übergriffe passiert sein sollen.
Faber wendet sich aus einem bestimmten Grund an unsere Redaktion. „Wir alle im Knast haben auf irgendeine Art und Weise Scheiße gebaut. Aber wir sitzen da drin, um daraus zu lernen.“ Er wolle, sagt er, dass Häftlinge eine Chance auf Resozialisierung bekämen und sie an ihrem Leben arbeiten könnten. „Ich möchte nicht, dass ihnen nur Steine in den Weg gelegt werden.“ Genau das sei unter der stellvertretenden Leiterin passiert, sagt er und gibt eine eidesstattliche Erklärung gegenüber unserer Redaktion ab, dass seine Schilderungen der Wahrheit entsprechen. Faber saß in Gablingen bereits ein, als die 37-jährige Juristin den Posten der Vizechefin Anfang 2023 angetreten hatte. Wie andere Quellen, darunter der ehemalige Gefängnispfarrer Peter Trapp, unserer Redaktion geschildert haben, berichtet auch er, dass sich das Haftleben für die Insassen mit der neuen stellvertretenden Leiterin „drastisch“ verschlechtert habe.
Die Besuche der Gottesdienste seien erschwert, Sprechstunden mit Sozialarbeitern oder mit den Pfarrern „heruntergeschraubt“, die Aufschlusszeiten gekürzt und die Sportmöglichkeiten beinahe komplett gestrichen worden. Vor allem die Reduzierung der Aufschlusszeiten, wo sich die Häftlinge auf dem Gang und in der Gemeinschaftsküche aufhalten dürfen, seien schlimm gewesen. „Am Wochenende etwa wurden wir nach dem Hofgang um 14 Uhr wieder in die Zellen gesperrt.“ Das Mittagessen habe man plötzlich auch in der Zelle einnehmen müssen. „Uns kam es vor wie Schikane, um uns alle mehr auf die Palme zu bringen.“
Ein Ex-Häftling aus der JVA Gablingen spricht von einer Frau mit „leicht sadistischen Zügen“
Die besondere Einsatzgruppe bezeichnt Faber als „die besten Freunde der Vizechefin“. „Egal, wann man sie gesehen hat, sie war immer von ihnen umgeben.“ Im Büro hätten sie zusammengesessen, Kuchen gegessen und Kaffee getrunken. Vor Eintritt der Juristin habe man als Häftling mit den SIG-Leuten noch reden können, dann aber nicht mehr. Auch habe es mit einem Mal keine zwischenmenschlichen Gespräche mehr mit Bediensteten gegeben. Sie habe alle auf Linie gebracht, sei eine Frau mit „leicht sadistischen Zügen“. „Sie fand es geil, mit den Sicherheitsleuten im Gefängnis aufzutreten. Sie fühlte sich sichtlich gut dabei, Macht zu haben.“
Mark Eders Stimme stockt noch immer, wenn er über Gablingen spricht. Eders Zeit in der JVA ist seit über fünf Jahren vorbei, die stellvertretende Leitung lag damals noch in anderer Hand. Die Erinnerung verfolgt ihn aber bis heute. Immer wieder weckt seine Frau ihn auf, erzählt er, weil er im Schlaf offenbar in Panik geraten ist. Er ist dann nicht irgendwo in der JVA Gablingen, sondern in einem jener besonders gesicherten Hafträume. Mark Eder war dort nach einer Selbstverletzung einst für mehrere Tage. Er nennt es heute „Höllenloch“. In nahezu völliger Dunkelheit seien Ängste entstanden, die er sich bis dahin nicht habe vorstellen können. Die ersten drei Tage habe er damit verbracht, den Kopf gegen die Tür zu schlagen, um auf sich aufmerksam zu machen. Einmal sei dann ein Psychiater in die Zelle gekommen, zur Untersuchung habe ihn Gefängnispersonal auf einer Art Kreuz fixiert. Mit einer kurzen Unterbrechung habe er insgesamt etwa zehn Tage in dem Raum verbracht, schätzt Eder, so genau wisse er das wegen des fehlenden Lichts aber nicht. Anschließend sei er für zwei Wochen in Arrest gekommen. Inzwischen lebt Eder im nördlichen Raum Augsburg in Freiheit, er ist allerdings weiter auf psychotherapeutische Behandlung angewiesen. Gablingen, sagt er, lasse ihn nicht los.
Skandal in der JVA-Gablingen: Welche Rolle spielt die Anstaltsleiterin?
Ganz offensichtlich haben sich die Machtverhältnisse in der JVA Gablingen seit Dienstbeginn der neuen stellvertretenden Leiterin Anfang 2023 erheblich verschoben. Ob und welche Kenntnis die langjährige Gefängnis-Chefin Zoraida Maldonado de Landauer von den mutmaßlichen Vorfällen hatte, ist bislang offen. Gegen die Anstaltsleiterin, die bereits das Gablinger Vorgänger-Gefängnis in der Augsburger Karmelitengasse leitete, wird derzeit nicht ermittelt. Dafür gibt es andere Vorwürfe gegen sie. Nach Darstellung mehrerer Insider war Maldonado de Landauer zuletzt nur noch ganz wenig in der JVA präsent.
Das Justizministerium hat dies am Dienstag gegenüber unserer Redaktion indirekt bestätigt. Nach der geltenden Dienstvereinbarung seien zwei Tage mobiles Arbeiten pro Woche für Juristen in JVAen zulässig, darüber hinaus sei eine dienstliche Genehmigung erforderlich. „Diese wurde seitens der Leiterin der JVA Augsburg-Gablingen nicht beantragt“, teilte eine Sprecherin des Ministeriums mit. In einer dienstlichen Stellungnahme habe die Leiterin allerdings mitgeteilt, dass sie mehr als zwei Tage pro Woche mobil gearbeitet habe und als Begründung die Folgen einer schweren Fußverletzung angeführt. „Die Stellungnahme wird derzeit überprüft“, so das Ministerium. Aufgrund der aktuellen Situation in der JVA nehme die Anstaltsleiterin bis auf Weiteres kein mobiles Arbeiten in Anspruch.
Wegen der gravierenden Vorwürfe gegen die JVA Gablingen hat Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) kurzfristig für Donnerstag eine Pressekonferenz einberufen. Das Justizministerium hatte seit Oktober 2023 Kenntnis von möglichen Missständen, hatte nach eigenen Angaben die Sache sehr ernst genommen und an die Staatsanwaltschaft Augsburg weitergeleitet. Disziplinarrechtlich geschah offenbar nichts. Mit einer Verfügung vom August dieses Jahres sah die Staatsanwaltschaft Augsburg „mangels zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für Straftaten“ von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab.
Anmerkung: Alle weiteren Texte zum Fall finden Sie hier.